Lord Cecil (Andrew Owens) und Königin Elisabeth I. (Inga Kalna) / Bild Toni Suter, Opernhaus Zürich
Schon das Eröffnungsbild lässt einen erschrecken. Der Körper liegt reglos in einer Blutlache, der Hals geht ins Leere und zeigt seine Innereien, der Kopf liegt weitab davon – und schon sind die dienstbaren Geister da, die einen tragen die zwei Teile des Opfers weg, die anderen versuchen der Blutspuren Herr zu werden. Wem das falsche Wort entfährt, wer die falsche Tat begeht, dem droht das Beil des Henkers. So war es damals, als es Königinnen gab, die riesige Reifröcke trugen, über Leib und Leben geboten und in verzweifelter Einsamkeit lebten. Und so ist es heute, in Russland, in Iran, in Saudi-Arabien – die Menschheit ist kaum einen halben Schritt weiter. Der Gedanken mag einem durch den Kopf schiessen, während man sich im Opernhaus Zürich die neue Produktion von «Roberto Devereux» zu Gemüte führt. Tatsächlich spielt die dritte der drei Opern Gaetano Donizettis über die in England herrschende Familie der Tudors im sechzehnten Jahrhundert, davon sprechen die prachtvollen Kostüme, mit denen Gideon Daveys Ausstattung prunkt. Ins Auge fällt aber auch die leicht gekrümmte, aus glattpolierten Steinblöcken gebildete Rückwand, die nicht nur den Spielraum ins Weite öffnet, sondern auch in aller Eindeutigkeit auf die Kälte der Gegenwart verweist.
Entschieden schliesst sich dem der Dirigent Enrique Mazzola an – und zwar gerade dadurch, dass er Donizettis Musik am Pult der hellwachen Philharmonia und des von Janko Kastelic hervorragend vorbereiteten Chors der Oper Zürich im Geist der historisch informierten Aufführungspraxis zum Klingen bringt. Das ist längst keine Frage des verwendeten Instrumentariums mehr, wohl aber eine solche der Textbezogenheit. Mazzola entdeckte in der originalen Handschrift der Partitur Tempobezeichnungen des Komponisten, die in der verbreiteten, flächig gearteten Tradition der Wiedergabe verlorengegangen sind. Mazzola spielt diese Brüche kompromisslos aus – so scharf, wie er die Instrumentalfarben staffelt und dadurch Donizetti geradewegs als ein anderer erscheinen lässt. Die innere Zerrissenheit, welche die Figuren in «Roberto Devereux» durchs Band kennzeichnet, erscheint so in hellem, ja grellem Licht. Und hebt die Oper über jede Belcanto-trunkene Harmlosigkeit heraus.
Der Regisseur David Alden, der mit diesem Abend seine 2018 in Angriff genommene Zürcher Tudor-Trilogie beschliesst, bleibt da unbestimmter. Er denkt eher in Kategorien des szenischen Effekts als in solchen der psychischen Feinzeichnung. Das raumhohe, halbkreisförmige Element mit den Porträts aus der ungewöhnlich langen Regierungszeit Elisabeths I. – es zu bewegen dem Team der Bühnentechnik Schwerarbeit ab –, der steinerne Brocken, der aus Andreas Homokis Inszenierung der «Walküre» stammen könnte, der enorme Thron, das alles frappiert gehörig. In der Profilierung der handelnden Figuren bleibt jedoch manches beiläufig. Wenn der Strippenzieher Lord Cecil (Andrew Owens) als körperbehinderter Alter mit Stock und nervös wippenden Fingern auftritt, erscheint das als ein allzu wohlfeiles Déjà-vu. Und die Brutalität des Herzogs von Nottingham angesichts der Enttäuschungen, denen er sich gegenübersieht, wirkt in einem wenig überzeugenden Sinn opernartig. Das mag auch auf sängerische Defizite zurückgehen; Konstantin Shushakov arbeitet mit so viel Vibrato, dass die Tonhöhe oft nur schwer zu orten ist.
Auch nicht frei von Klischees bleibt das Profil, mit dem die titelgebende Figur des Roberto Devereux, des jungen Aufständischen, den die Königin an ihr Herz gezogen hat, versehen ist. Musikalisch lässt Stephen Costello dagegen keinen Wunsch offen; dank seinem leuchtenden, tragfähigen Timbre gerät die Arie, in der er seiner Verzweiflung Lauf lässt, überaus eindringlich. Grandios die junge Anna Goryachova als Sara, die Gattin Nottinghams und Geliebte Devereux’. Herrlich entfaltet sich ihr dunkler Mezzosopran, zu intensiver Verbindung finden das musikalische Gestalten und die szenische Verwirklichung. In der Titelpartie ist Diana Damrau, die bei «Maria Stuarda» wie bei «Anna Bolena» im Zentrum stand, nicht mehr dabei. An ihre Stelle trat Inga Kalna, eine Charakterdarstellerin von hohem Format. An der Premiere verlor die lettische Sopranistin in den Fortissimo-Eruptionen des Beginns die dynamische Kontrolle – mit einiger Wehmut kam da der Gedanke an die künstlerisch so erfüllten Zeiten mit Edita Gruberova auf. Mehr und mehr gelang es ihr jedoch, den stimmlichen Ausdruck ins Ganze ihrer Bühnenerscheinung einzubinden und die fatal folgenreiche Egozentrik der Königin zu erschreckender Wirksamkeit zu bringen.
Das Traumpaar Nerbulone (Daniel Giulianini) und Lenia (Mark Milhofer), im Hintergrund Eliogabalo (Yuriy Mynenko) / Bild Monika Rittershaus, Opernhaus Zürich
Er will sie, er will ihn, er will alle, und er will alles: So ist Eliogabalo, der ohne Zweifel verrückteste Kaiser im alten Rom. Als Vierzehnjähriger kam Varius Avitus Bassianus 218 nach Christus auf den Thron, trieb als Elagabal sein Wesen und tat dies äusserst heftig, wenn auch nur kurz: Vier Jahre nach der Thronbesteigung hauchte er, von der Hand eines Mörders getroffen, sein Leben aus. Richtiger Stoff für eine Oper also, weshalb Francesco Cavalli, eine Generation jünger als Claudio Monteverdi, zur Feder griff. Zum Jahreswechsel 1667/68 sollte das Stück in Venedig aus der Taufe gehoben werden – was aber aus welchen Gründen auch immer nicht geschah. Die Partitur verschwand in der Schublade des Komponisten, gelangte von dort in den Besitz einer Adelsfamilie und schliesslich in eine Bibliothek in Venedig. 1999 wurde sie wiederentdeckt und in der lombardischen Kleinstadt Crema zu später Uraufführung gebracht.
Richtiger Stoff auch für Calixto Bieito. Willkürliche Machtausübung, Gewaltanwendung, triebhaftes Begehren, dazu ein Durcheinander der Geschlechter – das reizt den katalanischen Regisseur, der Cavallis «Eliogabalo» im Opernhaus Zürich auf die Bühne gebracht hat. Wie sich der Vorhang hebt, sitzt der Kaiser (Yuriy Mynenko, der aus Odessa stammende, dank Sondergenehmigung nach Zürich gekommene Countertenor mit weichem, geschmeidigem Ton) hingeflätzt in einem Sessel, die Smokinghose windet sich noch um die Fussgelenke, denn eben hat er Eritea vergewaltigt, die Verlobte seines Ersten Offiziers.
Die vom Opfer eingeforderte Ehe als Wiedergutmachung interessiert ihn trotz dem fulminanten Einsatz der Sopranistin Siobhan Stagg kein bisschen, er hat vielmehr seine langjährige Vertraute Lenia losgeschickt, ihm neue Körper zu besorgen – der Tenor Mark Milhofer versieht diese umgekehrte Hosenrolle mit sprühendem Witz. Zu einer wirklichen Hosenrolle wird die Partie des Giuliano, des besagten Offiziers an der Seite des Kaisers, wird sie in Zürich doch nicht von einem Countertenor, sondern von der blendenden Mezzosopranistin Beth Taylor verkörpert. Umgekehrt wird sich später Eliogabalo selbst ins Deux-Pièce werfen – dann nämlich, wenn er den eigens von ihm eingerichteten Frauensenat besucht, um die im Bikini angetretenen Parlamentarierinnen in näheren Augenschein zu nehmen. Mann oder Frau, hoch oder tief: nach kurzer Zeit ist die Verwirrung vollkommen.
Die vom grossen Ensemble auf durchwegs hohem Niveau herbeigeführte Konfusion mag hintersinnig an die derzeit aufschäumende Genderdiskussion verweisen – die in neutraler Modernität gehaltene, ausgesprochen bewegliche Bühne von Anna-Sofia Kirsch und die dazu passenden Kostüme von Ingo Krügler, vor allem jedoch die Hinweise aus der Dramaturgie suchen das nahezulegen. Die Assoziation wirkt freilich erzwungen, geht die Dominanz der hohen Stimmen und damit die Verwischung der Grenzen zwischen den Geschlechtern doch auf das zur Entstehungszeit der Oper in voller Blüte stehende Kastratenwesen zurück. Schlagend in unsere Tage führt dagegen die Bemerkung Eliogabalos, der Respekt vor den Gesetzen erfülle sich in deren Verletzung – da darf ruhig an den abgewählten Präsidenten einer gewissen Weltmacht gedacht werden.
Zuviel des Guten bieten auch die Dauererregung und die explizite Körperlichkeit im ersten Teil des Abends. Da wird, so ist es eben bei Bieito, szenisch so viel Energie freigesetzt, dass die feinsinnige Musik Cavallis unter die Räder kommt – und das trotz dem fulminanten Einsatz des dem Opernhaus Zürich angegliederten Barockorchesters La Scintilla. Erst im dritten Akt findet die musikalische Seite der Produktion ihren Raum. Wird deutlich, was Cavalli in den klar sprechenden Rezitativen und den vielen Passacaglien an Ausdruck hervorbringt. Und tritt zutage, wie subtil hier interpretatorisch gearbeitet wurde. Zu verdanken ist das dem russischen Dirigenten, Geiger und Countertenor Dmitry Sinkovsky, der das Particell Cavallis farbenprächtig instrumentiert hat. Die von ihm eingestreuten Improvisationen auf der Geige wirkten an der Premiere beiläufig. Die musikalisch grandios gemeisterte, szenisch effektvoll dargebotene Arie des Sängers am Pult sorgte dagegen für ein veritables Glanzlicht.
Sieglinde, Siegmund und der unsichtbare Gast / Bild Monika Rittershaus, Opernhaus Zürich
Vielleicht funktioniert er doch, der Weg, den Andreas Homoki für seine Inszenierung von Richard Wagners «Ring des Nibelungen» am Opernhaus Zürich eingeschlagen hat. Nicht ein weiterer Deutungsversuch der Tetralogie, nicht eine neuerliche Transposition der Geschichte in eine Lebenswelt, die uns näher scheint als jene der Vorlage, auch nicht der Ersatz der von Wagner erfundenen Metaphern durch solche aus der Hand des Regisseurs soll auf die Bühne gebracht werden. Im Vordergrund soll die Sache selbst stehen, ja die Sache allein, nämlich der Text und seine Spiegelung in der Musik – das ist die Ambition im neuen Zürcher «Ring». Ein werkimmanenter Zugang also. Er mag altväterische Züge tragen, ja geradezu aus der Zeit gefallen sein, jedenfalls im Widerspruch stehen zu der dominierenden rezeptionsgeschichtlichen Tendenz. Er mag sogar aufrichtig unmodern sein in dieser Zeit, da auf den Bühnen, zumal jenen des Sprechtheaters, das Dekonstruieren und das Überschreiben um sich greift – all das mag sein. Aber: Er überzeugt. In der «Walküre» wirkt Homokis scheinbar retrospektiver, in Wirklichkeit aber revolutionärer Zugang klar, anregend und ausgesprochen berührend.
Die von Christian Schmidt entworfene Ausstattung geht vom gleichen Muster aus wie im «Rheingold». Auf den beiden Seiten einer Trennwand stellt die Drehbühne zwei Spielorte zur Verfügung, die Flexibilität und Wandelbarkeit ermöglichen. In ihrer Anmutung sind sie erkennbar in der Entstehungszeit der Tetralogie verankert. Was es zur Entfaltung der Geschichte braucht, ist vorhanden; der Stamm in der Behausung Hundings fehlt ebenso wenig wie der herrschaftliche Salon für den Disput um Ehre und Ehe, wie der Wald für den entscheidenden Kampf oder der Fels, auf dem in Tiefschlaf gefallen werden kann. Wichtiger, ja entscheidend ist die Schärfe, in welcher der Regisseur zusammen mit den Darstellerinnen und Darstellern die einzelnen Figuren zeichnet – hinreissend ist das. Massgebliche Unterstützung kommt dabei aus dem Graben, wo die Philharmonia unter der Leitung von Gianandrea Noseda für schlanken und farbenreichen, ausgezeichnet modellierten, auch emphatischen Klang sorgt. Der Dirigent wandelt auf denselben Pfaden wie der Regisseur; auch Noseda, er hat die Partitur übrigens ausgezeichnet im Griff, wird konkret. Hell leuchtet der musikalische Satz, die Leitmotive treten markant heraus, und dass die Tuba die Kontrabässe so oft unterstützt, versteckt der Dirigent keineswegs – wie er überhaupt der orchestralen Muskelspannung nichts schuldig bleibt.
Auf dieser Basis wird fassbar, dass es in der «Walküre» nicht so sehr um Brünnhilde geht als vielmehr um Wotan – und seinen selbstverschuldeten Fall. Das wird gleich zu Beginn angelegt, wo sich Wotan als unsichtbarer Spielleiter geriert, der die Szene arrangiert hat und das Heft noch voll in der Hand hält. Stösst er seinen Speer in den Boden, erklingt bedrohlicher Donner; benötigt Sieglinde ein Glas Wasser, ist er damit zur Stelle. Und später erscheint er persönlich bei Hunding zuhause, um das Siegmund versprochene Schwert in den Stamm zu stossen – Homoki setzt hier in Theater um, was Wagner mit seinen instrumentalen Anspielungen tut. Zugleich deutet sich an, in welchem Mass die Frauen die Feder führen. Sieglinde (Daniela Köhler bringt ein herrlich ausgebautes Timbre ins Spiel) erkennt ihren Bruder auf Anhieb, das lässt ihr Mienenspiel erkennen, das zeigt aber auch ihr Verhalten: Wie im Orchester das Schwertmotiv erklingt, küsst sie den verdutzten Besucher auf den Mund – das ist Musiktheater. So plausibel es wirkt, es nimmt der erotisch aufgeladenen Begegnung zwischen den Geschwistern doch ein wenig das Feuer. Obwohl ihn Eric Cutler als Siegmund untadelig besingt, kann der Lenz stürmischer wirken, als es hier geschieht. Erfrischend gelingt die Szene gleichwohl, zumal Christof Fischesser zwar als ein veritabler Herr der Hunde erscheint, dabei aber weniger einen ungehobelten als einen aufrecht in sich ruhenden, selbstgewissen Hunding gibt.
In der Folge geht es rasant bergab mit Wotan. Fricka (Patricia Bardon) liest ihrem Gatten derart scharf die Leviten, dass er sich förmlich aufbäumt. Deutlich wird da, welch grossartiges Rollenporträt Tomasz Konieczny in dieser Produktion gelingt. Virtuos dreht und wendet er den Speer, den er später, das ist nur logisch, eigenhändig in Siegmunds Leib stösst. Und brillant – auch vokal, mit seiner Strahlkraft, mit seiner genüsslich auskostenden Diktion – verkörpert er seine Seelenzustände. Schon merklich geknickt, wenn auch noch immer herrisch, erklärt der Göttervater seiner Wunschmaid den von der Gattin aufgezwungenen Plan. Brünnhilde aber – Camilla Nylund zeigt und singt es bezwingend – ist von Anfang an reine Liebe, innig verbunden mit dem Vater und dann entzündet durch die Unbedingtheit der Liebe Siegmunds; darum erfüllt sie nicht den Befehl, wohl aber den Wunsch Wotans und wird sie zu einer Zukunftsfigur. Bewegend der Abschied des Vaters von seiner Tochter – nicht zuletzt darum, weil die Inszenierung offenkundig macht, dass sich Wotan in diesem Moment auch von einem Teil seiner selbst zu lösen hat. Wenn der Feuerzauber ausklingt, geht der Gott in den Feierabend. Seinen Speer lässt er stehen.
Die Zürcher Bühne für «Iphigénie en Tauride» / Bild Monika Rittershaus, Opernhaus Zürich
Dass der Abend so spannend und so berührend würde, es war in keiner Weise zu erwarten. Mit seiner Opernreform aus den Jahren nach 1760 hat Christoph Willibald Gluck Geschichte geschrieben, von seinen fünfzig Opern werden aber nur noch wenige gespielt – die «edle Einfachheit», die Gluck propagiert hatte, wurde rasch zum Ausgangspunkt weiterer Entwicklungen und trägt heute Züge des Verstaubten. Allein, das muss nicht sein. Wird die Musik Glucks nicht im romantischen Dauerlegato, sondern mit den Mitteln seiner Zeit zu Klang gebracht, offenbart sie Reize sonder Zahl. Das erweist «Iphigénie en Tauride», die Tragédie Glucks von 1779, in der neuen Produktion der Zürcher Oper. Mit La Scintilla kommt dort das hauseigene Barockorchester zu Zug, das sich im Bereich der historisch informierten Aufführungspraxis mit eigener Brillanz bewegt. Und mit Gianluca Capuano ist ein Dirigent am Werk, der sich in den Praktiken des 18. Jahrhunderts profund auskennt und sie äusserst phantasievoll einsetzt. Der tiefe Stimmton von 415 Hertz erleichtert nicht nur den Sängern das Leben, er fördert auch eine Sonorität von kerniger, federnder Opulenz. Sie wird noch dadurch unterstrichen, dass die Streicher vielgestaltig und temperamentvoll artikulieren – und dabei das Geräusch beim Anstrich nicht scheuen, auch pointiert das Bogenvibrato einsetzen und im Bedarfsfall explizit mit dem Holz statt mit den Haaren spielen. Die Bläser wiederum, sie tragen mit leuchtenden Farbakzenten zum lebendigen Klangbild bei.
Keine Spur also von jener trägen Erhabenheit, mit der man in früheren Zeiten die neuartige, gegen die vokalen Exzesse der späten Opera seria gerichteten Musiksprache Glucks verwechselt hat. Vielmehr schafft, was aus dem Orchestergraben kommt, eine belebte, hier zärtliche, dort aufschäumende Basis für das ausnehmend schön zusammengestellte Ensemble mehrheitlich aus dem Kreis der französischen Gesangskultur. Die Ausnahme stellt Cecilia Bartoli dar – die sich das spezifische Idiom jedoch längst zu eigen gemacht hat. Vorbildlich die Diktion, grandios die Technik ganz allgemein, unverbraucht Ansatz und Führung ihrer nun doch reifen Stimme. Und einzigartig die Bühnenpräsenz. Wie sie als Iphigénie, von Diane zu ihrer Priesterin gemacht, vor der quälenden Frage steht, welchen der beiden Männer vor ihr, den noch nicht wirklich erkannten Bruder Oreste oder dessen Freunde Pylade, sie nun töten und welchen sie freilassen soll, erzeugt sie, langsam auf die schreckensstarr wartenden Opfer zugehend, eine Spannung von unerhörter Kraft. Ihrer stimmlichen wie szenischen Ausstrahlung ist zu verdanken, dass die Figur der jungen Priesterin, der eine unmenschliche Aufgabe übertragen ist, dem Zuhörer, der Zuschauerin als eine Frau erscheint, die aus ihrem Inneren den Mut und die Kraft schöpft, den auf ihrer Familie liegenden Fluch zu bannen. Mit dem fulminanten Bariton Stéphane Degout (Oreste) und dem wunderbar geschmeidigen Tenor Frédéric Antoun (Pylade) stehen ihr Darsteller zur Seite, die das Niveau der Protagonistin ohne Einschränkung und in je eigener Ausprägung zu halten vermögen. Den bösen König Thoas gibt Jean-François Lapointe als polternden Wüterich, während Brigitte Christensen, die in späteren Vorstellungen Cecilia Bartoli vertreten soll, als Diane das lieto fine einleitet.
Schade nur, dass oft so dröhnend gesungen wird, als handelte es sich um Verdi oder Wagner. Es mag damit zusammenhängen, dass der Zürcher Hausherr Andreas Homoki als Regisseur das Geschehen ganz von den Individuen auf der Bühne her ausgestaltet und diese Figuren mit bebender, vibrierender Emotionalität auflädt – dies im Bestreben, den innovativen Theaterbegriff Glucks auch szenisch erfahrbar werden zu lassen. In der Tat bietet die Bühne von Michael Levine nichts als einen leeren, schwarzen Raum, der sich nach dem Hintergrund zu verjüngt. Er erinnert ein wenig an den Balg der ersten Fotoapparate, denn immer wieder setzen sich die Wände dieses Schicksalskellers in Bewegung. Den rächenden Blitzen gemäß, von denen zu Beginn der Oper Glucks die Rede ist, öffnen sich gezackte Schlitze, durch die der Lichtdesigner Franck Evin für kurze Phasen helle Strahlen von aussen eindringen lässt. Sehr effektvoll ist das in seiner reduzierten Anlage – wiewohl nicht ganz neu: Auch Barrie Kosky hat seinen Zürcher «Macbeth» 2016 fast ganz im Dunkeln spielen lassen. Allerdings nicht mit den prachtvollen barockisierenden Kostümen, auf die der Ausstatter setzt. In ihrer farblichen Anlage sorgen sie dafür, dass die rabenschwarze Gegenwart von der hellen Erinnerung an die Vergangenheit klar getrennt ist, dass andererseits die vom Regisseur eingeführte stumme Rahmenhandlung, die den Mythos von der über Generationen währenden Schuld in Kurzfassung präsent werden lässt, eindringlich fassbar wird.
«Hippolyte et Aricie» von Jean-Philippe Rameau im Opernhaus Zürich
Von Peter Hagmann
Abendessen chez Thésée / Bild Toni Suter, Opernhaus Zürich
Die ausladenden Reifröcke des Kostümbildners Gideon Davey und die turmhohen Perücken, sie erinnern in zweierlei Art an eine Vergangenheit. Zum einen an das Vorgestern vom 1. Oktober 1733, an dem «Hippolyte et Aricie», die erste Tragédie en musique des damals bereits fünfzig Jahre alten Komponisten Jean-Philippe Rameau, an der Königlichen Oper Paris aus der Taufe gehoben – und eine neue Seite in der Geschichte der französischen Musiktheaters aufgeschlagen wurde. Und zum anderen an das Gestern der Jahre nach 1975, als Nikolaus Harnoncourt in Zürich die Opern Claudio Monteverdis wieder ans Licht holte. Jean-Pierre Ponnelle, der ihm vom damaligen Opernhaus-Direktor Claus Helmut Drese an die Seite gestellte Bühnenkünstler, hatte in seinen Kostümentwürfen eine ähnliche Handschrift der barocken Adelsmode gepflegt. Dazu kamen, als ein weiteres hauseigenes Zitat, jene in der Zeit des Kerzenlichts üblichen Leuchter zum Einsatz, die Muscheln nachgebildet und am Bühnenrand aufgestellt sind. In Rameaus Oper beleuchteten sie eine aufwendig improvisierte Balletteinlage (Choreographie: Kinsun Chan), die mit zum dramatischen Umschlag des Geschehens beiträgt.
Dass sich die von Jetske Mijnssen geleitete Inszenierung von «Hippolyte et Aricie» solcher in die Vergangenheit weisender Zeichen bedient, hat seine Logik. Die Produktion steht so dazu, dass es sich bei der Oper Rameaus um einen Stoff handelt, der inhaltlich wie formal aus weit entlegener Vergangenheit stammt. Für sein Textbuch hat sich der kundige Librettist Simon-Joseph Pellegrin auf die Tragödie «Phèdre» von Jean Racine gestützt, der seinerseits Vorlagen von Euripides und Seneca beigezogen hat. Eine dem antiken Mythos entstammende Götter- und Menschengeschichte wird hier verhandelt – genau das nimmt die wunderschön klassizistische Säulenhalle auf, die der Bühnenbildner Ben Bauer auf die Drehbühne des Zürcher Opernhauses gestellt hat. In ihrer formvollendeten Strenge deutet sie auch an, worum es im Musiktheater Rameaus geht. Anders als sein grosser Vorgänger Jean-Baptiste Lully ging Rameau vom Text als dem Zentrum seines Bühnenschaffens aus. Das Wort bot ihm nicht Anlass für Musik, es bildete vielmehr ihren Kern – indem es durch die Vertonung zu einer Prägnanz eigener Art finden sollte.
Es tat das in einer Musik, die sich ihrerseits geradezu spartanisch gibt. Sie lebt eher vom rezitativischen Gesang und vom generalbassbegleiteten Streicherklang als von der brillanten Arie und den grossen Nummern in farbenprächtiger Instrumentalisierung. Hie und da treten die dunkel timbrierten, kehlig klingenden Traversflöten dazu, ganz selten, dann aber effektvoll, zudem Fagotte, Oboen und Hörner oder eine Trompete mit Pauken. Im Mittelpunkt steht jedoch die Prosodie, die Aussprache des Textes, an der sich die Formung der Gesangslinie zu orientieren hat. Wie mit all dem in dieser Produktion von «Hippolyte et Aricie» umgegangen wird, steht ganz auf der Höhe der Zeit; es zeugt von Bewusstsein, Wissen und Können. Kein Wunder, ist doch die von Nikolaus Harnoncourt begründete Tradition der Auseinandersetzung mit der Alten Oper im Geist der historisch informierten Aufführungspraxis am Zürcher Haus über all die Jahrzehnte hinweg gepflegt und weiterentwickelt worden. In Emmanuelle Haïm, der Dirigentin des Abends, hat sie eine beredte Anwältin gefunden.
Und eine temperamentvolle dazu. Prachtvoll lässt sie das Potential des hauseigenen Barockorchesters La Scintilla zur Geltung kommen, und sie münzt es um eine musikalische Vitalität von geradezu berauschender Wirkung. Ausserdem in eine Gegenwärtigkeit sondergleichen – im Emotionalen ohnehin, aber auch im Stilistischen. Das noch von der ehemaligen Operndirektorin Sophie de Lint, der heutigen Intendantin der Niederländischen Oper Amsterdam, zusammengestellte Ensemble lässt in weiten Teilen erkennen, dass die historische Praxis längst auch im vokalen Bereich Fuss gefasst hat. Cyrille Dubois (Hippolyte) mit seinem hohen strahlkräftigen Tenor, Mélissa Petit (Aricie) mit ihrem leichten, glanzvollen Sopran, Stéphanie d’Oustrac (Phèdre) mit ihrer geschmeidig wandelbaren Stimme, ihrer grossartigen Diktion und ihrer unerhörten szenischen Präsenz – sie alle setzen das Vibrato in effektvoller Nuancierung ein, spitzen die Dissonanzen zu und meistern die geforderten Verzierungen virtuos. Zusammen mit dem zupackenden, auch agilen Spiel der Scintilla verschafft das der anspruchsvollen, weil harmonisch avancierten Musik Rameaus eine unmittelbare Sinnlichkeit. Umso eigenartiger, dass sich der Zürcher Opernchor auch unter seinem neuen Leiter Janko Kastelic der hier verfolgten stilistischen Ausrichtung verschliesst und mit dem starken Vibrieren in den Frauenstimmen an klanglicher Homogenität zu wünschen übrig lässt.
Ein altes Stück ist «Hippolyte et Aricie», ja, aber eines das von heute und für heute spricht. Auch und gerade im Szenischen. Es erweist sich schon in der Ouvertüre, wo die Wurzel des Konflikts, wie ihn Jetske Mijnssen in ihrer kreativen szenischen Interpretation sieht, freigelegt wird. Phèdre begehrt ihren Stiefsohn Hippolyte und bekämpft eifersüchtig dessen Geliebte Aricie, weil ihr Mann Thésée (Edwin Crossley-Mercer) sie vernachlässigt; er tut das, weil er einen Geliebten hat, den er der Gattin vorzieht, ja dem er sogar in den Hades folgt, von wo er jedoch zu allgemeiner Überraschung wieder zurückkehrt. Alle Figuren versuchen, in der starren Ordnung der höfischen Hierarchie ihren Gefühlen Raum zu verschaffen – nicht zuletzt Phèdre, die von ihrer Amme Œnone (Aurélia Legay) dazu angestachelt wird. Kontrolliert werden sie dabei von Göttern, die sich unter die Menschen gemischt haben, von Neptune (Wenwei Zhang) und Diane (Hamida Kristoffersen), vor allem aber von drei Parzen (hervorragend Nicholas Scott, Spencer Lang und Alexander Kiechle), die als schwarzgewandete Mönche die geltenden Regeln brutal durchsetzen. Die Sympathien der Regisseurin liegen eindeutig bei den beiden jungen Liebenden, bei ihrer Spontaneität und Aufrichtigkeit. Wie es mit ihnen nach dem glücklichen Ausgang weitergehen wird, weiss man allerdings nicht; die Inszenierung setzt dazu ein kleines Fragezeichen.
Das alles wird von der Personenführung her in grossartiger Unmittelbarkeit zur Darstellung gebracht – wie überhaupt die Emotionalität des Geschehens immer wieder direkt in szenische Aktionen umgesetzt wird. Dazu kommt nun aber jenes Wunderbare, le Merveilleux, das die Rationalität der Worte übersteigen und die Tragédie en musique vom Sprechtheater ihrer Zeit abheben soll. Es findet auf der Zürcher Bühne zu spektakulärer Verwirklichung. Wenn Thésée zu ewigem Aufenthalt in dem von Totenvögeln bewohnten Hades verurteilt wird, zieht Pluton wie ein Wotan avant la lettre einen Feuerkreis um sein Opfer. Kommt der solcherart Gefangene dank der Hilfe seines Vaters Neptune doch wieder nach Hause, findet er dort die Hölle in Form brennender Sitzgelegenheiten vor. Und gegen das Ende hin wird der arme Hippolyte nicht von einem Ungeheuer aufgefressen, sondern auf einem in Flammen aufgehenden Scheiterhaufen verbrannt. Auch musikalisch wird das Wunderbare gespiegelt, einerseits durch den prägnanten Einsatz der Blasinstrumente, andererseits durch die lustvolle Verwendung von Perkussion bis hin zu Kastagnetten – dies im Geiste William Christies, einem der Lehrmeister der Dirigentin Emmanuelle Haïm. Jean-Philippe Rameau, bis heute verkannt, wird an diesem beispielhaften Opernabend alle Ehre angetan.
Die Mezzosopranistin Stéphanie d’Oustrac ist nicht nur, wie sie in «Hippolyte et Aricie» beweist, eine Tragödin ersten Ranges, sie kennt sich auch in anderen Fächern aus. Davon zeugt eine CD, die sie 2018 unter dem Titel «Sirènes» für Harmonia mundi aufgenommen hat. Zusammen mit dem Pianisten Pascal Jourdan bringt sie dort Werke von Hector Berlioz (Les Nuits d’été), Franz Liszt, Richard Wagner (Wesendonck-Lieder) zum Leuchten.
Am Ende: Phèdre (Stéphanie d’Oustrac) und Thésée (Edwin Crossley-Mercer) / Bild Toni Suter, Opernhaus Zürich
Bachs Brandenburgische Konzerte mit La Scintilla im Opernhaus Zürich
Von Peter Hagmann
Anfangs wollte nicht alles gelingen. Im ersten der sechs Brandenburgischen Konzerte Johann Sebastian Bachs, das diesen insgesamt hinreissenden Auftritt der Scintilla auf dem zugedeckten Orchestergraben im Opernhaus Zürich eröffnete, ging den beiden Hornisten manches daneben. Das Naturhorn zu bändigen ist anspruchsvoll, aber so viel Schräges muss nicht sein. Schief war auch die klangliche Balance, denn zusammen mit den drei sonoren Oboen dominierten die zwei Hörner den Gesamtklang restlos – der Violino piccolo und die so gut wie solistisch besetzte Streichergruppe hatten da nicht viel zu melden. Die Probleme setzten sich ins zweite Konzert fort, wo die äusserst engagiert gespielte Blockflöte durch die zwar historische, aber doch sehr präsente Trompete ins Hintertreffen versetzt wurde. Eine andere Welt tat sich im dritten, dem mit je drei Geigen, Bratschen, Celli und Continuo besetzten Konzert auf. Da konnte man sich voll einlassen – zum Beispiel auf die reichhaltig gestaltete Artikulation, die, wie es in der historisch informierten Aufführungspraxis inzwischen üblich ist, auch dem Legato wieder seinen Raum liess. Fragwürdig nur, dass das Adagio des zweiten Satzes, von dem bloss zwei Akkorde in halben Noten notiert sind, nicht durch eine improvisierte Kadenz bereichert wurde. Sie wäre an dieser Stelle zweifellos fällig gewesen – und ebenso zweifellos wäre der Geiger Riccardo Minasi, seit dieser Saison sozusagen als Chefdirigent des an der Zürcher Oper wirkenden Barockorchesters tätig, in der Lage gewesen, sie auszuführen. Etwas ernüchtert ging man die Pause.
Um danach gleich in der angenehmsten Weise aufgeweckt zu werden. Im vierten Konzert wirkten Minasi, nun an einer Violine in normaler Grösse, sowie die beiden wunderbaren Blockflötistinnen Martina Joos und Sibylle Kunz in animierter Spielfreude mit den Streichern und dem Continuo zusammen. Noch und noch gab es Überraschungen im Wechsel zwischen gestossenem und gebundenem Spiel, auch durch Verzögerungen und Beschleunigungen. Herrlich ausgeglichen zudem der Klang. Und was der Bassist Dariusz Mizera mit ebenso tragendem wie elegant springendem Untergrund betrug, war köstlich. Danach aber, im fünften Konzert, jenem im D-Dur für Traversflöte, Violine, Cembalo und Streicher, brach ein Feuerwerk aus, wie es nur alle Schaltjahre vorkommt. Sensibel trat Maria Goldschmidt mit ihrem gehauchten Flötenton in Erscheinung, als leitender Geiger brachte Riccardo Minasi sein lebendiges Temperament ein – und vor allem war da der Cembalist Mahan Esfahani. Artig, aber doch auch schon ziemlich besonders trug er zum Basso continuo bei, doch als er im Kopfsatz zu seiner wirbelnden, blitzenden Kadenz kam, legte er alle Zurückhaltung ab. In trockenem Non-Legato perlten die Läufe, sinnliches Über-Legato schuf Klangräume, als ob sein Cembalo ähnlich dem Klavier über ein Pedal verfügte, während der effektvolle Einsatz der beiden Manuale zu einer dynamischen Steigerung führte, die einer Orgel würdig schien. Fulminant schloss er ab – worauf wie im Jazzkonzert spontaner Zwischenapplaus ausbrach und es nach dem Satzende fast nicht weitergehen konnte. Sehr zart danach der Mittelsatz, der von geschmackvollem Jeu inégal getragen war – man konnte in diesem Brandenburgischen Konzert die ganze wiederauferstandene Kunst des Cembalospiels kennenlernen. Mit seinen zwei solistisch eingesetzten Bratschen brachte dann das sechste, wiederum von Streichern geprägte Konzert einen beschwingten Abschluss.
Zwanzig Jahre alt, scheint La Scintilla, eines der Alleinstellungsmerkmale des Opernhauses Zürich, bestens unterwegs. Beim Hinausgehen dachte ich, von denen würde ich mir sogar die «Vier Jahreszeiten» Antonio Vivaldi schenken lassen. Der Wunsch wird erfüllt, im nächsten Konzert gibt es vier Jahreszeiten: solche von Vivaldi und solche von – Verdi.
Schwieriger Moment für die Geisha Cio-Cio-San (Svetlana Aksenova), den Diplomaten Sharpless (Brian Mulligan) und die Dienerin Suzuki (Judith Schmid) / Bild Toni Suter, Opernhaus Zürich
Leer die Bühne und hell, von weissen Stoffwänden eingefasst. Zwar werden nach und nach altbürgerliche, dunkelbraune Holzmöbel massiver Faktur hereingetragen, dennoch bleibt dem japanischen Salon, den Michael Levine auf die Bühne des Opernhauses Zürich gezaubert hat, viel lichter Raum. Dezent aufgetragen ist die couleur locale; sie beschränkt sich auf die authentisch wirkenden Kostüme, in denen Annemarie Woods den Gegensatz zwischen Ost und West scharf herausstellt, auf die Frisuren und die Maske. Besonders aber auf die Körpersprache: auf das Trippeln der Japanerinnen und den schweren Schritt der Amerikaner. Fein wie mit dem Silberstift ist das Szenario angedeutet, das Drama selbst ergibt sich ganz aus dem Musikalischen und der Körpersprache – wobei das Agieren nicht zuletzt unter dem Einfluss der Choreographin Sonoko Kamimura-Ostern kühl zeremoniell gehalten ist. In ihren Ansätzen stellt sich die brillante Inszenierung des Amerikaners Ted Huffman durchaus in die Nachfolge Robert Wilsons.
So tritt denn der zugespitzte Spannungsverlauf in «Madama Butterfly» mit voller Wucht zutage. In der neuen Produktion des Opernhauses Zürich wird die Begegnung mit dem grandiosen Stück Giacomo Puccinis zu einem bewegenden Ereignis. Seinen Grund findet das schon darin, dass in dieser Auslegung zwei kleinere Partien ganz entschieden aufgewertet werden. Das betrifft zunächst Suzuki, die Dienerin der jungen Geisha Cio-Cio-San, die nicht nur als Spiegel und Resonanzkörper in Erscheinung tritt, sondern als aktiv Mitleidende – ihr warmer, strahlkräftiger Mezzosopran und ihre enorme Bühnenpräsenz ermöglichen das. Von einer zudienenden zu einer mitgestaltenden Figur wird aber auch der amerikanische Diplomat Sharpless, der, in Japan stationiert, die Zeichen zu lesen weiss und das Unheil von allem Anfang an kommen sieht: eindringlich, wie Brian Mulligan die Hilflosigkeit dieses an sich aufrechten Mannes verkörpert.
Pinkerton dagegen, der nach Japan entsandte Leutnant der amerikanischen Navy, er ist und bleibt der Widerling, als den ihn «Madama Butterfly» zeigt. Er sieht in Cio-Cio-San das Früchtchen, das er haben muss, er lässt zu diesem Zweck den Zuhälter Goro (Martin Zysset in einem ausgezeichneten Auftritt) eine fingierte Hochzeit inszenieren, und er kommt schliesslich zusammen mit seiner legitimen Gattin (Natalia Tanasii) den aus der Liebesnacht entsprungenen Sohn nach Amerika holen – in scharfer Zeichnung und stimmlich brillant bringt der Tenor Saimir Pirgu diese Figur zum Leben. Wenn am Ende die Erinnerung an die japanische Liebe durchbricht, ist es zu spät: In einem Theatercoup von fürchterlicher Wirkung durchschneidet sich Cio-Cio-San genau in dem Moment die Kehle, da der jahrelang erwartete Geliebte vor sie tritt.
Das drei Jahre dauernde Warten, das sich zwischen den beiden Akten des Stücks ereignet und zu Beginn des zweiten Aufzugs in einem ausgedehnten orchestrale Zwischenspiel kulminiert, es findet an diesem Abend seine besondere Erfüllung. Denn unter der Leitung des jungen Italieners Daniele Rustioni spielt die Zürcher Philharmonia ihre Stärken aus. Ohne die Balance zu gefährden, lässt der Dirigent den sinfonischen Anspruch der Partitur und den phantasievollen Umgang Puccinis mit fernöstlichen Idiomen erkennen. Als Cio-Cio-San hält Svetlana Aksenova, eine Spezialistin für diese Partie, den instrumentalen Wogen blendend stand. Vor allem aber bringt sie eine Glaubwürdigkeit ins Spiel, welche die bodenlose Verzweiflung dieser jungen Frau zu einem kathartischen Moment werden lässt.
«Eugen Onegin» von Peter Tschaikowsky zur Saisoneröffnung am Opernhaus Zürich
Von Peter Hagmann
Am Ende: Peter Mattei (Onegin) Und Olga Bezsmertna (Tatjana) aif der Zürcher Opernbühne / Bild Monika Rittershaus, Opernhaus Zürich
Was für ein unglaublich gutes Stück – das darf an dieser Stelle zuallererst festgehalten werden. Die Geschichte um den schon etwas in die Jahre gekommenen, ortlosen Onegin, einen Vertreter der obersten Gesellschaftsschicht im zaristischen Russland, und die junge, schwärmerisch veranlagte, in die Welt der Bücher versunkene Tatjana, die beide einander je zum falschen Zeitpunkt begehren, könnte spannender nicht ausfallen – dass «Eugen Onegin» in einer Gegenwart des ausgehenden 19. Jahrhunderts lebt, spielt da absolut keine Rolle. Und die Musik von Peter Tschaikowsky, die in aufgeklärten Kreisen über Jahrzehnte hinweg nur hinter vorgehaltener Hand geschätzt werden durfte, sie zieht die Zuhörerin und erst recht den Zuhörer machtvoll mit sich, aus dem Hic et Nunc des Alltags in ihre ganz eigene Welt, wo sich das eine mit staunenswerter Folgerichtigkeit aus dem anderen ergibt.
Jedenfalls dann, wenn einer den Taktstock führt, der mit den gedruckten Noten etwas anzufangen weiss – und genau da liegt das Problem der Eröffnungspremiere zur Saison 2017/18 am Opernhaus Zürich. Hölzern klingt die Philharmonia, einförmig in der Attacke, grobkörnig im Farbenspiel und unbelebt in den herrlichen Bögen, welche die Partitur spannt. Schon das Duett zwischen Tatjana (Olga Bezsmertna) und ihrer Schwester Olga (Ksenia Dudnikova), das den Abend eröffnet: vollkommen verschenkt. Die beiden Sängerinnen sind durch die Inszenierung unsichtbar in die Tiefe der Bühne verbannt und gehen in den Wogen des Instrumentalen unter – niemand hat hier Einspruch erhoben gegen diese unsinnige, weil unmusikalische szenische Idee, deren fatale Wirkung noch dadurch verstärkt wird, dass im Vordergrund lebhaftestes Gestikulieren die Aufmerksamkeit auf sich zieht. Und wie es nicht selten geschieht, ist auch in dieser Aufführung die tiefere Stimme der Olga gegenüber der höheren der Tatjana dynamisch zurückgebunden, so dass die Terz- und Sextparallelen, die so erregend klingen können, in Schieflage geraten – niemand hat hier zugehört und sich für die notwendige Balance stark gemacht.
Dabei wäre das zum Beispiel die Aufgabe von Stanislav Kochanovsky gewesen. Mit dem jungen, in Sachen «Eugen Onegin» aber keinesfalls unerfahrenen Dirigenten aus der ehrwürdigen Musikstadt St. Petersburg erreicht die Philharmonia bestenfalls mittleres Niveau, und so misslingt leider auch die Briefszene Tatjanas, der Ausgangs- und Mittelpunkt der Oper Tschaikowskys. Fragmentiert erscheint sie, ja zerstückelt, Kochanovsky vermag die Sache nicht zusammenzuhalten. Olga Bezsmertna wiederum, die über eine jugendliche, helle Stimme verfügt, sie möchte sich hingeben an diesen grossen Moment und gestalterisch wirksam werden, das ist sehr wohl zu spüren. Aus dem Orchestergraben erhält sie aber vorab mausgraues Mezzoforte; viel zu wenig ist im Instrumentalen ausgeformt, was der Notentext suggeriert. Und ist es tatsächlich sinnstifend, wenn die Sängerin wichtige Teile der Arie mit dem Rücken zum Publikum und mit dem Kopf im Dunkeln ausserhalb eines Lichtkegels singt? Auch da hätte jemand eine Frage stellen können. Schliesslich: die Walzer. Plump klingen sie, sowohl beim ländlichen Fest der Larins als auch beim vornehmen Ball des Fürsten Gremin. Und das bei einem Komponisten, der wie kein zweiter ausserhalb der Donaumetropole energiegeladene und elegante Walzer zu Papier zu bringen verstand.
Als die Gutsbesitzerin Larina macht Liliana Nikiteanu das Beste aus der Lage, Martin Zysset gibt das Couplet des Franzosen Triquet verdienstvollerweise nicht als Knallnummer, sondern gepflegt, wohingegen Margerita Nekrasova als die Amme Filipjewna doch zu arg chargiert. Immerhin gibt es noch die Herren der Schöpfung, an die kann man sich halten. Christoph Fischesser ist ein stimmlich nobler, in seiner emotionalen Ausstrahlung äusserts berührender Fürst Gremin; dass Tatjana, inzwischen Fürstin, diesem Mann die Treue hält, hat nicht oder wenigstens nicht nur mit der materiellen Sicherheit im Hause Gremin zu tun – Fischesser vermittelt das eindrucksvoll. Pavol Breslik dagegen ist, seinem untadeligen Tenor zum Trotz, der Verlierer vom Dienst. Das liegt an der Partie des Lenski, die man nun einmal von Anbeginn an aus dem Wissen um den weiteren Verlauf heraus wahrnimmt. Man kann sie nicht recht glauben, die stürmische Hinwendung zu der sprunghaften Olga; den Zusammenbruch vor dem Duell mit seinem Freund macht Breslik aber zu einem Glanzpunkt des Abends.
Der Freund, das ist Onegin – und das ist Peter Mattei. Was für eine sagenhafte Entwicklung hat dieser Sänger durchlaufen. Seinem Don Giovanni 1998 in Aix-en-Provence schienen noch die Kanten zu fehlen, der Bariton klang weich und wolkig. Das ist Vergangenheit. Funkelndes Metall bildet inzwischen das Zentrum seines Timbres, eine grandiose Farbenpalette kleidet diesen Kern ein, und dazu kommt eine Diktion, die auf das Raffinierteste mit den Vokalen und Konsonanten arbeitet. Und dann die Vergegenwärtigung auf der Bühne. Unglaublich zunächst, wie blasiert Onegin, der gelangweilte Egozentriker, seiner Umgebung begegnet; von packender Dramatik dann der plötzliche Umschlag im dritten Akt, die Menschwerdung, die so tragisch in die Sackgasse führt. Im Vergleich zum Onegin, den Mattei 2007 mit Andrea Breth bei den Salzburger Festspielen entwickelt hat, wirkt der Auftritt in dieser Zürcher Produktion noch einmal um mehreres perfektioniert – grossartig ist das.
Ohne Zweifel geht der Eindruck, den der Sänger-Darsteller hinterlässt, auch auf die Inszenierung von Barrie Kosky zurück. Anfangs fragt man sich, ob der Überrealismus des dunkelgrünen Gartens, der an die in Luzern gezeigten Gemälde des Schweizer Malers Robert Zünd erinnern, wörtlich zu nehmen sei – die sprechenden Kostüme von Klaus Bruns legen es nahe. Je weiter der Abend voranschreitet, desto deutlicher wird aber der interpretierende Ansatz, der «Eugen Onegin» möglicherweise als eine Projektion Tatjanas, als eine aus der Vertiefung in die Lektüre gewonnene Einbildung der jungen Frau zeigen möchte. Alle Szenen spielen in diesem von hohen Bäumen umgebenen und von krautigem Gras bedeckten Garten, wie ihn die Bühnenbildnerin Rebecca Ringst entworfen hat – sogar der Ball im Palast des Fürsten Gremin, für den würdige Kulissen aufgebaut und vor dem Finale wieder händisch abgetragen werden (was man nicht ohne zirzensische Spannung verfolgt). Und wie das eröffnende Duett spielt sich das entscheidende Duell zwischen Lenski und Onegin im Off ab – ein Hinweis auf szenisches Strukturdenken, das der Arbeits Tschaikowskys mit Leitmotiven entspricht. An den «Macbeth» vom Frühjahr 2016 kommt die Arbeit nicht heran, das ist auch nicht ganz einfach. Wer mag, kann sich aber auch bei dem aus der Komischen Oper Berlin übernommenen Zürcher «Eugen Onegin» an einer von unzähligen Ideen sprudelnden, witzig verspielten Theaterlust freuen – wie sie bei Barrie Kosky nun mal Sitte ist.
Lange Zeit würden wir uns das nicht mehr leisten können, meinte hinter vorgehaltener Hand ein prominenter Vertreter des Schweizer Wirtschaftsliberalismus. Er spielte an auf die föderalistisch geprägte Vielfalt der hiesigen Kulturszene: auf die elf professionellen Sinfonieorchester, deren Wirkungskreise wie im Fall von Bern und Biel nur wenige Kilometer Luftlinie voneinander entfernt sind, und die acht Theater mit eigenem Ensemble, die Opern auf dem Spielplan haben. Das ist tatsächlich imposant, doch darf nicht übersehen werden, dass jede dieser Institutionen über eine starke, von der jeweils lokalen Bevölkerung ausdrücklich mitgetragene und mitgeprägte Identität verfügt. Mitte September, wenn die Theater nach der sommerlichen Spielpause ihre Pforten wieder öffnen, wird ausserdem deutlich, wie sehr sich die einzelnen Häuser voneinander unterscheiden. Es öffnet sich da eine Landschaft, deren Vielgestaltigkeit dem Reichtum der Kunst entspricht und deren Lebendigkeit all jene Pessimisten ins Unrecht setzt, die den baldigen Tod der klassischen Musik, somit auch des Musiktheaters voraussehen – beziehungsweise herbeiwünschen.
Im Holzhaus: «Manon»
Zwei der acht Schweizer Musiktheater sind derzeit besonders gefordert. Noch bis gegen Ende Jahr bleibt das Stadttheater Bern für Renovationsarbeiten geschlossen, das von Stephan Märki geführte Konzert-Theater Bern hat für seine dramatische Abteilung deshalb unweit vom Bundeshaus einen hölzernen Kubus errichten lassen und bespielt ihn mit einem speziellen, eigens für diesen ungewohnten Ort konzipierten Angebot. Im Exil befindet sich auch die Genfer Oper. Da das Grand Théâtre an der Place Neuve ebenfalls wegen Unterhaltsarbeiten geschlossen ist, veranstaltet das Opernhaus der französischsprachigen Schweiz während zweier Spielzeiten seine Abende in der «Opéra des Nations», einem hölzernen Provisorium in der Nähe des Genfer Uno-Sitzes. Für 1100 Besucher gibt es dort Platz, für 400 weniger als im Stammhaus. Etwas eng ist es schon, aber von den Garderoben für die Künstler bis zur VIP-Lounge ist alles vorhanden, was es braucht, und das auf einem provisorischen Fundament von 300 in die Erde gerammten Baumstämmen. Die Kosten für die von der Comédie Française in Paris übernommene Konstruktion in der Höhe von 11,5 Millionen Franken wurden zur zwei Dritteln von privater Seite beglichen.
«Manon» in der Genfer «Opéra des Nations» / Bild Carole Parodi, Grand Théâtre de Genève
An diesem Standort führt der Genfer Intendant Tobias Richter seine künstlerische Politik einer Stagione mit acht Opern, davon vier in neuer Produktion, drei Balletten und einer Fülle an Nebenveranstaltungen fort. Zur Saisoneröffnung gibt es «Manon» von Jules Massenet in bewährter ästhetischer Ausrichtung. Marko Letonja führt das leicht verwahrlost wirkende Orchestre de la Suisse Romande zu mächtig aufbrausendem, bisweilen grob skizziertem, jedenfalls nicht sehr idiomatischem Klang – was Patricia Petibon mit ihrem schlanken, fein zeichnenden Sopran nicht eben entgegenkommt. Ihre Auftrittsarie als Manon klingt noch leicht, doch je weiter der Abend und der Abstieg der Titelfigur voranschreiten, desto mehr Verspannung kommt auf. Ihre grossen solistischen Momente, etwa den Versuch, den zum Priester mutierten Geliebten zurückzugewinnen, meistert sie jedoch als eine Tragödin von Format. Bernd Richter steht ihr als des Grieux ebenbürtig zur Seite, nur in jener sehr französischen Höhe, die Massenet verlangt, neigt er zum Forcieren – auch bedrängt durch das Orchester und sicher nicht gestützt durch die sehr direkte Akustik. In der Ausstattung von Pierre-André Weitz zeigt der Regisseur Olivier Py das Stück fern jeder Sentimentalität als brutalen Kampf um einen Platz an der ausschliesslich von Geld genährten Sonne. Dass Männlein wie Weiblein wieder hübsche Genitalien vorzeigen dürfen, gehört selbstredend dazu.
Im Holzbauch: «Prometeo»
Solcherlei gibt es im Luzerner Theater nicht, das ist dort nicht vonnöten. Benedikt von Peter, der neue Intendant, bricht radikal auf. Er bringt Verdis «Rigoletto» in einer Industriehalle ausserhalb der Stadt, «Hänsel und Gretel» von Humperdinck in einer Fassung für Volksmusikinstrumente, «Die Zauberflöte» und «La traviata» aber auch im Stammhaus. Und zur Eröffnung der Spielzeit, dies in Koproduktion mit dem Lucerne Festival, gab es nicht weniger als «Prometeo» von Luigi Nono: ein Stück Nicht-Theater, bei dem es wenig zu sehen, umso mehr aber zu hören gibt und bei dem ausserordentlich gespitzte Ohren verlangt sind. Für dieses Projekt liess der Intendant in den zu fünf Sechsteln ausgeräumten Zuschauerraum, der mit Hilfe eines zusätzlichen Holzbodens auf Bühnenebene gebracht wurde, eine hölzerne Arche einbauen, aus deren Höhe die verräumlichten Klänge auf die frei im Saal verteilten Zuhörer eindrangen. Eine kongeniale Idee, die den für dieses Stück viel zu kleinen Raum optimal erweiterte und zugleich an die architektonische Lösung Renzo Pianos bei der Uraufführung anschloss. Wenn aber auch an das Globe Theatre Shakespeares erinnert wurde, so geschah das durchaus auch im Kontext der durch das Luzerner Kantonsparlament brutal beendeten Diskussion um den Bau einer Salle Modulable in Luzern.
Nonos «Prometeo» im Stadttheater Luzern / Bild David Röthlisberger, Luzerner Theater
Für 250 Besucher pro Abend, die elf Mal angesetzte Produktion läuft noch bis zum 15. Oktober, ist der Raum ausgelegt, halb so viele, wie bei ordentlicher Konfiguration Platz fänden – äusserst wagemutig ist das und ein starkes Zeichen. «Prometeo» ist im Lauf seiner nun gut dreissigjährigen Rezeptionsgeschichte durch eine Aura des Sakralen umhüllt worden, nicht zuletzt dank der Uraufführung in der Kirche San Lorenzo in Venedig und dank der beiden ebenso aufsehenerregenden wie magistralen Produktionen der Salzburger Festspiele (1993 und 2011) in der dortigen Universitätskirche. Der Kirchenhall wurde durch die Live-Elektronik bereichert und ins ätherisch Weite getrieben. In Luzern geschieht gerade das Gegenteil. Der Raum ist extrem trocken, und das auch hier beteiligte Experimentalstudio des SWR dosiert seine Interventionen äusserst sparsam, das Werk begegnet einem also sozusagen in nuce. Und da die Vokal- und Instrumentalsolisten, der Theaterchor und das Luzerner Sinfonieorchester unter der Leitung des neuen Luzerner Musikdirektors Clemens Heil sehr subtil agieren, ist die Schönheit von Nonos Musik in einzigartiger Klarheit zu erleben. Liebevoll betreut durch Anleitungen und Handreichungen einer Gruppe «älterer Damen», kann man als Besucher, wenn man seine Schuhe abgegeben und die zur Verfügung gestellten, «frisch gewaschenen» Wollsocken übergestreift hat, auf Matratzen, Stühlen oder Hockern Platz nehmen und, wenn die rote Lampe blinkt, seine Position wechseln. Und eine weitere «ältere Dame» beobachten, welche die ganzen zweieinhalb Stunden reglos, aber ausstrahlungsmächtig und vor allem vorbildlich zuhört. Ein Erlebnis ganz eigener Art.
In der Kunstwelt: «Der Freischütz»
Alles beim guten Alten ist im Opernhaus Zürich. Das erfolgreiche Team mit dem Intendanten Andreas Homoki an der Spitze geht in seine fünfte Saison. Eben ist als beispielhaft aufgemachte DVD bei Accentus die schöne Produktion von «I Capuleti e i Montecchi» von Bellini mit dem Zürcher Generalmusikdirektor Fabio Luisi, dem Regisseur Christoph Loy und einer vorzüglichen Besetzung mit Joyce di Donato an der Spitze erschienen. Und zur Eröffnung der neuen Saison zeigt das Opernhaus Zürich den «Freischütz» von Carl Maria von Weber – fast ein Vierteljahrhundert nach der beispielhaften, legendär gewordenen Produktion des Werks mit Nikolaus Harnoncourt und Ruth Berghaus war das am Platz. Schon damals war die Rezeptionsgeschichte dieser urromantischen deutschen Oper hinterfragt worden, Marc Albrecht am Pult der Philharmonia und der Regisseur Herbert Fritsch gehen nochmals einen entschiedenen Schritt weiter in dieser Richtung, nur das Publikum ist sich treu geblieben. Es buhte den darob verdutzten Regisseur an der Premiere ebenso erbarmungslos aus, wie es am 20. Februar 1993 die damals doch schon sehr altersmilde, doch keineswegs nachgiebig gewordene Ruth Berghaus in den Orkus geschrien hatte.
Viel Ehre also für Herbert Fritsch und seine szenische Arbeit, die manches an Webers «Freischütz» auf den Kopf stellte, das aber mit gutem Grund tat: fragend nämlich und nachdenklich. Eins zu eins lässt sich «Der Freischütz» heute nicht mehr erzählen; der dunkle Wald, die knallenden Büchsen und die vom Himmel fallenden Vögel entbehren im Zeitalter der Internet-Realität jeder Glaubwürdigkeit. Fritsch hat den Wald durch ein erbarmungslos glänzendes Ensemble von Häuschen mit Kirche ersetzt und den Gewehrschuss durch ein vernehmliches «peng» aus den Mündern gaffender Männer. Was vom Himmel fällt, jedenfalls fast, und was an der Premiere zum lauten Aufschrei einer wohl ebenfalls besoldeten Zuschauerin führte, ist in der Wolfsschlucht eine blendende Artistin am weissen Seil. Virtuos jongliert Fritsch mit den Dingen – wie es der allgegenwärtige, für die Akteure auf der Bühne aber unsichtbare, unglaublich freche und immer wieder voller Energie ins Bühnenportal knallende Samiel von Florian Anderer tut. Gleichzeitig treibt sie der Regisseur ins Groteske, wie die übersteigert folkloristischen Kostüme von Victoria Behr unterstreichen. Der Auftritt des vordementen Fürsten Ottokar (Oliver Widmer) und erst recht jener des hier ganz mit Stroh bedeckten, gleich ausgesprochen voll klingenden Eremiten (Wenwei Zhang) – das lässt sich dramaturgisch und szenisch überhaupt nicht lösen, es ist als Verlegenheit ins Stück eingeschrieben und kann nur auf Distanz gezeigt werden. Der Dirigent Marc Albrecht lässt denn auch keinen Zweifel daran, dass dem Finale des «Freischützen» etwas Angeklebtes eigen ist.
«Der Freischütz» im Opernhaus Zürich / Bild Hans Jörg Michel, Opernhaus Zürich
Überhaupt wird vorzüglich, nämlich ebenso deutlich wie nuanciert musiziert. Marc Albrecht – und die Philharmonia wird sich gewiss noch mehr mit diesen Ansätzen identifizieren – schärft die dynamischen Kontraste und spitzt die Tempi zu, ohne das der kantable Grundzug des Werks Schaden nähme. Christopher Ventris ist ein erfahrener, engagierter und höhensicherer Max, nur sein Vibrato, das fällt bisweilen störend ins Geschehen. Mit Christof Fischesser wiederum steht ihm ein stimmlich blendender, auch grossartig sprechender Kaspar gegenüber. Eine buchstäblich überragende Erscheinung gibt Lise Davidsen ab. Agathe ist hier gewiss einen Kopf grösser als Max, sie lässt ihren Geliebten als ein zu manchem unfähiges Muttersöhnchen erscheinen. Ist das ein Fall von absolut gelungenem type casting, so sind stimmlich doch gewisse Vorbehalte angebracht. Lise Davidsen meistert ihre beiden Arien wunderbar, mit reicher Subtilität in der Gestaltung und, beispielsweise, sparsamem Vibrato. Aber ihre Stimme ist doch klar dramatisch angelegt, was der lyrischen Partie der Agathe widerspricht. Rollendeckend munter dagegen Mélissa Petit als Ännchen.
Im Einfamilienhaus: «Die tote Stadt»
Zeugt dieser «Freischütz» von der Kontinuität des hohen Niveaus, so verdeutlicht «Die tote Stadt» von Erich Wolfgang Korngold, dass das Theater Basel in der zweiten Spielzeit unter der Leitung seines Intendanten Andreas Beck zu neuen Horizonten aufbricht. «Donnerstag aus Licht» von Karlheinz Stockhausen in der grandiosen Inszenierung von Lydia Steier kurz vor der Sommerpause hatte es schon angedeutet, jetzt wird es Gewissheit. Wesentlich geprägt wird der Aufbruch durch den Amerikaner Erik Nielsen, der seit dieser Spielzeit als Musikdirektor wirkt, also zusammen mit Ivor Bolton das Sinfonieorchester Basel leitet. Und durch Simon Stone, den 32jährigen Basler aus Australien, der in seiner Heimatstadt als Hausregisseur verpflichtet ist und nun sein Debüt im Musiktheater gegeben hat.
Für ihn sind Sänger – natürlich Sänger, vor allem aber auch Schauspieler. Davon lebt der Abend mit Korngolds «Toter Stadt» von 1920, und das macht die Begegnung mit dem psychologisch tiefgründigen Geniestreich des erst 23jährigen Komponisten aus Wien zu einem Theaterereignis der besonderen Art. Paul – Rolf Romei kämpft vielleicht ein wenig mit der Höhe, verkörpert seine Partie aber mit unglaublich packender Intensität – ist ein Bürger im besten Alter und in soliden Lebensverhältnissen, der seine innigst geliebte Ehefrau Marie verloren hat. An Krebs verloren hat, daran lässt die Kostümbildnerin Mel Page, die eine Vielzahl albtraumhaft kahlköpfiger Frauen ins Spiel bringt, keinen Zweifel. So wird das lange blonde Haar der Verstorbenen, mit dem Paul die Wiedergängerin Marietta zu schlechter Letzt erdrosselt, zu einem dramaturgisch aufgeladenen Requisit.
Was perfekt passt zu der spannungsgeladenen Erscheinung von Helena Juntunen, die Marietta/Marie den in seiner Trauer gefangenen Paul nach Massen bezirzt. Klangschön und unerhört sinnlich singt die junge Finnin, agil bewegt sie sich auf der Bühne – gerade so, als wäre sie einer Musical-Truppe entsprungen. Im Sog der kathartischen Beziehung finden auch alle der vielen kleineren Rollen je eigenes Profil, etwa jene der Hausangestellten Brigitta, die von Eve-Maud Hubeaux mit glühender Tiefe gegeben wird. In dem sich unablässig drehenden Einfamilienhaus aus dem Atelier des Bühnenbildners Ralph Myers spitzt sich das Geschehen gewaltig zu, und Erik Nielsen, der zusammen mit dem Sinfonieorchester Basel die Verlaufskurven fast schmerzhaft spannt, hat daran erheblichen Anteil. Dabei gehen Musik und Theater Hand in Hand. Wenn Marietta ihr uneigentliches Lied «Glück, das mir verblieb» anstimmt, gibt ihr der Regisseur ein mit einem Fernseher verbundenes Mikrophon in die Hand, als ob sie sich für eine Karaoke-Darbietung verstellte; zugleich dehnt der Dirigent das Tempo dergestalt, dass die Künstlichkeit des Moments voll zutage tritt. Das ist Musik-Theater im eigentlichen Sinn.