Tschaikowskys «Pique Dame» bei den Salzburger Festspielen
Von Peter Hagmann
Keine Frage: Es ist der Abend des Dirigenten. Mariss Jansons nähert sich «Pique Dame» mit derart glühendem Herzen und derart profunder Einsicht, dass die Begegnung mit der Oper Peter Tschaikowskys, welche die Salzburger Festspiele als dritte Premiere dieses Sommers zeigen, allein schon musikalisch tiefe Regungen auslöst. Nichts wird da unterstrichen, nichts wird überzeichnet, eines scheint ganz natürlich aus dem anderen hervorzugehen und sich in einem kontinuierlichen Strom zu erfüllen. Einem Klangstrom von wohlgrundierter Wärme und feinfühlig abschattierter Farbigkeit, von spürbarer Kraft, aber auch hochprofessioneller Zurückhaltung dort, wo es angebracht ist. Jansons gehört zu den wenigen Dirigenten, mit denen die Wiener Philharmoniker auf der Höhe ihres Könnens und ihres Vermögens zusammenarbeiten; was für ein wunderbares Orchester sie bilden, wenn sie wirklich wollen, in dieser Produktion ist es zu hören.
Vor dem anderen Protagonisten des Abends konnten sich Besucher dieser Festspielpremiere vielleicht gefürchtet haben. Wieder eine dieser Aufregungen wie 2001, im letzten Salzburger Sommer mit dem streitbaren Gerard Mortier, als «Die Fledermaus» dermassen derb gegen den Strich lief, dass es zu einem handfesten Skandal und am Ende gar einer Verhandlung vor Gericht kam? Wieder einer dieser Abende, an denen vor lauter Grübeln über die Rätsel auf der Bühne das ganzheitliche Erlebnis auf der Strecke bleibt? Nichts von all dem ist hier der Fall. Hans Neuenfels, inzwischen 77 Jahre alt, zeigt in dieser Produktion, dass er keineswegs der Skandalist vom Dienst ist, sondern ganz einfach ein grosser Theatermann – einer, der sein Handwerk wie nur wenige beherrscht. Altersmilde? Mag sein; wäre es verwerflich? Eine Enttäuschung? Das wäre allerdings völlig verfehlt. Neuenfels, so liess er in seinen Auslassungen vor der Premiere erkennen, hat bloss massiv Feuer gefangen. Und hat sich berühren lassen von der Geschichte, die «Pique Dame» erzählt.
Es ist die Geschichte von der Unbedingtheit einer Liebe – eines Begehrens, um im Motto der Salzburger Festspiele 2018 zu bleiben. Erfunden hat sie Alexander Puschkin, in ein Libretto geformt hat sie Modest Tschaikowsky, der Bruder des Komponisten, auf die Opernbühne gebracht hat sie Peter Tschaikowsky, der zur Zeit der Komposition, er hielt sich damals in Florenz auf, eine letzte glückliche Phase seines Lebens durchschritten hat. Hermann erlebt einen coup de foudre, aber Lisa, die Angebetete, die keineswegs gleichgültig reagiert, ist bereits einem anderen versprochen – einem, der passt: Der Fürst stammt nicht nur aus der richtigen Schicht, er ist auch in jeder Hinsicht wohlbestallt. Für Hermann bleibt Lisa unerreichbar – es sei denn, er verfügte über jenes Kleingeld, das ihm erlaubte, zusammen mit der Geliebten aus der Gesellschaft auszubrechen und zu fliehen. Geld gleich Freiheit… Wie es in der Oper nun einmal kommen muss (und im Leben wohl auch käme), misslingt der Plan und endet die Liebe im Tod.
Gleich, wie es Jansons mit den Wienern tut, legt Neuenfels zusammen mit einem exzellent besetzten Ensemble diese Geschichte in vibrierender Emotionalität aus. So scharf lodern da die Gefühle auf, dass sie nur zum Schlimmsten führen können. Hermann, den der Kostümbildner Reinhard von der Thannen in der weitgehend auf Schwarztönen basierenden Ausstattung mit einem knallroten Anzug versieht – Hermann ist ein Aussenseiter. Nicht zu helfen weiss er sich in seinem brennenden Verlangen nach Lisa, mit seinem strahlkräftigen Tenor und seiner sportlichen Erscheinung bringt das Brandon Jovanovich blendend über die Rampe. Wie Hermann der Gräfin – Hanna Schwarz, 74 Jahre alt, das darf man sagen, und grandios bei Stimme –, wie Hermann der Gräfin das Geheimnis der drei Karten zu entreissen sucht, stellt er sich nicht besonders geschickt, aber auch nicht ungeschickt an. Die Gräfin stirbt nicht an der entscheidenden Frage, sie gerät schon vorher ins Delirieren: in dem Augenblick, da in dem hochweissen Zimmer mit dem Spitalbett der junge Mann im roten Anzug hinter dem Paravent hervortritt.
Mit derselben Unbedingtheit, wie sie Hermann kennt, entscheidet sich Lisa, aus der Gesellschaft, der sie als Adlige angehört, auszutreten und sich auf den Weg ins Ungewisse zu machen. Zuvor hatte sie noch artig mit ihrer Freundin das Terz- und Sextparallelen schwelgende Duett des Anfangs gesungen – das an diesem Abend regelrechten Schwindel auslöst, denn Oksana Volkova (Polina), welche die untere Stimme versieht, bringt einen ausserordentlich kernigen Mezzosopran ein. Noch donnernder klingt nur Margarita Nekrasova als die Gouvernante, die das ausgelassene Treiben der Freundinnen um Lisa entschieden zu Ende bringt. Als Lisa kann Evgenia Muraveva auf einen hellen Sopran setzen, der aber fest in sich ruht. Ihren Bräutigam, dem edlen Fürsten Jelezki (und dem äusserst edel singenden Bariton Igor Golovatenko) kehrt sie rasch den Rücken. Wenn sie aber wissen will, wie es wirklich steht zwischen ihr und Hermann, in dieser bedrückenden Szene um Mitternacht, leitet sie eine mächtige Expansion ein. Hingabe wie Verzweiflung erscheinen da, auch szenisch, klar als existentiell. Nur logisch, dass sie nach dem schlechten Ausgang der Begegnung mit Hermann ihrem Leben ein Ende setzt.
Eingebettet ist das Geschehen von «Pique Dame» in eine Reihe prächtigster Massenszenen, die meist zu pittoresken Einlagen werden. Neuenfels wäre nicht Neuenfels, nähme er diese Massenszenen – die er übrigens mit unglaublich effektsicherer Hand choreographiert hat – nicht zum Anlass, das gesellschaftliche Umfeld zu beleuchten, in dem die Liebe zwischen Lisa und Hermann scheitern muss. Die Kinder, die zu Beginn, eine Reminiszenz an Bizets «Carmen», eine militärische Parade spielen, tun das im Zeichen der Einpassung ins System. Sie werden in kleinen Käfigen herangeführt und bleiben nach dem Öffnen von deren Gittertüren an den Kandaren der Kinderfrauen, unter denen die Ammen mit riesigen Brüsten und roten Nippeln herausragen (vorbereitet von Ernst Raffelsberger lässt die Konzertvereinigung Wiener Staatsopernchor in diesen Szenen ihre ganz Strahlkraft hören). Auch sonst ist in dem prachtvollen, von Christian Schmidt gestalteten Bühnenraum, in dem anthrazitfarbene Kacheln eine düstere Atmosphäre schaffen, das gesellschaftliche System präsent – auch dort, wo in einem gewaltigen Tableau die Zarin höchstselbst auftritt: in Form einer schwer abgemagerten Monstranz, die wie eine Marionette an Fäden bewegt wird.
Ein einziges Mal gerät das gesellschaftliche Spiel ins Wanken. Es geschieht in der finalen Spielszene, wo die Umgebung um den Protaginsten, alles Herren in bodenlangen, schweren Pelzmänteln, angesichts von Hermanns Gewinnen die Fassung verlieren. Bekanntlich hat sich der Held getäuscht. In der dritten Runde hat er die falsche Karte in der Hand und verliert alles. In diesem Augenblick drückt er auf seiner Pistole wirklich ab. Ein weiteres Salzburger Highlight. Und Jubel sondergleichen.