Ein Abend mit Jean-Guihen Queyras und Alexandre Tharaud in La Chaux-de-Fonds
Von Peter Hagmann
«Quelle salle, mais quelle salle», rief der Cellist Jean-Guihen Queyras seinen Zuhörern zu, bevor er ihnen eine erste Zugabe ankündigte. Dem kann man sich vorbehaltlos anschliessen: Die Salle de musique von La Chaux-de-Fonds gehört zu den besten Konzertorten dieses Landes und weit darüber hinaus – zumal jetzt auch das im Haus gelegene Restaurant wieder offen ist und niemand mit knurrendem Magen auffallen muss. Schon das Entrée, Moderne im Geist der 1950er Jahre, erregt Aufmerksamkeit und erzeugt Wohlgefallen. Wer in den ersten Stock gelangt, wird ins Foyer eingeladen – das nun allerdings nicht Teil des Musiksaals bildet, sondern zu dem gleich daneben gelegenen Theater von 1837 gehört, das ebenso renoviert und im Originalzustand erhalten ist wie die Salle de musique. Dieser Konzertsaal – mit seinen 1200 Plätzen etwas kleiner als der Musiksaal im Basler Stadtcasino und der Grosse Saal in der Tonhalle Zürich, für eine Stadt wie La Chaux-de-Fonds mit ihren knapp 40’000 Einwohnern aber sehr gross – ist ganz in einem dunklen, nirgends vernagelten, nur geleimten Holz gehalten und bietet eine Akustik, die in ihrer Weite und gleichzeitig ihrer Präsenz tatsächlich ihresgleichen sucht.
Kein Wunder, trafen sich in La Chaux-de-Fonds die Besten der Besten. Sie taten es in den Konzerten der Société de musique, die 1893 gegründet wurde, in diesem Jahr also auf 125 Jahre des Bestehens zurückblicken kann und das mit einer kleinen, edlen Festschrift getan hat. Camille Saint-Saëns, Eugène Ysaïe, Pablo Casals, Fritz Kreisler, Ferruccio Busoni, Artur Rubinstein, Wilhelm Backhaus, Dinu Lipatti, Elisabeth Schwarzkopf waren unter jenen, die schon vor der Eröffnung der Salle de musique 1955 nach La Chaux-de-Fonds gekommen sind. Ihnen schlossen sich Mstislav Rostropowitsch, Arturo Benedetti Michelangeli, Yvonne Loriod und Olivier Messiaen, später Radu Lupu, Emmanuel Pahud, die Gebrüder Capuçon oder Grigory Sokolov an. Nicht zu vergessen, dass die Salle de musique Ort legendärer Schallplattenaufnahmen war. Claudio Abbado hat an diesem Ort mit Viktoria Mullova zusammengearbeitet, der Pianist Andreas Haefliger hat viele seiner Beethoven-Aufnahmen hier gemacht. Und wenn sich die sogenannten Majors inzwischen aus dem Markt verabschiedet haben, sind es heute die kleineren Labels, die trotz angeblicher Krise des CD-Marktes munter Einspielungen erstellen und dafür nach wie vor gern die Salle de musique in der jurassische Uhrenmetropole aufsuchen.
Jetzt war die Reihe an dem jungen französischen Cellisten Jean-Guihen Queyras und seinem Landsmann Alexandre Tharaud am Klavier. Sie spielten die beiden Sonaten für Klavier und Violoncello von Johannes Brahms – und fingen einigermassen schwach an mit Johann Sebastian Bachs Gambensonate in D-dur BWV 1028. Queyras artikulierte lebendig und vielgestaltig, aber Tharaud blieb ein Schatten seiner selbst. In der edlen Absicht, den Cellisten nicht zu bedrängen, verzog er sich in ein gehauchtes Pianissimo, was dazu führte, dass der Bass nicht zum Fundament werden konnte und das Konzertieren der Oberstimme unterbelichtet blieb – dass in dieser Sonate ein Trio mit Solostimme, Bass und rechter Hand entsteht, war nicht zu hören. Überdies offenbarte der Pianist einen Hang zum Nähmaschinen-Barock, der doch wohl endgültig überwunden ist. Wesentlich besser geriet die zweite Ergänzung mit den vier Stücken für Klarinette und Klavier (in der Version für Violoncello und Klavier) op. 5 von Alban Berg. Der lyrische Grundzug des ersten Stücks, der depressive Charakter des zweiten, die Webern-Nähe des vorbeihuschenden dritten und die explosive Expressivität des vierten mit seinem gewaltigen Schluss-Cluster – all das klang grossartig und in vollendeter Balance, dies bei ganz geöffnetem Flügel.
Auch bei Brahms blieb das Klavier merklich unterbelichtet, wenigstens bei der zweiten der beiden Sonaten, die Jean-Guihen Queyras und Alexandre Tharaud als erste präsentierten. Es widersprach dem von Brahms formulierten Titel, in dem die Sonaten als Werke für Klavier und Violoncello benannt werden; um Cellostücke mit Klavierbegleitung – das suggerierte leider auch der Programmzettel der Société de musique – handelt es sich hier gerade nicht, die beiden Partner sollen jederzeit auf Augenhöhe agieren. Indes wird das klangliche Ungleichgewicht auf die abendliche Performance zurückzuführen sein, denn bei der inzwischen von Erato/Warner publizierten CD-Aufnahme tritt das Problem nicht auf; und selbst wenn da der Tonmeister nachgeholfen hat, kann man davon ausgehen, dass die beiden Musiker das Resultat abgesegnet haben, mit dem Klangbild also einverstanden waren.
Wichtiger als das Problem der Balance – das sich später bei der Wiedergabe der ersten Sonate deutlich relativiert hat – erscheint indessen der Umstand, dass sich in den Auftritten der beiden Musiker aus Frankreich jenes neue Brahms-Bild offenbart, das sich zunehmend verbreitet. Wer in Aufnahmen aus früheren Zeiten hineinhört, mit Grössen wie Jacqueline du Pré, Mstislav Rostropowitsch oder Mischa Maisky, wird sogleich feststellen, dass der fleischige, von heftigem (und durchgehendem) Vibrato getragene Brahms-Ton bei Jean-Guihen Queyras abgelöst ist durch eine Bogenführung ohne Druck, durch Vielfalt der Artikulation und effektvolle Differenzierung des Vibratos, während Tharaud das kontrapunktische Moment in seinem Part mit aller Sorgfalt, auch aller Lust herausstellt. Es herrscht hier jener eher helle, transparente Ton, den Brahms selbst geschätzt hat, wie ein lobender Satz des Komponisten an die Adresse des Dirigenten Felix Weingartner überliefert. Zu hören war es in La Chaux-de-Fonds, hart an der Schweizer Landesgrenze. Die Reise dorthin lohnt sich allemal.
Johannes Brahms: Sonaten für Klavier und Violoncello Nr. 1 in e-moll op. 38 und Nr. 2 in F-dur op. 99, Ungarische Tänze. Jean-Guihen Queyras (Violoncello) und Alexandre Tharaud (Klavier). Erato 019029573934 (1 CD, aufgenommen 2017).