International ist seine Reputation – als Oboist, als Komponist, als Dirigent. Kurz: als Musiker. An der Schweiz schätzt der in Langenthal geborene Heinz Holliger das Widersprüchliche. Heute feiert er seinen 80. Geburtstag. Ein Porträt.
Von Peter Hagmann
Er spricht jenes weich fliessende Berndeutsch, das die Herzen öffnet. Auch wenn er sich des Hochdeutschen bedient, schimmert der Dialekt durch. Heinz Holliger ist Schweizer, ganz einfach.
Allerdings nicht einer aus dem Holz jener Partei, die das Schweizerische allein zu verkörpern glaubt. Der Musiker – und wer wäre mehr Musiker als der Oboist, Pianist, Komponist und Dirigent Heinz Holliger – ist ein Liebender, vielleicht sogar einer, der «Heimat» zu sagen wagt. In Verdacht gerät er darob nicht. Denn Holliger steht freimütig dazu, an der Schweiz gerade nicht die trutzige Burg zu schätzen, sondern vielmehr das Widersprüchliche, auch das Verrückte. Auf die Frage, was für ihn «schweizerisch» sei, antwortete er Ende 2008 der «Neuen Zürcher Zeitung» mit einer Reihe unbequemer Gegenfragen. Zum Beispiel mit der, ob es schweizerisch sei, dass Paul Klee, als Sohn einer Schweizerin geboren und aufgewachsen in Bern, den Schweizer Pass erst zwei Tage nach seinem Tod Mitte 1940 erhalten hat. Heinz Holliger bringt es gern auf den Punkt. Vielleicht ist er gerade darum in seinem Land auch ein wenig fremd geblieben.
In seiner Weise erzählt davon ein reizendes Buch der Musikwissenschaftlerin Brigitte Bachmann-Geiser, das 2009 zum siebzigsten Geburtstag des Künstlers erschienen ist. Es erinnert an die gemeinsam verbrachte Jugendzeit in Langenthal, wo Heinz Holliger am 21. Mai 1939 als viertes von vier Kindern in einen gutbürgerlichen Arzt-Haushalt geboren wurde. Seine Kindheit sei sehr normal gewesen, schrieb Holliger der Autorin. Ein erheiterndes Understatement, denn ein Sohn, der als Vierjähriger Blockflöte spielen will, der sich als Zehnjähriger brennend für die Oboe interessiert und auf diesem Instrument wie auf dem Klavier sogleich sagenhafte Fortschritte macht, der als Vierzehnjähriger eine Fantasie für Oboe und Klavier komponiert, der als Sechzehnjähriger sowohl das Gymnasium in Burgdorf als auch das Konservatorium in Bern besucht und 1958 neben der Maturität das Lehrdiplom für Oboe erwirbt – das ist alles andere als alltäglich. Es steht für eine Jugend als Hochbegabter. Hochbegabt ist Heinz Holliger, und das auf den verschiedensten Lebensebenen.
Indes, auch Hochbegabte müssen lernen. Holliger tat es bei Emile Cassagnaud (Oboe), Sava Savoff (Klavier) und Sándor Veress (Komposition) – keine schlechten Adressen. Nach den Abschlüssen im Gymnasium und am Konservatorium ging er nach Paris, wo er sich bei Pierre Pierlot an der Oboe und bei Yvonne Lefébure am Klavier weiterbildete; etwas später kam Pierre Boulez dazu, von dem er sich in Komposition unterweisen liess. Im Alter von zwanzig Jahren gewann er den Genfer Wettbewerb, zwei Jahre später den ARD-Wettbewerb in München – und dann standen ihm die Tore offen für eine, und das ist wörtlich zu nehmen, Weltkarriere als Oboist. Nun ist freilich die Oboe nicht das prädestinierte Instrument für eine Laufbahn als Solist, zu klein ist die Auswahl an attraktiven Werken. Deshalb hat Holliger zunächst eine Position als Solo-Oboist bei der Basler Orchester-Gesellschaft angenommen. Das war wichtiger, als es den Anschein hat. Zum einen hat er in den vier Jahren ab 1959 das Orchester von innen kennengelernt. Und zum anderen begegnete er dort dem begüterten Basler Mäzen und Dirigenten Paul Sacher, der als Anreger zahlreicher Auftragskompositionen die Musikgeschichte des 20. Jahrhunderts entscheidend geprägt hat.
Als Mentor und Freund steht Sacher an einer wichtigen Stelle in Holligers Biographie. Nicht etwa, weil es Holliger auf der Oboe langweilig geworden wäre – im Gegenteil: Mit jener Leidenschaft, die ihm eigen ist, pflegt er den Umgang mit dem Instrument bis heute, davon zeugt eine demnächst beim Label ECM erscheinende CD, auf der sich Holliger mit seinem ihm in vieler Hinsicht nahestehenden Kollegen György Kurtág trifft. Holligers Ton zeichnete sich schon immer durch eine geradezu fleischige Kraft aus, sein Atem ist von unerhörter Weite, seine Geläufigkeit sucht ihresgleichen. Doch die Spielwiese, auf der er sich tummelt, ist beengt. Mit aller Entschiedenheit suchte er sie zu erweitern; er begann in Archiven zu stöbern und stiess in den siebziger Jahren auf den Böhmen Jan Dismas Zelenka, einen Zeitgenossen Johann Sebastian Bachs, an dem sich seine Spiellust entzündete. In der Folge kam es zu einer eigentlichen Zelenka-Renaissance; sie war im Wesentlichen Holligers Verdienst.
Doch auch am anderen Ende des Repertoires, beim ganz Neuen, sorgte er für Anregung – Sacher, mit dem Holliger schon als Student in Kontakt getreten war, stand ihm da tatkräftig zur Seite. Zahlreiche Stücke, manche horribel schwer, sind für den Oboisten mit den einzigartigen Fähigkeiten geschrieben worden, viele von ihnen im Auftrag Sachers. Am berühmtesten geworden ist wohl das Doppelkonzert für Oboe, Harfe, Streicher und zwei Schlagzeuger von Witold Lutosławski, das 1980 abgeschlossen und von Holliger zusammen mit seiner Gattin, der Harfenistin Ursula Holliger, sowie dem Collegium Musicum Zürich unter der Leitung Sachers in Luzern erstmals vorgestellt worden ist. Viele grosse Komponisten des 20. Jahrhunderts, unter ihnen Luciano Berio, Elliott Carter, Hans Werner Henze, György Ligeti, Krzysztof Penderecki oder Karlheinz Stockhausen, schufen Werke für Holliger.
Auch er selbst schrieb für sein Instrument. «Cardiophonie» etwa, ein Werk von 1971 für Oboe solo. Für mich eines der ersten Stücke, in denen ich den Komponisten als Interpreten seiner selbst kennengelernt habe. Das Stück hat mich regelrecht erschreckt. Es geht da um den Oboisten und seinen Herzschlag, um Atem und Atemnot, schliesslich den Kollaps. Vom Körper des Instrumentalisten abgenommen und über Lautsprecher in den Raum projiziert, ist der Puls des Musikers deutlich hörbar. In der Erregung des Spiels wird er immer schneller, und in gleichem Mass schneller wird das an die Pulsfrequenz gekoppelte Tempo des Stücks. Immer kürzer werden die Pausen zum Atemholen, immer schriller die Klänge – bis hin zur Implosion. Holliger begegnet dem Stück heute distanziert. Eine Art musikalisches Körpertheater im Geiste Antonin Artauds sei es und ein wenig brutal. So ist er nun einmal: radikal in seinen Ideen, schonungslos in der Konsequenz ihrer Ausführung, erfindungsreich im Einbeziehen des Geräuschhaften. Tatsächlich hat er durch sein Komponieren wie durch sein Spielen das Klangspektrum der Oboe erheblich erweitert; er brachte die Zirkuläratmung und damit das potentiell unendliche Halten des Tons ohne Atempause ein, aber auch die Multiphonics, das gleichzeitige Erzeugen mehrerer Töne auf der im Prinzip einstimmigen Oboe. Mit solchen Mitteln können Grenzen der Existenz zum Ausdruck gebracht werden.
Holliger hat aber auch ganz andere Seiten, wie seine 1998 in Zürich uraufgeführte Oper «Schneewittchen» hören lässt. Eine Schönheit eigener Art lebt in diesem Stück avancierten Musiktheaters. Es ist die gläserne Schönheit des Sargs, in dem das junge Mädchen liegt; erzeugt wird sie von der Glasharmonika, der Celesta, der Harfe, den Glöckchen und Klangstäben in der reich besetzten Schlagzeuggruppe. Und eine Ruhe sondergleichen herrscht in diesem wunderbaren Werk, doch unter der Oberfläche brodelt es. Fragen werden gestellt, die Antworten bleiben mehrdeutig – so wie es in dem auf der Oper basierenden Dramolett von Robert Walser angelegt ist. Grimms Märchen wird dort nicht erzählt, es wird in einer Rückblende phantasievoll gedreht und gewendet. Wie es nach dem Tod Schneewittchens weitergegangen sein könnte, darüber spekuliert Walser. In Heinz Holliger hat er einen Seelenverwandten gefunden.
Womit wir im Zentrum von Holligers Schaffen als Komponist angelangt wären. Es wird geprägt durch eine Reihe von Leitfiguren, an deren Existenz sich Holligers Kreativität jeweils in unerhörter Intensität entzündet hat. Aussenseiter sind sie alle, Sonderlinge, Randständige – aber Hochbegabte. Nicht nur Robert Walser gehört zu ihnen, auch der Romantiker Nikolaus Lenau, dem Holligers jüngste Oper «Lunea» gilt, hat den Komponisten als Figur gepackt. Früher waren es der Westschweizer Maler und Musiker Louis Soutter, dessen Schicksal sich im wild aufwirbelnden Violinkonzert aus den neunziger Jahren spiegelt, oder Friedrich Hölderlin in seinem Tübinger Turm, auf den der abendfüllende «Scardanelli-Zyklus» mit seiner verdichteten Atmosphäre und seinen überraschenden Klangeffekten zurückgeht. Häufig hat sich Holliger die Texte selbst zusammengestellt; ein geradezu fanatischer Leser, verfügt er auch über eine hohe Sensibilität der Sprache gegenüber.
So fremd sie beim ersten Hören erscheinen mag, erreicht die Musik Holligers doch eine spezifische, bisweilen sehr direkte Fasslichkeit – besonders wenn der Komponist als Interpret involviert ist. Am Dirigentenpult beispielsweise. Tatsächlich ist Heinz Holliger in den siebziger Jahren auch zum Dirigenten geworden, erst auf Einladung Paul Sachers beim Basler Kammerorchester, später als Gastdirigent bei allen Schweizer Orchestern wie bei zahlreichen Klangkörpern im Ausland. Holligers erste Auftritte als Dirigent lösten schockartige Reaktionen aus; seine unkonventionelle, heftig auffahrende Zeichengebung war für die Zuhörer ebenso gewöhnungsbedürftig wie für die Orchestermitglieder. Inzwischen ist Holligers Handwerk so weit gewachsen, dass seine Kompetenz als ein hochmusikalischer, eigenwilliger Interpret auch auf dem Dirigentenpodium voll heraustritt. Ob er Bernd Alois Zimmermann dirigiert oder Robert Schumann – beides tat er mit dem WDR-Sinfonieorchester Köln –, der gespannte Duktus und die klangliche Wärme sind als Zeichen der persönlichen Handschrift stets erkennbar. Das gilt auch für die Gesamtaufnahme der Sinfonien Franz Schuberts, die er derzeit für Sony mit dem Kammerorchester Basel erarbeitet.
Als Oboist, als Komponist, als Dirigent verfügt Heinz Holliger heute über eine Internationalität der Reputation, wie sie kein anderer Schweizer Musiker unserer Tage für sich in Anspruch nehmen kann. Im Kern seines Daseins ist er jedoch dem Land seiner Herkunft verbunden geblieben (worauf man vielleicht auch einmal etwas stolz sein könnte). Nicht zuletzt zeugt davon seine «Alb-Cher, eine Geischter- und Älpermüsig», die er 1991 – in jenem Jahr, da ihm mit dem Siemens-Musikpreis eine der höchsten Auszeichnungen aus dem Bereich der Ernsten Musik zugesprochen wurde – im Auftrag von Brigitte Bachmann-Geiser zur Eröffnung des Schweizerischen Zentrums für Volkskultur im Kornhaus Burgdorf geschrieben hat. Entstanden für das Ensemble der Oberwalliser Spillit, wird hier eine spannende Sage um eine verlorene Kuh erzählt – in Walliserdeutsch. Und in eine Musik gesetzt, die nicht Volksmusik noch Kunstmusik ist. Sondern beides. Nämlich Musik von Heinz Holliger.
Viele Werke Heinz Holligers, unter anderem der «Scardanelli-Zyklus», die Oper «Schneewittchen», der «Alb-Cher» und die «Zwiegespräche» zwischen Holliger und György Kurtág sind auf ECM greifbar.
Erschienen in der «Republik» vom 21.05.19.