Ein Fest der Kammermusik

Das Festival «Zwischentöne» in Engelberg

 

Von Peter Hagmann

 

Nach Engelberg kommt man vielleicht doch nicht jeden Tag. Da könnte man jedoch etwas verpassen – nicht nur des prachtvollen Klosters und seiner berühmten Orgel wegen. Das Dorf am Fuss des Titlis verfügt auch über einen wunderschönen Kursaal, ein Kleinod im Stil der Belle Epoque, das von seiner Dimension und seiner Akustik her für Kammermusik wie geschaffen ist. Zum ersten Mal fand nun das kleine, aber ausgesprochen feine Festival «Zwischentöne» in diesem Saal statt – in den sechs Jahren zuvor waren die Konzerte im Kloster durchgeführt worden. Die Infrastruktur lässt nichts zu wünschen übrig. Reibungslos der Eintritt mit der Zertifikatskontrolle, bequem die Garderobe und was dazugehört, der Saal so eingerichtet, dass man sich auch unter den gegebenen Umständen wohlfühlt – alles ebenso wenig selbstverständlich wie die Professionalität in der Durchführung der Auftritte.

Die Bedingungen stimmen, die Sache selbst allerdings auch, und dies in hohem Mass. Das Festival «Zwischentöne» geht auf eine Idee des Merel-Quartetts zurück, dessen Cellist Rafael Rosenfeld und dessen Primgeigerin Mary Ellen Woodside sich in die künstlerische Leitung teilen. Rosenfeld, bekannt als Stimmführer beim Tonhalle-Orchester Zürich, erweist sich als der interpretatorische Inspirator, seine Gattin leistet die dramaturgische Arbeit, gestaltet also die Programme. Sehr vielfältige, sehr anregende Programme – und solche in ganz unterschiedlichen Besetzungen, wie sie im regulären Konzertbetrieb nicht möglich sind, in spezialisierten Festivals wie zum Beispiel den «Spannungen» im RWE-Kraftwerk im deutschen Heimbach gelebt werden. Eine Linie in die Vielfalt bringt das Thema, unter dem das Programm steht. «Affairs of the Heart» hiess es dieses Jahr, also «Liebe», mit britischem Understatement ausgedrückt.

Genau darum geht es in der «Schönen Müllerin», dem Liederzyklus, den Franz Schubert auf Gedichte von Wilhelm Müller schuf. Im Vergleich zur «Winterreise» mag «Die schöne Müllerin» als harmlos erscheinen, und genau so wurde der Zyklus bis weit ins späte 20. Jahrhundert dargeboten. Ian Bostridge, der «Special Guest» der diesjährigen «Zwischentöne», vertritt hier eine ganz andere Auffassung. Der berühmte englische Tenor tut das nicht nur aus seiner reichen Erfahrung heraus, sondern auch auf der Basis einer speziellen Kompetenz, die er sich als Autor eines hochinteressanten, bisweilen durchaus verstörenden Buches über «Die Winterreise» geschaffen hat. Er sieht die Geschichte des wandernden Müllerburschen, der bei einem Müller Arbeit findet, sich in dessen Tochter verliebt, nach einem Höhenflug an Hoffnungen aber derart getäuscht wird, dass ihm nur der Sprung kühle Nass des an der Mühle vorbeirauschenden Bachs bleibt.

Schon zu Beginn wird die Munterkeit des steten Weiterziehens gebrochen, werden die vom Text angesprochenen Räder und das Wandern durch leichte Verzögerungen ins Licht gehoben. Und drastisch stellt Bostridge die schnippische Haltung der Müllerstochter gegenüber dem Morgengruss des Burschen und die damit verbundenen, tristen Vorahnungen heraus. Tief bewegend die Spannung zwischen der Hochstimmung von «Am Feierabend» und der Enttäuschung im «Tränenregen». Je weiter der Zyklus voranschreitet, desto spürbarer wird die dramatische Spannung. Wie dann der Jäger auftritt, ein Kerl von Mann mit struppigem Bart und ein nicht bezwingbarer Konkurrent, kippt das Geschehen brutal, wird das liebe Grün zum bösen Grün und wandelt sich der Ruf an die Blümlein, den Mai zu spüren und herauszukommen, zu schluchzender Verzweiflung. Erschütternd, wie Ian Bostridge das mit seinen meisterlich ausgebauten vokalen Mitteln zur Geltung brachte. Dies im Verein mit der Pianistin Saskia Giorgini, die einfühlsam auf den Sänger einging, kontrapunktisch mitdachte und die linke Hand auf dem schönen Bösendorfer aus der Werkstatt Bachmann, Wetzikon, sinnvoll zur Geltung brachte.

Nicht weniger spannend geriet im Schlusskonzert – nach einem Zwiegespräch zwischen Robert und Clara Schumann – das Streichquintett in C-Dur, KV 515, von Wolfgang Amadeus Mozart. Scharf ausgeprägt der Dialog zwischen Rafael Rosenfeld, dem in der Mitte sitzenden und nach allen Seiten funkelnden Cellisten, und Mary Ellen Woodside an der Ersten Geige. Edouard Mätzener blieb an der Zweiten Geige alles andere als im Hintergrund, er stiess vielmehr seinerseits Energieschübe an, ohne dass dadurch das wohlgeordnete Klangbild des Ensembles aus den Fugen geriet, und spielte vital zusammen mit Eivind Ringstad, der als Gast zum Merel-Quartett gekommen war. Zu einer Sternstunde kam freilich der Bratscher Alessandro D’Amico, der zunächst so unauffällig mitwirkte, wie es Bratscher bisweilen tun, der dann aber im Andante des dritten Satzes mit seinen witzig, geradezu frech vorgetragenen solistischen Einwürfen der Primgeigerin die Stirn zu bieten suchte. Mozart liebte ja die Bratsche leidenschaftlich hat diesen subversiven Satz ohne Zweifel für sich selber in dieser Weise eingerichtet. War das ein Vergnügen; es erwies, was Kammermusik im besten Fall sein kann.

Schaudern und staunen – mit Franz Schubert

Und mit dem Bariton Andrè Schuen, der «Die schöne Müllerin» ganz und gar aussergewöhnlich darbietet.

 

Von Peter Hagmann

 

Das erste Lied, munter berichtet es vom Wandern, das des Müllers Lust sei, lenkt den Blick in die falsche Richtung. Schon in der zweiten Nummer schleichen sich nämlich Zweifel ein. Was will der Bach, dem der junge Müllerbursch, das lyrische Ich, so unwillkürlich folgt? Offenbar hat das Gewässer etwas vor; es lenkt den Schritt des Wanderers hin zu einem zu einem schmucken Haus mit kreisendem Mühlrad, blanken Fenstern – und einer Tochter von heller Schönheit. Die jungen Leute kommen sich nahe; kurz nach der Hälfte es Zyklus, in der Gegend des Goldenen Schnitts, ruft der Wanderer aus der Höhe des siebten Himmels, sie sei sein. Ob sie ihm nur schöne Augen gemacht, ob er sich getäuscht hat? Tatsache ist, dass bald ein anderer in Erscheinung tritt: ein Mannsbild erster Güte, ein Jäger mit Schiessgewehr, Hund und Bart. Für unseren Wanderer folgt ein denkbar qualvoller Abstieg, der zum freiwilligen Abschied vom Leben führt. Der Bach nimmt den Ertrunkenen liebevoll auf.

Was Franz Schubert und sein Textdichter Wilhelm Müller in ihrem zwanzigteiligen Liederzyklus «Die schöne Müllerin» berichten, könnte schauerlicher nicht sein. Wer die Texte genau liest und sie wachen Geistes mit der Musik in Beziehung setzt, kann sich der tiefen Berührung, die von dem Zyklus ausgeht, nicht entziehen. Zumal dann nicht, wenn er so dargeboten wird, wie es Andrè Schuen und Daniel Heide auf ihrer bei der Deutschen Grammophon erschienenen Debüt-Aufnahme gelungen ist. Der Zyklus ist für Tenor geschrieben, Schuen bringt aber einen tiefen, dunkel gefärbten Bariton ins Spiel und setzt ihn in der um einen Ganzton nach unten transponierten Fassung in bezwingender Weise ein. Nirgends stellt der junge Sänger aus dem Südtirol seine Stimme aus – dabei könnte er allen Grund dazu haben, denn in den seltenen Momenten des Ausbruchs zeigt sich ein opulenter Stimmkörper, der von einer reichen Palette an Farben und Obertönen lebt. Weitaus häufiger aber erscheint Schuen als ein vokaler Kammermusiker, der murmelt, flüstert, Selbstgespräche führt und so an einem intimen inneren Vorgang teilnehmen lässt – dies alles auf der Basis einer bewundernswert ausgebauten Piano-Kultur.

Mit dem Pianisten Daniel Heide bildet er ein so gut wie vollkommenes Team. Grossartig, welches Profil Heide aus seinen Pianissimo-Klängen hervorzaubert, wie weich er die vollen Akkorde in «Des Baches Wiegenlied», der letzten Nummer im Zyklus, zu setzen versteht – und vor allem: in welch enger, ja inniger Verbundenheit mit dem Säger er agiert. Der wiederum nimmt vieles auf, was ihm der Pianist anbietet; in besagtem Wiegenlied setzen die Konsonanten ganz zarte Akzente in den musikalischen Fluss, während die Vokale geschmeidig ineinander verfliessen. Tatsächlich lebt in dieser Aufnahme der «Schönen Müllerin» auch Sprachkunst vom Feinsten, denn alles – die Tempi, die bisweilen unerhört weiten Phrasierungsbögen, der übrigens sehr dezente Einsatz des Vibratos –, all das ergibt sich hier aus dem Text, darum geht einem das Geschilderte so nah. Die Einkleidung des Geschehens ist von gestern, Mühlräder an Wasserläufen gibt es bestenfalls noch im Freilichtmuseum, klar im 19. Jahrhundert verankert ist auch die musikalische Sprache. Was der Zuhörer, die Zuhörerin hier und jetzt wahrnimmt, ist jedoch reinste Gegenwart.

Franz Schubert: Die schöne Müllerin. Andrè Schuen (Bariton), Daniel Heide (Klavier). Deutsche Grammophon 00289 483 9558 (CD, Aufnahme 2020, Publikation 2021).

«Paradise lost», ein Liederabend mit Anna Prohaska und Julius Drake

 

Von Peter Hagmann

 

Das Kulturleben ist stillgelegt, Oper und Konzert sind ausgesetzt – versteht sich: Die Öffentlichkeit, welche die Musik braucht wie wir die Luft zum Atmen, ist derzeit besonders gefährlich. Musikkritik muss daher ausfallen. Indes, stimmt das? Oder stimmt es vielleicht nur bedingt? In unseren multimedial durchzogenen Tagen kennt die Musik ja auch andere Formen des Daseins, mediale eben. Darum bleibt «Mittwochs um zwölf» fürs erste in Betrieb: mit Home Music, nämlich mit Hinweisen auf empfehlenswerte Neuerscheinungen oder Schätze aus dem Archiv.

 

Wie ein Komet stieg sie auf, begleitet von Granden wie Claudio Abbado, Pierre Boulez oder Nikolaus Harnoncourt. Heute gehört Anna Prohaska zu den hell leuchtenden Fixsternen – und mehr noch: In ausgeprägter Weise verkörpert die 1983 geborene Sopranistin jenes neue Selbstverständnis, das unsere Tage für die Kunst der musikalischen Interpretation hervorgebracht hat. Ihr Tätigkeitsfeld reicht von der alten über die klassisch-romantische hin zur neuen Musik. Begrenzungen des Interesses gibt es bei ihr ebenso wenig wie solche der stilistischen Versatilität; ebenso kundig, ebenso leidenschaftlich wie Jean-Philippe Rameau widmet sie sich Luigi Nono – das ist in Zeiten, da sich viele Musiker spezialisieren, da grosse Dirigenten mit Bruckner und Mahler brillieren, zu Mozart aber nichts zu sagen wissen, von nicht zu unterschätzender Bedeutung.

Zum weiten Horizont tritt bei Anna Prohaska die künstlerisch intellektuelle Regsamkeit. Ein Liederabend darf bei ihr mehr sein als ein Liederabend, er kann zu einem ganz bewusst und durchaus raffiniert komponierten Kunstwerk werden. Das erwies etwa 2014 das bei der Deutschen Grammophon erschienene Konzeptalbum, das unter dem Titel «Behind the lines» an den Ausbruch der Ersten Weltkriegs vor hundert Jahren erinnerte. Inzwischen ist, nun bei dem innovativen französischen Label Alpha, mit «Paradise lost» ein neues Projekt dieser Art erschienen. Es gilt  dem Mythos von Adam und Eva, vom Paradies und dem Biss in den Apfel, von der Vertreibung ins irdische Leben und dessen weniger beschaulichen Seiten.

Die Dramaturgie, zu der das Booklet leider nur eine schwammige Heranführung beisteuert, geht klar von den Liedtexten aus, spart aber nicht mit musikalischen Reizen. Es fehlt nicht an selten gehörten, hinreissend schönen Stücken, auch nicht mit überraschenden Querverbindungen wie etwa zwischen dem «Irdischen Leben» aus Gustav Mahlers Zyklus «Des Knaben Wunderhorn» (1892) und der «Wind Elegy» aus den Three Early Songs (1947) von George Crumb, mit der das als CD wie im Streaming verfügbare Programm ausklingt. Wenigstens fast ausklingt, denn auf Crumb folgt nach längerer Pause und ohne eigenen Track als Encore ein Volkslied mit dem Titel «I will give my love an apple».

Den Beginn macht ein Morgen im Paradies mit drei dort lebenden Vögeln, denen Maurice Ravel im Dezember 1914 ein liebevoll einfaches und zugleich schreckliches Lied gedichtet und komponiert hat. Schrecklich darum, weil in jeder Strophe die zweite Zeile verkündet, dass sich der Freund des lyrischen Ich im Krieg befindet. Blau ist der erste Vogel, er bringt einen azurblauen Blick, weiss der zweite, der auf die weisse Stirn einen reinen Kuss setzt. Der dritte aber ist, wie es die französischen Nationalfarben verlangen, so rot wie das scharlachrote Herz des fürs Vaterland gefallenen Freundes. Eindrücklich, wie Anna Prohaska mit ihrer schlanken, klar zeichnenden Stimme den Ton dieses Kleinods trifft – geistreich begleitet von Julius Drake am Klavier, der dort, wo der Tod benannt wird, den in Halbtönen absteigenden «Passus duriusculus» heraushebt.

Noch deutlicher ins Licht treten die Verdienste des Pianisten in der ebenfalls berückenden Huldigung von Olivier Messiaen «Bonjour toi, colombe verte» von 1945. Ausführliche, farbenreiche Zwischenspiele im unverkennbaren Vogelstimmen-Duktus gliedern den Verlauf. Und Anna Prohaska zeigt hier, wie sie bei Sprüngen in die höchsten Lagen das Vibrato lange, lange hinauszögert, um es dann umso wirkungsvoller zur Geltung zu bringen – die Sängerin lebt eben auch in der alten Musik, wo das manchenorts noch als unabdingbar empfundene Dauervibrato längst ausser Kraft ist. Dann aber erwacht Eva, aufgeweckt von Gabriel Fauré mit «Paradis» aus dem Zyklus «La Chanson d’Eve» von 1910 und der süchtigmachenden Chromatik seiner Handschrift.

Doch schon ziehen Wolken auf, kommt der Apfel ins Spiel und damit das Böse. «Salamander» aus den späten Fünf Liedern op. 107 von Johannes Brahms lässt drastisch spüren, was das heisst. Julius Drake greift hier mächtig in die Tasten, und Anna Prohaska gibt zu verstehen, dass sie durchaus auch dramatisch werden kann – die Vielfalt der Töne, die sie in diesem Liederprojekt pflegt, macht staunen. Tatsächlich folgt darauf nämlich «Gib mir den Apfel», ein süsses Kinderlied von Aribert Reimann aus dem Jahre 1961: Es ist genau dieser stilistische Abwechslungsreichtum, der den Reiz des Albums ausmacht. Nach Reimann geht es denn weiter mit Benjamin Britten und seinem wütenden Lied «A Poison Tree» aus den Songs and Proverbs of William Blake von 1965 (der Zyklus wird von dem nicht mit letzter Sorgfalt gemachten Booklet verschwiegen).

So sind Adam und Eva nun draussen, ist die Verbannung vollzogen, bleibt allein die Erinnerung an goldene Tage. In «A-U», der letzten der Sechs Romanzen op. 38 (1916) von Sergej Rachmaninow, führt Anna Prohaska vor, dass sie nicht nur über Feinschliff der Lineatur verfügt, sondern auch beträchtliches Expansionsvermögen einbringen und damit weite, ziehende Sehnsuchtsbögen spannen kann. Reizend «Evening» (1921) von Charles Ives auf einen Text aus «Paradise lost» von John Milton – womit das Zentrum des Themas erreicht ist. Zart bereitet Ives die Vertriebenen auf die Nacht vor, gleich und doch ganz anders als es 250 Jahre zuvor Henry Purcell «Sleep, Adam, sleep» getan hat, und in dieser barocken Musik besticht Anna Prohaska mit phantasievollen, stilsicheren Verzierungen.

Es folgen Lieder von Franz Schubert und Robert Schumann, in denen die Partnerschaft zwischen der Sängerin und dem Pianisten besonders greifbar wird. Julius Drake macht vor, was Liedbegleitung heute heisst: bewusster Umgang mit Binnenstimmen, aktive Vorwegnahme von Motiven, eigenständiges Zu-Ende-Bringen wie im Nachspiel zum «Wilden Schiffmann» Schumanns. Und dann der Umschlag ins irdische Leben – mit zwei Beispielen aus dem «Hollywooder Liederbuch», das Hanns Eisler 1942 bis 1947 auf Texte Bertolt Brechts geschaffen hat. Ganz rau wird da die Stimme von Anna Prohaska, sie wird zur Diseuse, auch das kann sie. Und wenn sie dann herausschreit, dass für die Mittellosen das Paradies in der Hölle liege, fährt es einem förmlich durch Mark und Bein.

Eine weite Reise bietet diese gute Stunde Musik für Singstimme und Klavier. Mehr Anregung lässt sich kaum denken.

Paradise lost. Anna Prohaska (Sopran), Julius Drake (Klavier). Alpha 581 (CD, Aufnahme 2019).

Kunstgesang in exemplarischer Ausprägung

Ernst Haefliger – ein Kalenderblatt zum 100. Geburtstag des grossen Schweizer Tenors

 

Von Peter Hagmann

 

Bild Privatsammlung, Deutsche Grammophon

Interpretation heisst Verlebendigung – Vergegenwärtigung für ein Hier und Jetzt. Genau darum kann eine Interpretation, die heute als Idealfall erscheint, morgen schon Spuren der Vergänglichkeit tragen. Indessen gibt es interpretatorisches Wirken, das über seine Zeitgebundenheit hinaus Massstäbe setzt und in einer allgemeinen Weise gültig bleibt. Etwas davon ist zu spüren im Singen des Tenors Ernst Haefliger, dessen Geburtstag sich am 6. Juli 2019 zum hundertsten Mal jährt – jedenfalls ergeben sich solche Eindrücke in der Begegnung mit der zwölfteiligen CD-Box, welche die Deutsche Grammophon, viele Jahre lang das Label des grossen Schweizer Sängers, aus diesem Anlass herausgebracht hat.

Natürlich fehlt es nicht an Zeichen, die auf die historische Distanz aufmerksam machen – das erstaunt nicht bei Aufnahmen, die aus den Jahren 1952 bis 1969 stammen. Wenn Alfredos «Brindisi» aus Giuseppe Verdis Oper «La traviata» in einer Einspielung von 1958 auf Deutsch gesungen wird, erinnert das an eine Praxis, die vollkommen verschwunden ist, es ändert aber nichts an der Überzeugungskraft der musikalischen Gestaltung. Und wenn Haefliger «Comfort ye my people» aus Georg Friedrich Händels Oratorium «Messiah» gibt, ebenfalls in deutschsprachiger Fassung, so stehen die ästhetische Handschrift des Dirigenten Karl Richter und der Klang des Münchener Bach-Orchesters unzweifelhaft für eine vergangene Zeit – die berührende Wirkung der Arie schmälert das nicht.

Es ist eben etwas Besonderes an der Vokalkunst Ernst Haefligers. Etwas sehr Eigenes, Unverkennbares. Das betrifft zunächst das Timbre. Haefligers Stimme sitzt jederzeit, selbst in den Aussenlagen, makellos und bildet klar konturierte Linien. Die reiche Beimischung an Obertönen verleiht ihr einen spezifischen Glanz – und eine Schönheit des Tons, die in Verbindung mit der hochstehenden Legatokultur als Grundprinzip über allem herrscht. Dabei bleibt es aber nicht, denn der schöne Klang ist genuin in der Sprache verankert: das kunstvolle Singen nicht einfach als hochkultivierte Lautgebung, sondern vielmehr als ein Sprechen der höheren Art. Die Diktion ist ohne Fehl und Tadel, in welcher Sprache auch immer. Farbig die Vokale, prägnant die Konsonanten, dabei aber fern jeder Überzeichnung oder Manieriertheit. Kontrolle und Mass bleiben jederzeit gewahrt; das Lied «Ich grolle nicht» aus Robert Schumanns «Dichterliebe», in dem die Wogen der Emotion hochgehen, mag als Beispiel dafür stehen.

Das Lied, es bildet eines der Zentren in Ernst Haefligers Wirken, vielleicht sogar das wichtigste. Die CD-Edition, die von Christine, Michael und Andreas, den drei Kindern Haefligers, konzipiert worden ist, legt es jedenfalls nahe. Die Hälfte der zwölf Disks ist dem deutschen Kunstlied romantischer Herkunft gewidmet. «Die schöne Müllerin», die «Winterreise», der «Schwanengesang» von Franz Schubert machen den Anfang, die «Dichterliebe» Robert Schumanns folgt ebenso wie eine Auswahl einzelner Lieder, darunter solche von Othmar Schoeck, Hugo Wolf, Zoltán Kodály. Wenn das erzählende Ich, eine Aufnahme des vierzigjährigen Haefliger, in der «Müllerin» von seiner Wanderlust berichtet, sieht man in der Tat das muntere Bächlein fliessen und die Räder in fleissiger Drehung – so bezwingend gestaltet das Haefliger: mit grossem, ruhigem Atem und in weiten Phrasierungsbögen. Die Pianistin Jacqueline Bonneau trägt das mit, indem sie das Tempo streng konstant hält und ihre differenzierende Kunst auf den Ebenen von Lautstärke und Klangfarbe verwirklicht.

Doch nicht mit dem Lied ist Ernst Haefliger gross geworden, seine Anfänge lagen beim Oratorium – das den Sänger bis ins hohe Alter begleitet hat. Schon gleich nach dem Abschluss seiner Studien am Konservatorium Zürich trat Haefliger als Johann Sebastian Bachs Evangelist auf – mit Dirigenten unterschiedlichster Herkunft, bald aber und dann vor allem mit Karl Richter. Der Münchner Dirigent hat die Laufbahn des um wenige Jahre älteren Sängers entschieden gefördert, während umgekehrt Haefliger zusammen mit Richter das Bach-Bild der Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg massgeblich mitgeprägt hat. Die CD-Box legt dazu vielfaches und schönstes Zeugnis ab. Darüber hinaus wartet sie aber auch mit einigen Entdeckungen auf. Dass Ernst Haefliger schon in den späten sechziger Jahren alte Musik erkundet hat, etwa Balladen und anderes von Guillaume de Machaut, dies mit Unterstützung durch den Gambisten August Wenzinger und die von ihm geleitete Konzertgruppe der Schola Cantorum Basiliensis, stellt eine echte Überraschung dar. Offen war er aber auch gegenüber der neueren Musik. Zum Beispiel für das «Tagebuch eines Verschollenen» von Leoš Janáček, für dessen Aufnahme Ernst Haefliger 1963 zusammen mit der wunderbaren Kollegin Kay Griffel, einem nicht näher bezeichneten  Damenchor und Rafael Kubelik als dem Dirigenten am Klavier in den Gemeindesaal beim Zürcher Neumünster ging.

Bild Privatsammlung, Deutsche Grammophon

Bald nach seinem Debüt als Konzertsänger eroberte sich Haefliger auch die Bühne. 1943 wurde er an das damalige Stadttheater Zürich, das heutige Opernhaus, engagiert und blieb dort Mitglied des Ensembles, bis er 1952 als Erster lyrischer Tenor an die Städtische Oper Berlin, inzwischen die Deutsche Oper, wechselte. Gut zwanzig Jahre lang bildete Berlin den Lebensmittelpunkt des Sängers. Dorthin gefolgt war er dem Dirigenten Ferenc Fricsay, der in der geteilten Stadt seit 1949 als Generalmusikdirektor der Städtischen Oper und als Chefdirigent des RIAS-Symphonie-Orchesters wirkte, des späteren Radio-Symphonie-Orchesters Berlin. Mit Fricsay hat Haefliger ganz wesentlich an der Erscheinung Mozarts in den fünfziger und sechziger Jahren gearbeitet – mit der innigen und geschmackvollen, weil nirgends verzärtelten Deutung der «Bildnis-Arie» aus der «Zauberflöte» etwa lässt es die CD-Box erkennen. Eine der Stärken des grossen Tenors war das Leise, dem er Verlorenheit, aber auch grösste Intensität abgewann; exemplarisch steht dafür etwa der Beginn von «Gott, welch Dunkel hier», der ersten Arie des Florestan aus Ludwig van Beethovens «Fidelio», die in der Box wiederum mit Fricsay, diesmal aber mit dem Bayerischen Staatsorchester München erscheint.

In München fand Ernst Haefliger später einen weiteren Wirkungskreis. 1971 wurde er an die dortige Hochschule für Musik engagiert, wo er bis 1988 unterrichtete. Dies gemäss den Maximen, die er in seinem 1983 erschienenen Buch über «Die Singstimme» dargelegt hat. Auf welcher Erfahrung diese Maximen fussen, das lässt sich in der eindrücklichen, das Wirken Haefligers in seiner ganzen Breite abdeckenden CD-Box erfahren.

 

The Ernst Haefliger Edition. Deutsche Grammophon 4837122 (12 CD).
Hier geht es zum vollständigen Titel-Verzeichnis.

 

Tal des Todes, himmlische Höh‘n

Rachel Harnisch und Jan Philip Schulze an einem Zürcher Liederabend

 

Von Peter Hagmann

 

Sie sind sehr spezielles Duo, die Sopranistin Rachel Harnisch und der Pianist Jan Philip Schulze, darum geriet ihr Liederabend in der Tonhalle Maag zu einem Ereignis von besonderer Kontur. Harnisch ist nicht die Primadonna, Schulze nicht ihr Diener, nein, die beiden bilden tatsächlich ein Duo, eines im eigentlichen Sinn. Sie begegnen sich auf Augenhöhe und interagieren äusserst lebendig miteinander. Das beginnt schon bei der Zusammenstellung des Programms; in seiner stringenten Dramaturgie, mit seinem Weg von nächtlicher Schwärze zur Helligkeit des Lichts zeugte es von wacher Neugierde und ausgeprägtem Gestaltungswillen. Die Werkfolge bot nicht einfach eine Perlenkette bekannter und geschätzter Lieder, sie orientierte sich vielmehr an inhaltlichen, genauer: an textlichen Zusammenhängen. So ging es an diesem gut besuchten Abend beim Liedrezital Zürich nicht allein um die wohlgeformte Vokallinie, sondern durchaus auch um Momente von Bedeutung und Struktur: um das auf eine neue, auf eine musikalische Ebene gehobene Gedicht.

Zu Beginn war das noch nicht recht spürbar. Rachel Harnisch und Jan Philip Schulze hoben mit Franz Schubert an – und nicht gerade den leichtesten Liedern aus seiner Feder. Die Sängerin wirkte nervös, ihre Höhe klang angestrengt, der Körperausdruck sprach von Verspannung. Bei der «Jungen Nonne» hatte sie sich jedoch gefunden – vermochte sie einen musikalischen Spannungsverlauf zu formen, der zu einer fulminanten Klimax führte und am Ende jubelnde Erlösung fand. Schon da zeigte der Pianist, dass er nicht nur die bei Schubert häufig vorkommenden Tremoli edel hinzulegen weiss, er setzte auch immer wieder überraschende Akzente; sie liessen das musikalische Geschehen zum Dialog werden. Zu einer Entdeckung geriet «Apparition», eine Reihe von «Elegiac Songs and Vocalises for Soprano and Amplified Piano», die sich der Amerikaner George Crumb 1979 ausgedacht hat. Hier griff der Pianist buchstäblich in die Saiten, und da das solcherart Gehauchte und Gezupfte über Lautsprecher hervorgehoben wurde, ergaben sich denkbar vielfarbige Klangwelten. Besonders gelang das letzte der sechs Lieder, das den Nachthimmel mit seiner Nachtigall und die flüsternden Wellen am Meeresstrand besingt – Rachel Harnisch erwies sich da als eine Sängerin, die starke atmosphärische Wirkungen zu erzeugen vermag.

Wie weit ihr gestalterisches Potential reicht, gab die Sängerin in vier Liedern aus «Des Knaben Wunderhorn» von Gustav Mahler zu erkennen. Mit einem herben Anfangston weckte der Pianist beim «Rheinlegendchen» die Zuhörer aus ihrer angenehmen Erwartungshaltung, darauf folgte die verspielte Erzählung vom Weg eines goldenen Ringleins über Fluss, Fischmagen und Königstafel zurück zur Eigentümerin. Dass die von Rachel Harnisch gekonnt erzeugte Harmlosigkeit über doppelte Böden verfügt, betonte Jan Philip Schulze dort, wo er einen überleitenden Harmoniewechsel zum spannungsvollen Ereignis werden liess. Schauerlich «Das irdische Leben», wo das Kind um Brot bittet und es die Mutter so lange vertröstet, bis es auf der Totenbahre liegt. Und herrlich gelöst dann «Das himmlische Leben», das aus Mahlers vierter Sinfonie bekannt ist – wobei man sich fragen konnte, ob der Vorhang, der nah hinter dem Duo gespannt war, der Stimme nicht etwas viel Oberton nahm. Sehr lustig und griffig schliesslich fünf Lieder von Richard Strauss. Ironie hier und Witz dort, blendende stimmliche Wandelbarkeit, kernige Virtuosität im Klaviersatz und dementsprechend rauschender Klang sorgten für einen stupenden Abschluss.

Hindemith – neu entdeckt

«Das Marienleben» mit Rachel Harnisch und Jan Philip Schulze

 

Von Peter Hagmann

 

Ganz so heilig ist es vielleicht doch nicht zugegangen. Im Gedichtzyklus «Das Marien-Leben» von Rainer Maria Rilke erscheint der jungen Frau zwar ein Engel, aber die Blicke, die in diesem Augenblick zwischen den beiden hin- und hergehen, sagen mehr, als die kirchliche Überlieferung nahelegt. Kein Wunder, begehrt der Zimmermann Joseph angesichts der offenkundigen Konsequenzen auf – so sehr, dass es einer energischen Intervention des Engels bedarf. In der Folge zieht das Leben Jesu in dichter Raffung vorbei. Wie Maria nach der Kreuzigung den Leichnam ihres Sohnes an sich nimmt, breitet sich eine Zärtlichkeit aus, die auf das nächste Gedicht verweist; es schildert, wie der Auferstandene seiner Mutter begegnet: in einer Verbundenheit, deren Innigkeit der körperlichen Berührung nicht mehr bedarf.

Und ganz so spröde, wie es das Vorurteil will, klingt es hier auch nicht. Die Musik, die Paul Hindemith für den Gedichtzyklus Rilkes erfunden hat, atmet ihre ganz eigene Sinnlichkeit. Gewiss, die vokale Linienführung ist anspruchsvoll, und der Klavierpart bietet nicht Begleitung herkömmlicher Art, er verkörpert klare formale Prinzipien – zumal in der zweiten Version der Vertonung, die Hindemith 1948, ein Vierteljahrhundert nach einer erste Niederschrift des Liederzyklus, abgeschlossen hat. Ostinate Verläufe, wie sie die Passacaglia ausprägt, stellen sich hier zur Singstimme, Themen mit Variationen und oft auch einstimmige Passagen. So kommt es zu einem Austausch zwischen dem Gesungenen und dem Gespielten, wie er in dieser Intensität einzigartig ist.

Genau darauf setzen die Schweizer Sopranistin Rachel Harnisch und der deutsche Pianist Jan Philip Schulze in ihrer bei Naxos erschienenen Aufnahme von Hindemiths «Marienleben» in der Fassung von 1948. Ihr Zusammenwirken ist denkbar weit entfernt von der Vorstellung einer solistisch geführten Singstimme und eines untermalenden Klaviers. Jan Philip Schulze, ein auf dem Feld des Kunstlieds höchst erfahrener Musiker, gestaltet den Klavierpart geschmeidig und klangschön, vor allem aber stellt er ihn selbstbewusst in den Raum, das erschliesst sich dem Hören bei der ersten Begegnung.

Er kann das tun, weil Rachel Harnisch das Konzept der musikalischen Partnerschaft ihrerseits so lebhaft wahrnimmt. Die reifer gewordene Stimme der Sopranistin, die eben erst in Berlin in der Uraufführung von Aribert Reimanns jüngster Oper «L’Invisible» brillierte, verströmt so viel Wärme und Fülle, dass sie neben den pointierten Beiträge des Pianisten problemlos zu bestehen vermag – ja mehr noch: dass sie die eigenartige Sinnlichkeit der Komposition voll zur Geltung bringt. Die Sängerin gestaltet eben, und sie tut das mit eindringlicher Emphase, hörbar aus den wunderbaren Texten Rilkes heraus, mit vorzüglicher Diktion, aber auch mit so bestechender Sorgfalt der vokalen Ausformung, dass die Balance im Duo jederzeit gegeben ist. Von fröhlichen Weihnachten wird da berichtet und von einem zum Täufer ausersehenen Johannes, der schon im Bauch seiner Mutter strampelnd seiner Vorfreude Ausdruck gibt. Und zu entdecken ist in dieser Aufnahme ein unverkennbarer, aber in gewisser Weise neuer Hindemith.

Paul Hindemith: Das Marienleben (Fassung von 1948). Rachel Harnisch (Sopran), Jan Philip Schulze (Klavier). Naxos 8.573423 (1 CD).

Und sternlos war die Nacht

Eine Schumann-CD mit Matthias Goerne und Markus Hinterhäuser

 

Von Peter Hagmann

 

Vorhang auf für die ersten Salzburger Festspiele. Nein, nicht die ersten an sich, aber doch die ersten, die voll und ganz von Markus Hinterhäuser verantwortet werden. Angesichts der Strahlkraft dieser Aufgabe könnte leicht untergehen, dass Hinterhäuser nicht nur Intendant ist, sondern auch und ebenso sehr Musiker: Pianist. Daran erinnert eine sehr besondere CD, die er zusammen mit Matthias Goerne vorlegt – mit dem Bariton, mit dem er 2014, in der ersten der drei von ihm konzipierten Ausgaben der Wiener Festwochen, Schuberts «Winterreise» in einem szenischen Arrangement von William Kentridge gestaltet und im Rahmen zahlreicher Gastspiele in die Welt getragen hat. Die beiden sind vertraut miteinander, das ist auf Anhieb zu hören. Und zu verstehen ist auch, dass eine so klar auf das Leise, auf das Innerliche, auf das Innehalten ausgerichtete Aufnahme nur entstehen kann, wenn zwischen den Beteiligten vollkommene ästhetische Übereinstimmung, ja Freundschaft herrscht.

Die neunzehn Lieder Robert Schumanns, welche die CD präsentiert, führen von der Sammlung «Myrthen» aus der Zeit unmittelbar nach dem Liederfrühling von 1840 bis weit ins Spätwerk, für welches etwa das «Abendlied» von 1851 steht. Der Aufbau des Programms folgt aber weder der Chronologie noch den Textdichtern, er zeichnet vielmehr thematische und atmosphärische Kurven, wie sie aus vielen von Markus Hinterhäuser für Salzburg erdachten Konzertprogrammen bekannt sind. Um Einsamkeit und Melancholie geht es, um Abschied und Tod, um die Liebe, die «zu Tränen nur gemacht», und die Nacht, in der kein Stern zu sehen ist – so hat es Nikolaus Lenau in seinem Gedicht «Der schwere Abend» in Worte gefasst. Einfache Kost ist das nicht; den Kreuzweg zu durchschreiten verspricht jedoch mannigfache Belohnung.

Denn wie Schumann mit den (qualitativ durchaus unterschiedlichen) Texten umgeht, zeugt eindrücklich von des Komponisten Sinn für prägnant gefasste Ausssagen, ja für Vokale und Konsonanten – und überdies von der ungebrochenen Kreativität auch in den Jahren der Schwermut. Radikal reduziert erscheint bisweilen die Schreibweise, und die beiden Interpreten scheuen keinen Augenblick davor zurück, diese Radikalität in der Umsetzung spürbar werden zu lassen. «Über allen Gipfeln ist Ruh»: In dem berühmten «Nachtlied» Goethes spiegeln sie den von keinem Laut gestörten Naturzustand in einem sehr langsamen Tempo und in Pausen, die ebenso wichtig werden wie das Klingende. Sie bilden damit ab, was Text und Musik meinen, und lassen zugleich die Fragilität des geschilderten Moments spüren.  Mit seiner ganz in der Tiefe ruhenden Stimme singt Matthias Goerne in einer Zurückhaltung, wie sie sich gewagter kaum denken lässt – ohne dass er irgendetwas demonstrieren oder zelebrieren müsste. Und Markus Hinterhäuser steht mit einer Aufmerksamkeit und einer klanglichen Zartheit an Goernes Seite, die des Pianisten Erfahrung im Begleiten von Liedern, aber auch seine Affinität zu langsamer, stiller Musik wie etwa jener von Morton Feldman zu erkennen geben. Äusserst mutig, diese CD. Und grossartig dazu.

Robert Schumann: Einsamkeit – Lieder. Matthias Goerne (Bariton), Markus Hinterhäuser (Klavier). Harmonia mundi 902243.

«Man kann deutlich sprechen, ohne zu buchstabieren»

Im Meisterkurs der Mezzosopranistin Brigitte Fassbaender an der Zürcher Hochschule der Künste

 

Von Peter Hagmann

 

Was für eine Stimme. Brigitte Fassbaender ist, pardon, siebenundsiebzig, ihre über dreissig Jahre währende Karriere als Sängerin hat sie vor mehr als zwanzig Jahren abgeschlossen – aber wenn sie einen Ton in den Raum setzt, bleibt niemand auf dem Stuhl. Mit einer Kraft sondergleichen füllt sie den Raum – egal, in welcher Lage. Von Haus aus Mezzosopran und auf Hosenrollen abonniert, singt sie inzwischen Tenor, dass einem Hören und Sehen vergeht, und wenn es die Sopranlage erfordert, wechselt sie in eine Kopfstimme, in der, auch wenn das Timbre nimmer lupenrein ist, jeder Ton an der Stelle sitzt, an der er sitzen muss. Singen kann bekanntlich jeder, das sagt sich gerne, leicht und oft. Was Singen aber wirklich sein kann, das lässt sich nur bei einer Grosskünstlerin wie Brigitte Fassbaender in Erfahrung bringen.

Luftwechsel

Darum sind sie jetzt alle gekommen, die sechs jungen Sängerinnen und Sänger von der Zürcher Hochschule der Künste mit ihren Pianistinnen und Pianisten, aber auch die stattliche Gruppe an Zuhörerinnen und, jawohl, Zuhörern. Anlass ist ein dreitägiger Meisterkurs, den Brigitte Fassbaender auf Einladung von Liedrezital Zürich im Toni-Areal gibt. Nicht alle werden sich da auf Anhieb zurechtgefunden haben, denn der Kammermusiksaal, den die Hochschule als Koproduzentin zur Verfügung gestellt hat, befindet sich am allerhintersten Ende des langgezogenen Baus. Er ist ganz in Holz gehalten und verfügt über eine angenehme, kammermusikalische Akustik, allerdings trotz der im ganzen Gebäude wirksamen Belüftung über etwas geringe Reserven an Sauerstoff.

Dabei stand der Kurs im Zeichen der frischen Luft, des Luftwechsels. Die sechs angehenden Spezialisten des Kunstgesangs, zwei Soprane und zwei Tenöre, eine Altistin und ein Bass, befinden sich in den guten Händen der an der Hochschule wirkenden Gesangslehrer, aber die Chance, von einer Eminenz wie Brigitte Fassbaender zusätzliche Anregungen zu empfangen und den im regulären Unterricht gebildeten Horizont zu erweitern, ist natürlich einzigartig. Sie führt zum Ziel, wenn sich der Schüler der Meisterin für die Dauer des Kurses vollständig unterwirft, ihr blind vertraut und aufnimmt, was sie anbietet. Was der Absolvent am Ende mit dem Erlernten anfängt, was er daraus macht, ist dann jedoch völlig seine Sache. Autorität und Autonomie begegnen einander da in fruchtbarer Spannung.

Nicht ganz alle Kandidaten haben sich dieses Prinzip zu eigen machen können. Der junge Tenor mit seiner noch etwas schmalen Stimme begegnet der Empfehlung Brigitte Fassbaenders, eine bestimmte Phrase, sei sie auch sehr lang, unter einen einzigen, ununterbrochenen Atembogen zu nehmen, mit Skepsis; er kenne keine Aufnahme, in der das einem Sänger gelungen wäre. Indes, Widerstand ist sinnlos, das Charisma dieser grossen Sängerin, die Ausstrahlung ihrer Persönlichkeit und die bezwingende Wirkung ihrer fest in sich ruhenden Erfahrung lassen keine Wahl. Das ist auch kein Wunder, hat Brigitte Fassbaender nach Abschluss ihrer Laufbahn als Solistin doch als Regisseurin gewirkt und als Intendantin Theater geleitet. Hier wie dort hat sie ihrerseits lernen können, Menschen in Richtungen zu bewegen, die ihnen vielleicht nicht von vornherein genehm waren.

Das weite Feld der Sprachgestaltung

Jedenfalls konnte der Zuhörer feststellen, dass sich bei allen Kursteilnehmern im Laufe einer Unterrichtsstunde hörbare Verbesserungen einstellten. Wie das? Es bleibt ein Geheimnis. In den drei Mal sechs Unterrichtsstunden, die jeweils nur von einer einzigen halbstündigen Pause unterbrochen waren, in diesen Unterweisungen, die von der unglaublichen Energie und der ununterbrochenen Präsenz der Kursleiterin geprägt waren, schien die Kommunikation nicht einfach zu fassen. Vieles sang Brigitte Fassbaender vor und versuchten die Kursbesucher zu kopieren. Wenn es aber um Einzelheiten der Tonbildung und der Stimmführung ging, stellte sich eine metaphorische Sprache ein, die weniger auf allgemein verständliche Botschaft zielt, als dass sie versucht, im empfangenden Gegenüber unbewusste oder halbbewusste Regungen auszulösen. Bisweilen war das tatsächlich als zielführend zu erkennen, bisweilen blieb der Zuhörer als solcher aber doch aus dem Kommunikationsprozess ausgeschlossen. So ist es nun einmal in der Musik.

Indessen geht es bei einem Meisterkurs weniger um die rein gesangstechnischen Aspekte – um den Fingersatz sozusagen. Im Zentrum stehen vielmehr Fragen der Interpretation. Und das waren hier auch, wenn nicht sogar vor allem, Fragen der Textgestaltung. Hier kam nun die ganz persönliche Ästhetik der Liedsängerin Brigitte Fassbaender ins Spiel. Auch für diese grossartige Künstlerin stellt das Lied eine Form höherer Verwirklichung – Verlautlichung – schriftlich festgehaltener Sprache dar; immer wieder kam sie auf die Texte zu sprechen, auf die Gedichte Eduard Mörikes etwa, und immer wieder fragte sie, welcher Sinn dieser oder jener Passage zu entnehmen sei. In erster Linie aber ging es um die konkrete sprachliche Formung, stand der Umgang mit den Konsonanten und den Vokalen zur Diskussion.

Besonderen Wert legte Brigitte Fassbaender dabei auf die Verschmelzung der Vokale und die klare, aber stets weiche Zeichnung der Konsonanten. «Man kann deutlich sprechen, ohne zu buchstabieren», rief sie sinngemäss immer wieder aus. Dunkel sollten die Vokale sein, einer solle aus dem anderen hervorwachsen. Mit kehliger Bruststimme machte sie das immer wieder vor, und führte das nicht zum Gewünschten, griff sie erneut zur Metapher: «Mach das o auf wie ein Frühstücksei, das man köpft, und da krabbelt das e dann heraus.» Die Konsonanten wiederum sollten weder zugespitzt noch mit allzu viel Gewicht versehen werden – das störe den Fluss, gehe auf Kosten der Tonschönheit und mindere das Legato. Im Deutschen – es wurden ausschliesslich Lieder der deutschen Romantik behandelt – ist das alles andere als einfach. Wer zwischen zwei benachbarte Konsonanten einen nicht vorgesehen Vokal schob, wurde zurecht gewiesen; «Schawert» gehe überhaut nicht, da sei man geradewegs in Bayreuth.

Gestern und heute

So eindrucksvoll das war, so sehr wurde deutlich, dass die Maximen, die Brigitte Fassbaender hier vertrat, einer Auffassung von Liedgesang entsprechen, die etwas in die Jahre gekommen ist. Der geschlossene melodische Bogen, das getragene und als Prinzip durchgehende Legato, die sprachliche Weichzeichnung, das wurde schon zur grossen Zeit der Sängerin in Frage gestellt worden – zum Beispiel durch Dietrich Fischer-Dieskau, der oft genug der sprachlichen Überzeichnung geziehen worden ist. Heute gibt es manchen Sänger, Christian Gerhaher etwa, der die Texte gerade dadurch fassbar macht, indem er die Vokale, so es nötig ist, grell einfärbt, die Konsonanten zischen lässt und in Sachen Tonschönheit das Risiko nicht scheut. Die Sprache ist in diesem Fall nicht Ausgangspunkt für die Musik noch ihr untergeordnet, sie wirkt vielmehr in echter Partnerschaft neben und mit ihr. Wo für den einzelnen Sänger, für die einzelne Zuhörerin der richtige Weg liegt, bleibt Geschmackssache.

Zu der bei aller Grossartigkeit doch etwas retrospektiven Ästhetik gehört der Umstand, dass Brigitte Fassbaender für die Pianistinnen und Pianisten so gut wie kein Wort übrig hatte. Im Gegenteil, als am zweiten Kurstag ein junger Bass Schuberts «Gruppe aus dem Tartarus» aufs Pult legte, verlangte die Kursleiterin die fast vollständige Schliessung des Flügels und beschied dem Pianisten, dass er hier nun gar nichts anderes als reine Begleitung zu liefern habe, sonst gehe der Sänger nach wenigen Takten ein. Von heute aus gesehen wäre am Platz, dass auch bei einem so dramatischen Lied wie der «Gruppe aus dem Tartarus» der Flügel offen bliebe und dass der Pianist mit seinen gestalterischen Möglichkeiten dafür zu sorgen hätte, dass der Sänger nicht in Bedrängnis gerät. Wie der Liedgesang, bei dem der Solist brilliert und der Pianist dient, ganz und gar vorbei ist – dafür stehen viele der heute tätigen Liedbegleiter, davon zeugt auch eine Einrichtung wie der Grazer Schubert-Wettbewerb, bei dem die Kooperation zwischen Sänger und Pianist in der Bewertung besonderes Gewicht erhält.

Lieder neueren Datums bauen ohnehin explizit auf der aktiven Interaktion zwischen Vokalem und Instrumentalem. Ein Kursangebot zu diesem Bereich könnte das verdeutlichen.

Reportage von Liedrezital Zürich unter http://liedrezital.ch/index.php/reportage-ueber-meisterkurs.html