Salzburger Festspiele (II): Offenbach-Ehrung, Verdi-Flop
Von Peter Hagmann
Ungewohnt nimmt sich das Bühnenportal im Salzburger Haus für Mozart aus; mit seiner altsilbernen Einkleidung erinnert es an einen Berliner Operettentempel – und das zu Recht. Denn tatsächlich bringen die Salzburger Festspiele diesen Sommer zum ersten Mal seit fast zwanzig Jahren wieder eine Operette heraus. Mit «Orphée aux enfers» von 1858 erinnern sie an den 200. Geburtstag von Jacques Offenbach, und zugleich fügen sie mit diesem frechen, schwungvollen Zweiakter, der den Beginn der Operette als Gattung markiert, den drei schwergewichtigen Opern mythologischer Ausrichtung das Gewürz des Satyrspiels bei. Nicht zu wenig wird da beigemischt, denn für die Inszenierung zeichnet Barrie Kosky verantwortlich, der Chefregisseur der Komischen Oper Berlin, der sich in dem Genre wie kein Zweiter auskennt, der seine inszenatorische Handschrift zu einer Virtuosität sondergleichen entwickelt hat und ausserdem keinerlei Berührungsängste kennt.
«Orphée aux enfers» stellt so ziemlich alles auf den Kopf, was das ehrwürdige Gut der Mythologie überliefert. Eurydike ist keineswegs von vibrierender Liebe erfüllt, sie hat sich vielmehr längst abgewandt von Orpheus, den sie für einen mittelmässigen Geiger und einen Winkelkomponisten hält; lieber vergnügt sie sich mit dem Hirten Aristäos, der in Wirklichkeit Pluto ist und als solcher über das Totenreich herrscht. Orpheus wiederum hält sich schadlos, indem er der treulosen Gattin eine Schlange ins Bett legt, von der sie während des Schäferstündchens mit dem totengöttlichen Hirten erwartungsgemäss gebissen wird – was auch Pluto passt, kann er doch seine Angebetete sogleich ins Totenreich entführen. Dort menschelt es ebenso gewaltig wie auf dem Olymp, was die mythologischen Erzählungen oft genug andeuten, was in der Operette Offenbachs jedoch erheiternd bissig zugespitzt und auf der Salzburger Bühne mit scharfem Witz vorgeführt wird.
Das Problem dabei waren die Dialoge. Wie es sich für die Salzburger Festspiele gehört, sind mit von der Partie nicht nur die Wiener Philharmoniker, die sich unter der Leitung von Enrique Mazzola in den für sie nicht eben alltäglichen Gefilden mit spritzigem Ansatz bewähren, sondern auch ein hochkarätiges Ensemble an Sängerinnen und Sängern, die sich ihrer unterschiedlichen Herkunft wegen für die Dialoge aber nicht einsetzen liessen. Damit sie ihren Witz entfalten können, so Barrie Kosky, müssen die Dialoge in der Landessprache gehalten sein, während die Couplets in der französischen Originalsprache verbleiben können. Gelöst hat das Problem der Berliner Schauspieler Max Hopp, der, von der Kostümbildnerin Victoria Behr in den glänzend blauen Frack eines Zirkusdirektors gekleidet, den ganzen Abend lang auf der Bühne das Geschehen begleitet. Wenn gesprochen wird, spricht er und nur er. Alle Partien übernimmt er also, die Darstellerinnen und Darsteller bewegen bloss ihre Lippen. Und dazu produziert der Sprecher, der auch singen darf (und es kann…), noch alle anfallenden Geräusche sowie einige mehr. Hochvirtuos ist das. Und hochamüsant.
Bisweilen wird es etwas zu amüsant. Dann zum Beispiel, wenn die Witze nicht nur dick auftragen, sondern auch wiederholt werden. Offenbach war ein zutiefst unanständiger Kerl, der gerade was die gesellschaftlichen Hierarchien betrifft, vor nichts zurückgeschreckt ist. Seine Waffe ist allerdings die scharfe Klinge der Ironie, nicht der Holzhammer, zu dem Barrie Kosky bisweilen greift. Dennoch herrscht an diesem Abend durchgehend gute Laune. Dank der herrlich verzopften Öffentlichen Meinung von Anne Sofie von Otter, dank Kathryn Lewek (Eurydike) und Joel Prieto (Orpheus), dank Marcel Beekman als Pluto, Martin Winkler als Jupiter und Frances Pappas als Juno. Wenn sich die flexible Bühne von Rudolf Didwiszus weitet und die von dem Choreographen Otto Pichler sehr traditionell, aber mitreissend rasant geführten Tänzerinnen und Tänzer in den berühmten Can-Can einfallen, springen die Zapfen wie von selbst von den Champagnerflaschen.
Es ist exakt dieses Prickeln, das der fünften und letzten Opernpremiere der Salzburger Festspiele 2019 fehlt. «Simon Boccanegra», vielleicht das beste Stück Giuseppe Verdis, erscheint im Grossen Festspielhaus als pflichtschuldig mitprogrammierte B-Produktion. Am Pult der Wiener Philharmoniker: Valery Gergiev, ein guter Dirigent, aber ein zweifelhafter Interpret, der die herrliche Musik Verdis mit den Wiener Philharmonikern schwerblütig, zähflüssig, rhythmisch unsorgfältig und nicht selten zu laut erklingen lässt. Und als Regisseur am Werk: Andreas Kriegenburg, dessen Arbeit ordentlich gelungen, aber nicht mehr geworden ist – jedenfalls nicht das, wodurch sich Festspiele wie jene in Salzburg vom saisonalen Normalbetrieb abheben möchten. Für das heisse Drama Verdis, das war Kriegenburgs Intention, hat Harald B. Thor ein puristisches Bühnenbild in strengen Formen gebaut, das mit seinen lichten Farben und dem durch eine Art Fensterluken durchscheinenden Meer den Spielort Genua leicht assoziieren lässt. Und auch hier ist das Stück, das zeigen die Kostüme von Tanja Hofmann, klar in der Gegenwart verortet. Nicht zu Unrecht übrigens, man muss nur die Zeitung lesen.
Die Geschichte selbst entfaltet jedoch keineswegs die Spannung, die sie erzeugen könnte. Die Ursache dafür liegt vor allem in der mangelhaften Ausgestaltung der Figuren. Als Gabriele Adorno bringt Charles Castronovo einen leuchtkräftigen, wenn auch mit etwas gar viel Schluchzern versüssten Tenor ein, nur steht er so händeringend am Bühnenrand, wie es Sänger italienischer Tradition nun einmal mögen – dem Regisseur ist dagegen kein Mittel eingefallen. Merkwürdig auch die Körperlosigkeit der Inszenierung; wenn sich Simon Boccanegra (Luca Salsi mit einem eher hell timbrierten Bariton) und Amelia Grimaldi (die fabelhafte Marina Rebekka) als Vater und Tochter erkennen, kommt es szenisch zu nicht mehr als einem Handkuss. Vollkommen rollendeckend dafür René Pape in der Partie des Finsterlings Fiesco; welch bedrohliche Schwärze kann in diesem grossartig fundierten Bass anklingen, wie weit gespannt ist das Potential der stimmlichen Ausdifferenzierung. So enttäuschend die Produktion als Ganzes wirkt – in ihren vokalen Höhepunkten erreicht dieser «Simon Boccanegra» das Niveau, das bei den Salzburger Festspielen seine eigene Tradition hat.