Langes Warten – und dann dieser Höhepunkt

Daniil Trifonov am Weltklaviergipfel des Lucerne Festival

 

Von Peter Hagmann

 

Er ist auch nur ein Mensch, er mag auch einmal einen weniger guten Tag haben. Gehyped und gepushed wie kein Vertreter seiner Generation, ist der 26-jährige Russe Daniil Trifonov so gut wie allgegenwärtig. Das kann auch für Igor Levit gelten, nur tritt der Aspekt des Marketings bei dem um vier Jahre älteren Landsmann Trifonovs – beide Pianisten stammen übrigens aus derselben sibirischen Stadt Nischni Nowgorod – nicht so merklich in den Erscheinung. Als Igor Levit vor Jahresfrist beim Piano-Festival des Lucerne Festival die Goldberg-Variationen Johann Sebastian Bachs spielte, und er tat das auf einzigartiger Höhe (vgl. «Mittwochs um zwölf» vom 30.11.16), herrschte im voll besetzten KKL eine Stimmung konzentrierter Einkehr. Ganz anders diesen Herbst beim Auftritt Daniil Trifonovs. Das Haus so ausgebucht, die Publikumsbereiche rund um den Konzertsaal so belegt, die Atmosphäre so aufgekratzt wie selten. Schon nach den ersten Stücken gab es Bravo-Rufe, schon nach dem ersten Teil zeichnete sich Stehapplaus ab.

Allein, gemessen an der tatsächlich sagenhaften Begabung Trifonovs und seinem bisherigen Leistungsausweis war der Abend eine Enttäuschung. Wenig hatte er zu tun mit der schlechterdings sensationellen Mitwirkung Trifonovs an Ludwig van Beethovens Klavierkonzert Nr. 1 beim Tonhalle-Orchester Zürich und seinem Gastdirigenten Kent Nagano (vgl. «Mittwochs um zwölf» vom 11.01.17), und schon gar nicht liess sich die Darbietung vergleichen mit der Bewältigung der «Etudes d’exécution transcendante» von Franz Liszt, die der Pianist 2015 für die Deutsche Grammophon aufgenommen hat (vgl. «Mittwochs um zwölf» vom 22.02.17). Seltsam unfassbar wirkte Trifonov an diesem Freitagabend in Luzern, ein Windhauch, jedenfalls alles andere als geerdet und in sich verankert.

Mag sein, dass das auch, vielleicht sogar in erster Linie, am Programm lag. Der erste Teil des Abends bot im wesentlichen einen Auszug aus Trifonovs jüngster CD, die Werke von Chopin und solche über Chopin zusammenführt. Meist handelt es sich dabei um Miniaturen von wenigen Minuten Dauer – was keine Äusserlichkeit darstellt, für den Rezeptionsvorgang vielmehr von Belang ist. «Chopin» von Robert Schumann hat seinen Platz im Zyklus «Carnaval», aus dessen Kontext das Stück seine Wirkung gewinnt; daraus losgelöst, wie es Trifonov in Luzern darbot, steht es einsam da – und so romantisch verhaucht, wie es Trifonov spielt (das muss man freilich erst einmal können), erscheint es als eine Petitesse, die es in Wirklichkeit nicht ist. Effektiv als Petitessen erkennbar waren dagegen «Hommage à Chopin» aus den «Stimmungen» von Edward Grieg, ein kitschiges Nocturne des Amerikaners Samuel Barber und «Un poco di Chopin» von Peter Tschaikowsky.

Eingerahmt wurden die Kleinigkeiten von zwei Zyklen mit Variationen über Themen von Frédéric Chopin. Der erste stammte aus der Feder des Katalanen Federico Mompou, den man bestenfalls noch dem Namen nach kennt. Das braucht sich nicht zu ändern, die zwölf Variationen über die Nummer sieben aus Chopins Préludes op. 28 sind eine nette Spielerei, mehr nicht. Ebenfalls ein Prélude aus dem Opus 28, nämlich die würdige harmonische Studie in c-moll der Nummer 20, nahm sich Sergej Rachmaninow vor – doch wie gern bei dem grossen russisch-amerikanischen Pianisten und Komponisten erzeugte die Folge der 22 kurzen Stücke wohlige Kaminfeueratmosphäre. Bei all dem wurden das unglaubliche Vermögen und das ernsthafte Bemühen des Interpreten spürbar; dennoch kam immer wieder der Eindruck auf, Trifonov, der dieses Programm in Abwandlungen landauf, landab spielt, bleibe im Grund aussen vor. Da droht Gefahr.

Das blieb so, als es zur Sache selbst ging, nämlich zur Klaviersonate in b-moll op. 35 von Chopin. Endlich wieder einmal dieses grandiose Stück – aber: welche Ernüchterung. Im Kopfsatz nahm das Agitato der Achtelbewegungen so wild nervöse Kontur an, dass der Reiz bald verflogen war, und als dann die Akkordwiederholungen einsetzten, verhinderte das rasante Tempo das Ausbrechen der Energie. Erst recht gilt das für das apokalyptische Finale, das als Wolkenfetzen vorüberzog, abgesehen von den deutlich herausgehobenen Stütztönen aber nur in Umrissen verständlich wurde. Wesentlich überzeugender gelangen die lyrischen Momente im Kopfsatz und die kantable Versenkung im Trio zum Scherzo des zweiten Satzes – und dort, in den leuchtenden Binnenstimmen, wurde deutlich, wie viel Transparenz dieser Pianist zu erzielen in der Lage ist.

Einsamer Höhepunkt dieses im Grunde wenig geglückten Rezitals war der Trauermarsch. Da schien Trifonov bei sich selbst, und er schuf in diesen etwas mehr als achtzig Takten eine kleine, aber ausserordentlich intensive Szene. Sehr langsam, sehr leise hob er an; die Quinten in der linken Hand versah er mit so viel Gewicht, dass die tiefe Resonanz heraustrat und das Schwarze des Moments betont wurde. Die von Chopin nicht ausgeschriebene, von der Komposition aber nahegelegte Steigerung erzeugte Trifonov vornehmlich durch die schreitende Wechselbewegung der linken Hand; trotz des unendlich gebremsten Tempos ergab sich so der Eindruck eines heranziehenden Trauerzugs. Der Innenteil in Des-dur geriet dann zur reinen Himmelsmusik: zeitlos, unendlich schön, ohne Grenzen traurig. Danach aber, wie der Trauermarsch wieder Raum greift, stellte sich eine durch Mark und Bein dringende Heftigkeit ein, die einen abrupt auf die Erde zurückholte. In der Partitur steht an dieser Stelle «piano», das von Trifonov gespielte Fortissimo sorgte nicht nur für einen beinah szenischen Schock, sondern formte auch die Dramaturgie des nun wieder abziehenden Trauerzugs, der sich schliesslich in einem ersterbenden Pianissimo verlor. Extravaganzen solcher Art haben sich die grossen Pianisten der Romantik erlaubt; werden sie so überzeugend aufgenommen, wie es Daniil Trifonov tut, kann niemand etwas dagegen haben.

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