Der dritte Weg

Abschluss von Wagners «Ring des Nibelungen» im Opernhaus Zürich

 

Von Peter Hagmann

 

Brünnhilde (Camilla Nylund) und Hagen (David Leigh) / Bild Monika Rittershaus, Opernhaus Zürich

«Vollendet das ewige Werk» – so verkündet es Wotan zu Beginn der zweiten Szene von «Rheingold», dem Vorspiel zu Richard Wagners «Ring des Nibelungen». Geschätzte fünfzehn Stunden später, am Ende der «Götterdämmerung», liegt alles in Schutt und Asche. Da sitzt er nun wieder träumend in seinem Sessel, den Schlapphut auf dem Kopf und den noch (oder wieder) heilen Speer in der rechten Hand. Der mächtige Bilderrahmen vom Beginn, der den Blick auf die von den Riesen erbaute Burg eingefasst hat, ist inzwischen leer. Wenig später füllt er sich wieder mit dem jetzt allerdings im Vollbrand stehenden Bau, Theaternebel von links und rechts wird hereingeblasen, orange flackerndes Licht dazugegeben, während die wie stets hervorragende technische Abteilung von Sebastian Bogatu sogar einen lichterloh brennenden Statisten über die Bühne eilen lässt.

Auch hier, wie beim Drachen und der Kröte, wie beim Baum Hundings und Brünnhildes Felsen in früheren Phasen des Geschehens, mochte der Regisseur Andreas Homoki nicht auf die von Wagner vorgegebenen und vom Publikum bis heute erwarten Effekte verzichten. Er hätte sich dadurch allzu sehr in die Nähe jener auf Reduktion und Abstraktion fokussierten Bühnenästhetik begeben, die von Wieland Wagner ab 1951 in Neu-Bayreuth als Markenzeichen gepflegt wurde und in der Folge weite Kreise zog – bis hin zur letzten Zürcher Inszenierung von Wagners «Ring», jener von Robert Wilson aus den Jahren 2000 bis 2002, die genau diesen Ansatz verfolgt hat. Die leere Bühne war also ausgeschlossen.

Ebenso ausgeschlossen war freilich, daran hat Homoki von Anfang an keinen Zweifel gelassen, ein Ansatz im Geist des Regietheaters, das sich seit dem zur Legende gewordenen «Jahrhundert-Ring» mit Patrice Chéreau (und Pierre Boulez am Dirigentenpult) zum hundertsten Geburtstag der Bayreuther Festspiele im Sommer 1976 der Tetralogie bemächtigt hat. Dort richtete sich der Blick auf die sozialen und politischen Verhältnisse, in deren Zeichen «Der Ring des Nibelungen» entstanden ist. Leicht liessen sich die hieraus gewonnenen Erkenntnisse auf die Gegenwart der Aufführung übertragen: der «Ring» als Plattform aktueller Gesellschaftskritik, Wotan mit dem Aktenkoffer als Chef der Walhalla AG. Durchkreuzt wurde diese eifrig benützte Schiene der Deutung von der sich auch auf der Bühne des Musiktheaters ausbreitenden Tendenz zur Dekonstruktion; sie führte in ein Chaos, die immer häufiger die Frage aufkommen liess, ob sich in Sachen «Ring des Nibelungen» nicht eine Aufführungspause aufdränge.

Von all dem liess sich Andreas Homoki nicht beirren. Stracks suchte er den Befreiungsschlag, ging auf Feld eins zurück – und gewann, wie jetzt auch die «Götterdämmerung» erwies. Zwar gab es einen Anklang an die Entstehungszeit der Tetralogie, hatte der Ausstatter Christian Schmidt die Drehbühne doch mit Wänden in gründerzeitlicher Anmutung versehen; geschickt eingerichtet sorgte sie auch im letzten der vier Teile für Geschmeidigkeit in der Abfolge der Spielorte, und die merklich abgeblätterten Farben zeigten an, dass hier eine Ära, jene der Lichtalben, ihr Ende zu finden im Begriff steht. Ebenfalls zu entdecken war ein Hinweis auf den leeren Raum von Neu-Bayreuth: in der Sparsamkeit der Ausstattung. Auch in der «Götterdämmerung» sind nur wenige, mächtige Requisiten im Einsatz, so dass reichlich Bewegungsfreiheit herrscht und sich sogar der ausgezeichnete, klangvoll wie linienklar wirkende Oprnchor (Einstudierung: Ernst Raffelsberger) ohne Enge zurechtfindet. In seinen Auftritten wird übrigens manifest, wie an diesem weit ausholenden Theaterabend Bühnenleben entsteht. Die Chormitglieder sind allesamt als Individuen ausgestaltet, dies ganz im Geiste Walter Felsensteins, einem der Ahnen Homokis.

Hier, in einem sozusagen dritten Weg, liegt das Fundament der neuen Zürcher Inszenierung von Wagners «Ring». Befreit von szenischem Ballast und interpretativem Überbau wird die Geschichte ganz und gar aus den Figuren heraus erzählt. Und das bis in die hintersten Winkel des Geschehens, wie etwa die kleine Partie der Gutrune erweist. Sehr pointiert gibt sie die Australierin Laren Fagan, die gewinnend singt und hervorragend deklamiert, als eine junge, naive, etwas verklemmte Frau, die von dem ihr weit überlegenen, jedoch durch einen Trank betäubten Siegfried erst geblendet wird, an ihm dann aber nach und nach Statur findet. Ganz ähnlich, wenn auch in der gegenteiligen Richtung, Gutrunes Bruder Gunther, der, Daniel Schmutzhard verkörpert das trefflich, als ein Weichei mit übersteigertem Selbstbewusstsein erscheint. Sie sind Marionetten, die beiden Gibichungen. Denn im Zentrum steht er: Hagen.

Alle anderen überragend, in einen bodenlangen schwarzen Mantel gehüllt, unter dem aber doch eine Nibelungen-golden verkleidete Brust hervorglänzt, mit zottigem Schwarzhaar versehen, bisweilen hämisch grinsend, erscheint er als der Böse, wenn nicht das Böse schlechthin. David Leigh bringt das blendend über die Rampe. Er kann auch auf eine nachtschwarze stimmliche Tiefe setzen, die keinerlei Schwäche kennt – nur die Deklamation, zumal die Formung der Vokale, die lässt doch sehr zu wünschen übrig. In seiner Rechten trägt er einen langen Speer, jenem Wotans nachgebildet, nur, was Wunder, mit schwarzem Schaft. Und in seiner Brusttasche findet sich für jeden Zweck das passende Fläschchen. Sein Ziel liegt blank auf der Hand, sein Vater Alberich (Christopher Purves) muss ihn nicht extra motivieren: Es ist die definitive Vernichtung jener ehemals herrschenden, nun noch durch Siegfried repräsentierten Schicht, die auf krummen Wegen in den Besitz des Wunder wirkenden Rings gekommen ist. Der Plan geht freilich nicht auf, am Ende wird Hagen durch die drei Rheintöchter kurzerhand aus dem Fenster in die Fluten des Rheins gestürzt.

Das alles wird in derart packender Weise vorgeführt, dass man sich als Zuschauer (und als Zuhörerin) restlos gebannt auf die Geschichte einlässt. Sich am Bühnenrand paarende Krokodile wie in Frank Castorfs Bayreuther «Ring»-Inszenierung von 2013 gibt es in Zürich nicht zu sehen, dafür den Entwurf einer Welt, der zwar hundertfünfzig Jahre alt ist, aber nicht wenig mit dem Hier und Jetzt zu tun hat. Genährt wird die Verwirklichung dieses Entwurfs von einem Paar, das man sich genuiner nicht vorstellen kann. Mit ihrem kraftvollen Timbre und ihrer sagenhaften Bühnenpräsenz sorgt Camilla Nylund als Brünnhilde energisch für Ordnung. Ihrer Schwester Waltraute – Sarah Ferede meistert ihren Auftritt überragend – bietet sie standfest die Stirn, die schwarz gekleideten Mannen rund um Hagen weiss sie in ihrem blütenweissen Gewand jederzeit zu zähmen, ihren Kampf um die Wahrheit hält sie mit einer Unbeirrbarkeit sondergleichen aufrecht. Ihr gegenüber steht mit Klaus Florian Vogt ein Siegfried, der sich in dieser Produktion stimmlich wie darstellerisch grandios wandelt. In der «Walküre» als Kind und als Pubertierender eher lyrisch angelegt, nimmt er in der «Götterdämmerung», wo er seiner gewiss wird und es trotz der benebelnden Getränke Hagens bleibt, nach und nach heldisches Format an – als künstlerische Leistung ist das schlicht überwältigend.

Getragen, nein: klar mitgestaltet wird diese «Götterdämmerung», wie es in den Teilen zuvor war, vom Orchester, der Philharmonia Zürich, unter der Leitung von Gianandrea Noseda. Mit dem Einsatz des tiefen Blechs, das sich auch hier und hier erst recht, lautstark über alles hinwegsetzt, werde ich mich nie anfreunden können. Die einseitige Gewichtung stört die Balance, ja die musikalische Struktur – etwa dann, wenn das trötende Blech aus der Tiefe einen zarten Akkord der Holzbläser, mit dem ein Leitmotiv anhebt, verdeckt und zerstört. Nicht zu überhören ist jedoch, dass Noseda, der hiermit seinen ersten «Ring» hinter sich gebracht hat, sehr überzeugend in die Partitur hineingewachsen ist, viele Verästelungen hörbar macht und mit herrlichsten Farbwirkungen aufwartet. Zumal am Ende, da das Unheil, das vom Ring des Nibelungen ausging, im Rhein versunken ist und die nunmehr allein dastehenden weissen Wände an einen Neubeginn, vielleicht gar einen besseren, denken lassen. Das wär dann die Moral von der Geschicht.

Urkraft der Triebe

George Benjamin mit «Lessons in Love and
Violence» im Opernhaus Zürich

 

Von Peter Hagmann

 

Liebhaber und Geliebter: Ivan Ludlow (König) und Björn Bürger (Gaveston) / Bild Herwig Prammer, Opernhaus Zürich

Wenige Tage nach der Zürcher Premiere von «Lessons in Love and Violence», seiner dritten Oper, konnte George Benjamin den Ernst von Siemens-Musikpreis entgegennehmen. Die Ehrung folgt einer eigenen, plausiblen Logik. Der Engländer mit Jahrgang 1960 ist genuin mit der musikalischen Tradition des 20. Jahrhunderts verbunden, er verfügt über reiche Einfallskraft und ein tadelloses Handwerk. Allein schon das bietet in den neunzig Minuten der Aufführung von «Lessons in Love and Violence» im Opernhaus Zürich zu Hörerlebnissen der Sonderklasse – zumal der Dirigent Ilan Volkov das Orchester des Hauses mit sicherer Hand durch die vielschichtige Partitur führt. Eingängig ist Benjamins Tonsprache gewiss nicht, fasslich aber sehr wohl. Sie wartet mit raffinierten Farbeffekten und klaren Zeichen auf, so etwa dann, wenn von Gewalt die Rede ist, mit einem herben Strich über die Saiten des Cibaloms. Das schafft Orientierung wie Atmosphäre, denn tatsächlich geht es in «Lessons in Love and Violence» um die Urgewalt der Triebe.

In sieben Szenen hat Martin Crimp sein Libretto geteilt; sie werden durch Zwischenspiele voneinander getrennt, was als Verfahren nicht neu, wenngleich noch immer dienlich ist. Erzählt wird, nach einem Stück von Christopher Marlowe aus dem Jahre 1594, die Geschichte von Edward II., der sich neben seiner Frau einen Geliebten hielt, ob dem sexuell aufgeladenen Alltag die Staatsgeschäfte vernachlässigte und die Mittel verschwendete, während sein Volk das Leid der Geknechteten zu tragen hatte. Allerdings gibt es mit dem Minister Mortimer einen senkrechten Staatsdiener, der zusammen mit der Königsgattin Isabel für das brutale Ende des Königs sorgt, der jedoch, kaum ist Edward III. als Nachfolger installiert, nicht weniger gnadenlos beseitigt wird. Die von Marlowe geschilderten Vorgänge sollen sich im frühen 14. Jahrhundert ereignet haben, ganz unbekannt kommen einem jedoch weder die Ursachen noch die Methoden vor – Falk Bauers Kostüme lassen auch keinen Zweifel daran.

Sex and crime, das verkauft sich bekanntlich, vor allem, wenn gute Musik dabei ist. Ganz so einfach ist es freilich nicht. Crimp und Benjamin bleiben nicht an der unterhaltenden Oberfläche, sie bohren tiefer und stellen die durchaus ambivalenten Prämissen heraus, unter denen die Figuren handeln. Mortimer zum Beispiel, der Tenor Mark Milhofer macht das hervorragend deutlich, ist nicht nur ein Beamter von unerschütterlicher Loyalität, er lebt auch eine scharfe Intoleranz und gehorcht ebenso dem Machttrieb wie seine Gegenspieler – dafür werden ihm am Ende die Augen ausgestossen. Drastisch zeigt das der Regisseur Evgeny Titov – wie überhaupt an diesem in durchgehender Spannung vorbeiziehenden Abend weder mit Handgreiflichkeit noch mit Theaterblut gespart wird. Als König kennt Ivan Ludlow kein Halten, wenn er den Körper seines Gaveston (Björn Bürger) in der Nähe hat. Besonders eindrucksvoll jedoch die düpierte Königin Isabel. Was als Nebenrolle gestaltet ist, kommt hier zu starker Wirkung – dank Jeanine De Bique, die von Salzburg aus bekannt geworden ist und jetzt in Zürich ihr unerhört wandelbares Timbre einsetzt. Am Ende, wenn die Oper ihren Höhepunkt erreicht, gerät sogar das Bühnenbild von Rufus Didwiszus in Bewegung: beginnen die skulpturalen Darstellungen aus mythischer Zeit, welche die Bühne im Hintergrund abschliessen, zu zittern und zu wanken. So wie der Boden, auf den Alleinherrscher geraten können.

Gefühl, in Kunst verwandelt

«Roméo et Juliette» von Gounod in Zürich

 

Von Peter Hagmann

 

Der Ball / Bild Herwig Prammer, Opernhaus Zürich

Der erste Blick auf die Bühne schockiert. Statt der erwarteten Szenerie für den prunkvollen Ball, mit dem «Roméo et Juliette» anhebt, öffnet sich im Opernhaus Zürich ein rechteckiger, weit in den Hintergrund gezogener Raum, lindgrün gehalten, leer, wären da nicht jene zwei einander gegenüberstehenden, parallel nach hinten verlaufenden Reihen von Tessinerstühlen. In die Seitenwände eingelassen hat der Bühnenbildner Andrew Lieberman raumhohe Türen; aus denen treten nach und nach, einzeln, sehr zeremoniell, die Gäste ein: Damen in gehobener Kleidung heutigen Schnitts, von Annemarie Woods entworfen, Herren in betont elegantem Dinner Jacket oder in Galauniform. Zu ihren Plätzen geführt werden sie von einem eifrigen Tanzmeister – nein, so stellt sich bald heraus, es ist der Hausherr selbst, das Oberhaupt der Familie Capulet (David Soar). Bald kommt es zu dem erst strengen, dann kultiviert ausartenden Eröffnungswalzer, den Pim Veulings choreographiert hat. Und erklingt «Je veux vivre», die Arie der Juliette, mit der sich Julie Fuchs als eine zweite Violetta Valéry in die Herzen des Publikums singt.

Wie unterm Brennglas lässt sich an diesem Anfang verfolgen, was die neue Zürcher Produktion von Charles Gounods Oper intendiert und was sie erfolgreich verwirklicht. An Schmelz fehlt es in keiner Hinsicht, wohl aber an Schmalz. Was dem stolzen Werk im Wege steht, ist die Rührseligkeit, die ihm durch zahllose Interpreten beigefügt worden ist; nichts davon ist an diesem formidablen Abend zu erleiden. Was hier rührt, und es ist nicht wenig, geht auf die Erfindung der Librettisten Jules Barbier und Michel Carré, auf die Musik Gounods und die unprätentiös sachgerechte Umsetzung in die szenisch-musikalische Wirklichkeit zurück. Der Regisseur Ted Huffman erzählt die Geschichte von der blitzschnell aufflammenden und unerbittlich in die Katastrophe führenden Liebe zwischen zwei jungen Menschen aus zwei verfeindeten Familien in einem neutralen Ambiente der Jetztzeit. Plüsch und Samt fehlen ebenso wie der Duck auf die Tränendrüse; an deren Stelle treten die Genauigkeit und die Empathie in der Ausgestaltung der handelnden Figuren – sie könnten Menschen von nebenan sein, gewinnende Erscheinungen, denen das Mitgefühl ihrer Umgebung sicher ist.

Genau gleich hält es der Dirigent Roberto Forés Veses. Hell und klar leuchtet in dem von ihm erzeugten Licht die Partitur Gounods, warm und pulsierend klingt sie, und zugleich gibt sie ihr ganzes Raffinement zu erkennen – im tief abgesenkten Graben des Opernhauses erbringt die Philharmonia Zürich eine erstklassige Leistung. Gounod war nicht nur ein genuiner Franzose, er war nicht nur zutiefst in den musikalischen Traditionen seines Landes verankert, wie es die Ouvertüre vorführt. Er hatte auch Sinn für das, was sich ihm durch die intensive Begegnung mit der deutschen Musik erschlossen hat. Für den Kontrapunkt beispielsweise, aber auch für Nebenstimmen in unterschiedlichen Farben. Ausdrucksvoll, im Geist des musikalischen Sprechens lässt Gounod die Holzbläser, das Horn oder ein konzertierendes Cello intervenieren – so fasslich, wie es in dieser Produktion geschieht, ist das selten zu hören.  Möglich wird es, weil der Dirigent zwar schon auf die Rundung und die Geschlossenheit des Klangs hinarbeitet, im selben Mass jedoch Freiräume offenlässt, in denen die instrumentalen Kommentare zur Geltung kommen. Unter dem Strich ergibt das eine Vitalität eigener Art.

Roméo (Benjamin Bernheim) / Bild Herwig Prammer, Opernhaus Zürich
Juliette (Julie Fuchs) / Bild Herwig Prammer, Opernhaus Zürich

Mag sein, dass das auf der Bühne Folgen zeitigt, jedenfalls findet die tragische Geschichte eine Authentizität, wie sie nicht alle Tage vorkommt. Benjamin Bernheim und Julie Fuchs sind das Traumpaar der Stunde – ähnlich wie es vor vielen Jahrzehnten Eva Lind und Francisco Araiza und später, in anderem Zusammenhang, Agnes Baltsa und José Carreras waren. Sie gehen förmlich auf im coup de foudre; sie spielen ihn nicht, sie leben ihn. Und sie singen auf Augenhöhe: beide gleichermassen sicher in der Performanz und stark in der Ausstrahlung, beide ausserdem mit ähnlich gelagerten Timbres, mit einem sagenhaften Reichtum an Obertönen und kaum je angestrengt wirkender Kraft. Und dann das Legato, das er einbringt, die Koloraturen, mit denen sie brilliert. Ganz ausgezeichnet auch das Ensemble, das die beiden Protagonisten trägt – etwa der ernsthafte Frère Laurent, der in einer schlichten Wortzeremonie die heimliche Trauung vollzieht und dann in ergreifender Solidarität das so fatal falsch wirkende Fläschchen bereithält. Einen besonderen Auftritt hat die junge Mezzosopranistin Svetlina Stoyanova in der Hosenrolle des Stéphano, des Pagen des Titelhelden. In quirliger Natürlichkeit präsentiert sie ihre Arie – der Szenenapplaus ist ihr sicher.

Das alles ereignet sich in einer Inszenierung, die augenfällig macht, wie sich die Schlinge zuzieht. Diskret tut sie das, etwa mit einer Kampfszene, die, so schreckliche Folgen sie zeitigt, doch in jedem Augenblick attraktive Kunst bleibt. Intelligent auch die szenische Sprache, die sie spricht. Eine besondere Rolle spielen die Tessinerstühle. Versinnbildlichen sie anfangs in ihrem strengen Gegenüber die scharfe Konfrontation zwischen den Capulets und den Montagues, stehen sie während der Trauung, im Moment der nächsten Nähe zwischen den beiden Familien, in einer Reihe nebeneinander. Und erst gegen den Schluss hin fällt auf, dass die Rückwand des anfänglich so weiten Raums mehr und mehr nach vorne gerückt ist, sich der Blickwinkel zusehends verengt hat, bis für den Tod der beiden Liebenden nur mehr ein schmaler Streifen der Bühne übrigbleibt. Der einfache szenische Handgriff stellt die konzise Dramaturgie von «Roméo et Juliette» in hellstes Licht. Auch darum kann man nach diesem Abend seine Ansichten zu Gounods lange Zeit missachteter Oper neu sortieren.

Ein Musiktheatermärchentraum

«Siegfried» zur Fortsetzung im Zürcher «Ring»

 

Von Peter Hagmann

 

Das Waldvögelein (Rebeca Olvera) und Siegfried (Klaus Florian Vogt) im Walde / Bild Monika Rittershaus, Opernhaus Zürich

Mit keinem Werk der Operngeschichte, auch nicht mit Mozarts «Don Giovanni», ist eine derart komplexe, derart heftig diskutierte Wirkungsgeschichte verbunden wie mit dem «Ring des Nibelungen». Bis heute und in anhaltender Intensität fordert und irritiert Richard Wagners Tetralogie die Musiker, die Theatermacher, das Publikum. Die Leerräumung der Bühne und die Einführung der geneigten Scheibe als Spielort, von Wieland Wagner in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg eingeführt, der pointierte Einbezug gesellschaftspolitischer Allusionen durch Patrice Chéreau und die klangliche Auflichtung des Orchesterparts durch Pierre Boulez im Bayreuther «Jahrhundertring» von 1976, die Blüten des Regietheaters, die in den letzten Jahrzehnten einigen erhellenden und zahlreichen entstellenden Deutungsversuchen  Raum geschaffen haben – das alles gehört ebenso zum «Ring» wie die Aufregungen, die aufschäumen, wenn Wotan den Aktenkoffer des Kapitalisten mit sich führt oder Alberich keinen richtigen Tarnhelm herzeigt. Im Opernhaus Zürich freilich herrscht einhellige Begeisterung: im neuen «Ring», genauer: bei «Siegfried», wo ein drolliger Bär über die Bretter eilt (Kompliment an Dominique Misteli), wo ein sehr zeitgemässer Drache, pardon: ein Dragon seine Nüstern bläht und dann sein Leben aushaucht (Gratulation an den «Tierpfleger» Marius Kob), wo in der Esse die Flammen machtvoll aufschiessen und danach das Schwert bedrohlich glüht (der nie um eine Lösung verlegenen technischen Abteilung unter der Leitung von Sebastian Bogatu gebührt endlich auch einmal ein Kranz).

Wenn somit alles vorhanden ist, was gemäss Textbuch vorhanden sein muss, und umgekehrt nichts von jenen Modifikationen zu erleiden ist, die eifrige Regisseure vorzunehmen lieben – wo stehen wir dann? Erliegen wir dann nicht dem Irrtum, man könne auch bei einem Grossentwurf wie dem «Ring des Nibelungen» sozusagen zum Punkt Null zurückkehren und das Nachleben, das zum Werk gehört wie seine Niederschrift, mir nichts, dir nichts ausblenden? Und mehr noch: Liegt diesem Irrtum nicht eine retrospektive Haltung zugrunde, ja gar eine Negierung der Notwendigkeit, ein Kunstwerk immer und immer wieder neu im Licht der jeweiligen Gegenwart zu lesen – die Werke also notfalls, wie es im Sprechtheater zum Leidwesen vieler Besucher geschieht, zu dekonstruieren und sie der Jetztzeit gemäss neu zusammenzusetzen? Je weiter der neue Zürcher «Ring» voranschreitet, desto deutlicher wird, dass von all dem nicht die Rede sein kann. Auch in «Siegfried» verzichtet der Zürcher Hausherr Andreas Homoki als Regisseur nämlich darauf, seine eigenen Ansichten zur Tetralogie in Szene zu setzen; er schaut vielmehr einfach mit aller Genauigkeit hin und zeigt, was er in Wagners Text liest und in seiner Musik hört. Lesen und hören tut er freilich mit hellwachem Geist. Und sichtbar werden lässt er die Ergebnisse dieses Wahrnehmungsprozesses mit genuinem Theatersinn, ausserdem mit verspielter Phantasie und erheiternder Ironie. Wie ein Märchen zieht «Siegfried» an einem vorüber; die vier Stunden reiner Aufführungsdauer gehen im Nu vorbei – vielleicht mit Ausnahme des dritten Aufzugs, gegen dessen Ausführlichkeit nun einmal kein Kraut gewachsen ist.

Ganz langsam hebt sich der Vorhang, wenn das düstere Vorspiel zum ersten Aufzug anhebt. Eindrücklich die Farbenspiele, die mit denen die Philharmonia Zürich unter der Leitung von Gianandrea Noseda aufwartet; was der Solist an der Kontrabasstuba da an Pianissimo-Klängen herzaubert, ist von aussergewöhnlichem Format. Die von Christian Schmidt entworfene Ausstattung führt weiter, was in «Rheingold» und «Walküre» angelegt wurde. Die gründerzeitlichen Räume auf der Drehbühne wirken etwas enger als in den vorangehenden Teilen – oder erscheinen sie nur so, weil die Farben dunkel gehalten sind und das Mobiliar, inzwischen in herbe Unordnung geraten, gewachsen scheint? Tatsächlich befinden wir uns in einer Art Kinderstube. Siegfried, stürmisch zwar, trägt noch die Eierschalen hinter den Ohren, Klaus Florian Vogt zeigt das sehr schön. Er nimmt den Anfang ausgesprochen lyrisch, wird dabei vom Orchester jedoch mehr als einmal bedrängt. Überhaupt lässt Noseda gerne die Muskeln spielen, was bisweilen von umwerfender Wirkung ist, aber auch Fragen aufwirft; warum zum Beispiel die tiefen Bläser immer wieder so hässlich schnarrend dominieren, ist nicht zu verstehen. Siegfried jedenfalls ist da und dort kaum zu hören – nicht weil Vogt seinen wandelbaren Tenor mit Blick auf die Anforderungen der Partie schont, sondern weil er die unbekümmerte Naivität, auch die Verletzlichkeit des jungen Siegfried heraustreten lässt. So sehr er seinen Ziehvater verachtet, sucht er, wenn er vom Tod seiner Mutter erfährt, doch auch Schutz in dessen Armen.

Mime wiederum ist mehr als eine Karikatur, er ist ein Mensch, wie es heute nicht wenige gibt: zerfressen von der Gier nach dem Ring und nicht eben uneitel, seinem Vorhaben aber nicht wirklich gewachsen. Wolfgang Ablinger-Sperrhacke, dessen Timbre gegenüber früheren Zeiten milder geworden ist, kennt sich in dieser Partie aus wie in seiner Hosentasche; virtuos bringt er sie über die Rampe. Besonders gelingt das in dem von betörenden Sequenzen getragenen Fragespiel, in das ihn der unbekannte und unerwünschte Wanderer verwickelt. Tomasz Konieczny glänzt hier erneut mit unerhörter stimmlicher Pracht und Lust am Auskosten jeder einzelnen Silbe, vor allem aber auch mit Schauspielkunst vom Feinsten. Am Ende finden sich die beiden ungleichen Kontrahenten in dem inzwischen etwas abgewrackten Prunksaal mit dem langen Besprechungstisch, in dem sich der Wanderer zu erkennen gibt, nur versteht es Mime nicht. Genau dort erlebt Wotan/Wanderer seinen endgültigen Niedergang: nach der packend gelingenden Begegnung mit dem ahnungslosen, aber umso selbstgewisseren Siegfried und dem Schlag von dessen Schwert auf den Speer des Göttervaters.

Vorangegangen waren Momente zauberhaften Theaters. Der Zwist zwischen Alberich (Christopher Purves) und Wotan, der Auftritt des zierlichen Waldvögeleins von Rebeca Olvera und der Kampf Siegfrieds mit dem in aller Körperfülle erscheinenden Drachen, dem dann mit David Leigh ein in der Produktion neuer, aber sehr valabler Fafner entsteigt, schliesslich auch die für Wotan ungut ausgehende Besprechung mit Erda (Anna Danik). Dann aber wechselt die Szenerie, verabschiedet sich die Drehbühne für einen Augenblick zugunsten einer vornehm getäferten Wand in edelstem Graugrün und dem Felsen mit der schlafenden Brünnhilde – auch ein diskreter Hinweis auf den Unterbruch in der Entstehungsgeschichte der Tetralogie. Seinen Abschied nimmt hier auch gleichsam der Regisseur, er überlässt das Feld dem Text und der Musik. Einmal mehr darf man staunen über das psychologische Einfühlungsvermögen Wagners lange vor Freud. Und darf man die Kunst bewundern, mit der Klaus Florian Vogt, noch immer frisch, und Camilla Nylund als die aus tiefem Schlaf erwachende Brünnhilde die schwierige Annäherung von Mann und Frau meistern. Wie Siegfried erschrickt ob dem Anblick der Frau ohne Brünne und dann in tiefer Angst nach der Mutter ruft, wie sich Brünnhilde vor der Berührung durch den Mann fürchtet, und das keineswegs nur aus Gründen des Statusverlusts, wie feurig die beiden endlich das wie zufällig bereitstehende Bett in Besitz nehmen – alles feinsinnig ausgearbeitet, hochspannend und tief berührend.

Lustvoll ins Heute projiziert

Mozarts «Nozze di Figaro» in Zürich

 

Von Peter Hagmann

 

Gräfin (Anita Hartig) und Cherubino (Lea Desandre) / Bild Herwig Prammer, Opernhaus Zürich

Was für ein Vergnügen. Auf der Bühne wird singend gespielt, dass sich die Bretter biegen. Im Graben wird Klang gegeben, dass es eine Art hat. Und im (voll besetzten) Zuschauerraum wird herzlich gelacht. Das Stück aber, es ist 236 Jahre alt und spiegelt eine gesellschaftliche Konstellation, die so nicht mehr gibt – oder eventuell doch? «Le nozze di Figaro», die Opera buffa Wolfgang Amadeus Mozarts, hat bei der Uraufführung in Wien gehörigen Wirbel ausgelöst – kein Wunder, verhandelt sie doch das Gebaren adliger Herrschaften dem weiblichen Geschlecht gegenüber, insbesondere das ius primae noctis, das es als kodifiziertes Recht nicht gegeben hat, als Gepflogenheit aber selbstverständlich gepflegt wurde und in den Jahren vor der französischen Revolution als Inbegriff des feudalen Machtanspruchs in Verruf geraten war.

Heute ist das Thema, wenn auch in der Gegenwart anverwandelter Form, wieder sehr en vogue. Nicht dass Jan Philipp Gloger, der Regisseur der neuen Zürcher Produktion von «Le nozze di Figaro», den Grafen Almaviva umstandslos zu einem Harvey Weinstein gemacht hätte, doch die Verwandtschaft zwischen den beiden Verkörperungen männlichen Daseins ist derart mit Händen zu greifen, dass der Regisseur sie nicht links liegen lassen konnte. Unterstrichen wird der Gegenwartsbezug durch den immer wieder auf dem Zwischenvorhang auftauchenden Kodex zur Begegnung zwischen Mann und Frau, wie ihn sich etwa das Opernhaus Zürich nach einer dunklen Affäre rund um ein Mitglied von dessen Direktion gegeben hat. Zu einiger Heiterkeit führen am Abend selbst die Versuche, diesen Text mit dem Finger auf dem tragbaren Bildschirm den eigenen Bedürfnissen gemäss zu editieren.

Gloger, der das Stück klar in der Jetztzeit verortet, arbeitet mit dickem Stift, was angesichts der Erscheinung des Grafen, einem Pfau, der in jede ihm zugedachte Falle tappt, am Platz ist. Der Regisseur ging in der Vorbereitung aber auch mit einer Nonkonformität und einer Virtuosität zu Werk, die das Ensemble verzaubert hat und in der Vorstellung zu grosser Form auflaufen lässt. Auch in kleineren Partien wie zum Beispiel jener des Bartolo, den York Felix Speer in seiner ganzen Körperfülle zu einer herrlichen Theaterfigur macht. Oder in jener des Richters Don Curzio, den Christophe Mortagne als pralle Karikatur eines Bürokraten gibt. Ein Glanzlicht auch der puerile Cherubino von Lea Desandre. Scharf gezeichnet ist das Quartett der Protagonisten. Der Graf, Daniel Okulitch nimmt sich der Partie mit virilem Timbre an, als ein Schnösel in den hochgezogenen Hosen, die ihm die Kostümbildnerin Karin Jud entworfen hat. Die Gräfin, von Anita Hartig mit grossem Ton, aber auch einiger Unsicherheit in der Intonation gesungen, als eine tragische Figur aus der alten Welt. In seinem schwarzen Dreiteiler ist Figaro ganz der Diener als Herr, mit seinen kernigen Stimmfarben lässt Morgan Pearse keinen Zweifel daran. Das Energiezentrum bildet jedoch die Susanna von Louise Alder, einer Sängerin von hoher Musikalität und einer bezwingend quirligen Darstellerin.

Entscheidend für die Wirkung all dessen sind jedoch die Räume für die vier Akte, die der Bühnenbildner Ben Baur bewusst eng gehalten hat. Das Finale mit der endgültigen Demaskierung des Schürzenjägers ereignet sich nicht im nächtlichen Park des gräflichen Schlosses, sondern auf dessen alle andere als geräumigem Dachboden – da prallen die Energien ungebremst aufeinander. Wesentlichen Anteil daran hat die Philharmonia Zürich, die historisch informierten, unerhört präsenten, bisweilen geradezu wollüstigen Klang hören lässt. Wie der Regisseur lässt Stefano Montanari, der das musikalische Geschehen, behänd zwischen Lesebrille und Taktstock wechselnd, vom kräftig verstärkten Pianoforte aus leitet, keine Gelegenheit zu einer ironischen Anspielung aus. Liebevoll und witzig legt er zusammen mit dem Cellisten Claudius Herrmann den Basso continuo aus, intensive Emotionalität erreicht er in den orchestral begleiteten Rezitativen, bezwingend die Tempogestaltung und die Wechsel des Tons zwischen der herrscherlichen Attitüde im Finale des ersten Akts und der listigen Nasführung des Grafen durch seinen Kammerdiener am Ende des zweiten. Ein kräftiger Stoss Frischluft für das althergebrachte Genre der Oper.

Schöne heile Theaterwelt

Wagners «Rheingold» als Vorabend zum neuen Zürcher «Ring»

 

Von Peter Hagmann

 

Bild Monika Rittershaus, Opernhaus Zürich

Aufführung ohne Interpretation, geht das? Immer und immer wieder ist es behauptet worden – von Igor Strawinsky, der seine Musik lieber dem mechanischen Musikinstrument Pleyela überantwortete als den Interpreten seiner Zeit, auch von einem unverdächtigen Dirigenten wie Günter Wand, der für sich in Anspruch nahm, in seinem Tun ausschliesslich auf den Notentext zu reagieren. Und nun hat auch Andreas Homoki, der Intendant des Opernhauses Zürich, diese Fährte aufgenommen. Seine Inszenierung von Richard Wagners «Ring des Nibelungen», die jetzt mit «Rheingold» eröffnet worden ist und im Lauf der beiden kommenden Spielzeiten vollendet werden soll, möchte nicht eine Deutung der von Wagner erdachten Vorgänge zeigen, sondern die Vorgänge selbst. Der Regisseur mithin nicht als Interpret, sondern als Spielleiter, der szenisch lebendig werden lässt, was Wagner zu Papier gebracht hat. Zurück zum Text selbst, zu den Ursprüngen, so lautet Homokis Maxime – eine Haltung, die sich nicht zuletzt an der Tatsache orientiert, dass Wagners «Ring» zu grossen Teilen in Zürich entstanden ist.

Wenn sich nach den ersten, noch im Dunkeln erklingenden Takten des Vorspiels die Szene erhellt, wird die Drehbühne sichtbar: der Ring als Kreis und das Kreisen als die Beweglichkeit der Fluten. Zu sehen sind in der Ausstattung von Christian Schmidt hochweiss gehaltene Räume klassizistischen Zuschnitts; später werden sie mit schwerem gründerzeitlichem Mobiliar bestückt – was vielleicht noch keine Interpretation darstellt, aber immerhin einen Hinweis auf die Entstehungszeit der Tetralogie vermittelt. Bald schon zeigt sich, wie der leere Raum der Bühne gefüllt werden soll: mit Bewegung und Plastizität der Körpersprache. Das ist überzeugend gelöst – ebenso trefflich, wie der Konversationston des Stücks herausgestrichen wird. Bisweilen werden allerdings Grenzen sichtbar. Die Kissenschlacht, die sich Uliana Alexyuk, Niamh O’Sullivan und Siena Licht Miller als die fröhlichen Rheintöchter liefern, zieht sich merklich in die Länge, während Christopher Purves als ein unerhört stimmgewaltiger Alberich seinen Drang nach dem Weiblichen ziemlich dick auftragen muss und dabei an die Grenze zur Charge gerät.

Format kommt ins Spiel, wenn ab der zweiten Szene Wotan das Heft in die Hand nimmt. Die obligate Augenbinde trägt der Göttervater nicht, wohl aber den wallenden Mantel und in der Hand den Speer mit den Vertragsrunen. Mit Donnerstimme setzt Tomasz Konieczny seine Positionen durch – ein umwerfendes Rollenporträt. Fricka vermag ihrem herrscherlichen, erst wenige Zeichen der Schwäche zeigenden Gatten nicht das Wasser zu reichen, dafür bleibt Patricia Bardon zu unbestimmt, aber es folgt ja noch «Die Walküre» mit dem für Wotan ungünstig ausgehenden Ehestreit. Etwas schwach auch Matthias Klink, der die Partie des Loge aus dem neuen Stuttgarter «Ring» (vgl. «Mittwochs um zwölf» vom 15.12.21) nach Zürich gebracht hat; der Scharfsinn seiner diplomatischen Winkelzüge gegenüber Mime (Wolfgang Ablinger-Sperrhacke) und Alberich fällt ab vor dem Hüpfen und Springen, das ihm der Regisseur abverlangt.

Getragen wird die Produktion von einem sehr soliden Ensemble. Die musikalischen Überraschungen ereignen sich jedoch im Orchestergraben. Dort führt mit Gianandrea Noseda ein Neuling in den Gefilden von Wagners «Ring» und ein Dirigent italienischer Muttersprache das Zepter. Hervorragend tut er das. Kraftvoll und satt klingt die Philharmonia Zürich, aber in keinem Moment zu laut, die Verständlichkeit ist jedenfalls hoch. Das geht auf die Sprachpflege zurück, deren Einfluss nicht genug gewürdigt werden kann, vor allem aber auf den sorgsamen Umgang mit der musikalischen Struktur: mit der klanglichen Balance im verhältnismässig kleinen Raum des Zürcher Hauses und dem Netz der Leitmotive. Immer wieder und mit Erfolg ruft Noseda dem Zuschauer in Erinnerung, dass das «Rheingold» auch eine Art Sinfonischer Dichtung darstellt. Der Dirigent scheut denn auch nicht davor zurück, Motive an entscheidenden Stellen krass herauszuheben – was man da und dort auch als etwas penetranten Wink mit dem Zeigefinger empfinden mag.

Nur, es passt zu einer Inszenierung, die insgesamt doch nicht wenig an ihrer Ambition leidet – am Versuch, die schwer befrachtete Rezeptionsgeschichte von Wagners «Ring» ausser Acht zu lassen und stattdessen mit heiterer Naivität und frischfröhlicher Vitalität zu Werk zu gehen. Das mag im Ansatz denkbar sein, in der Realität der Aufführung führt es zu Problemen. Was der Liebhaber und Kenner verlangt, wird ihm im neuen Zürcher «Rheingold» geboten. Haufenweise wird das Gold in angeblich schweren Klumpen auf der Bühne aufgeschichtet. Und lustig hüpft die Kröte, in die sich Alberich fatalerweise verwandelt, über den Boden. Zuvor versucht es der Nibelung noch mit einer monströseren Erscheinung, deren Wotan und Loge fürs erste nicht gewahr werden – bis sich dann eine furchterregende Schwanzspitze durch eine offenstehende Tür hineinschlängelt. Das wäre schon des Effekts genug gewesen. Doch leider lassen sich Andreas Homoki und Christian Schmidt das Untier nicht nehmen, weshalb einen Lidschlag später gleichwohl ein Theater-Drache mit Dampf und Gloria auf der Bühne erscheint.

So hat es Wagner niedergeschrieben, aber ist es sakrosankt? Entspricht es nicht einem heute etwas kindlich wirkenden Theaterbegriff – einem von vorgestern, der durch die Vielzahl anregender Deutungsversuche längst in die Jetztzeit übersetzt ist? Und erinnert es nicht an die seligen Zeiten der Bayreuther «Ring»-Inszenierungen Wolfgang Wagners? Wenn schon «Rheingold» in der Art, die Wagner vorschwebte, dann vielleicht doch eher konsequent, nämlich in historisch informierter Aufführungspraxis, wie es bei den «Wagner-Lesarten» in Köln versucht wird (vgl. «Mittwochs um zwölf vom 08.12.21). Schliesslich: Wenn Wotan seine Gattin auffordert, in Walhall mit ihm zu wohnen, und die Götter feierlich der Burg zuschreiten, erscheint in Zürich weder Burg noch Brücke, sondern vielmehr ein überlanger weisser Tisch mit goldenem Rand. Obwohl rechteckig, erinnert das Möbelstück an einen anderen überlangen weissen, freilich ovalen Tisch, der dieser Tage, meist von zwei Männern in schwarzen Anzügen besetzt, vielerorts in den Medien erscheint. Die Ähnlichkeit, sie soll nicht als ein Moment deutenden Inszenierens empfunden werden?

Lebensangst und ihre Überwindung

Francis Poulencs «Dialogues des Carmélites» im Opernhaus Zürich

 

Von Peter Hagmann

 

Blanche (Olga Kulchynska) und die Priorin (Evelyn Herlitzius) beim Aufnahmegespräch / Bild Herwig Prammer, Opernhaus Zürich

Wie haben wir ihn nicht geschmäht: als Traditionalisten, als Katholiken, als Boulevardisten. Das war zu Zeiten, da Darmstadt noch den Vatikan der Neuen Musik beherbergte. Sie sind längst vorbei. Heute blickt man entspannter auf die Musik von Francis Poulenc (1899-1963), auf das unangepasste Gloria etwa, auf das verschmitzte Orgelkonzert oder das frischfröhliche Konzert für zwei Klaviere und Orchester. Auch auf die «Dialogues des Carmélites», Poulencs religiöse Oper von 1956, zumal wenn sie so schlüssig dargeboten wird, wie es jetzt am Opernhaus Zürich geschieht. Die Premiere war ein einhelliger, rauschender Erfolg.

Ein grossartiges, ganz und gar eigenständiges Stück, das zeigt der Abend. Und ein Werk, das stark und selbstbewusst am Rand des Repertoires steht. Was Oper zur Oper macht, ist kaum vorhanden. Es gibt keine Arien und keine Ensembles, keine Liebesgeschichte, auch fast keine Handlung. Und: Es gibt keine Männer, die wenigen Vertreter des starken Geschlechts fungieren als dramaturgische Zudiener. Im Zentrum steht eine Gruppe von Nonnen aus dem Orden der Karmeliterinnen, die im Sommer 1794, der Terror der französischen Revolution stand auf seinem Höhepunkt, aus ihrem Kloster vertrieben, zum Ablegen ihrer Tracht gezwungen und schliesslich unter einem Vorwand guillotiniert wurden. Unter ihnen Blanche, eine junge Frau adliger Herkunft, die angesichts der heiklen familiären Verhältnisse an Angstzuständen leidet und im klösterlichen Leben Heilung sucht. Nach der Vertreibung aus dem Asyl taucht sie unter – um sich am Ende wieder ihren Schwestern anzuschliessen und ihnen gleich aufs Schafott zu steigen. Sie hat ihre Angst überwunden, wenn auch um den Preis ihres Lebens.

Die Geschichte ist von Poulenc als seinem eigenen Librettisten in eine über zwölf Bilder reichende Folge von Rede und Gegenrede gefasst, intellektuell auf höchstem Niveau und sprachlich absolut exquisit. Im eigentlichen Sinne vertont ist die Vorlage nicht, die Musik schmiegt sich vielmehr zeichnend und kommentierend unter den Text – fast wie im Melodram. In der Zürcher Produktion ist das besonders stark zu erleben, weil die (an der Premiere noch etwas verwackelte) Philharmonia Zürich unter der Leitung von Tito Ceccherini, eines Kenners der neuen Musik, die ebenso traditionsverbundene wie moderne Sinnlichkeit des Orchesterparts explizit herausstellt. Die Würzung konsonanter Akkorde durch reibende Sekunden, die Terzlage von Akkorden in Momenten besonderer Emphase und erst recht die vielgestaltige, farbenreiche Instrumentation sorgen für eine Haptik ganz eigener Art.

Und für enorme Spannung in einem szenischen Verlauf, der als solcher beinahe unmerklich bleibt. In dem strengen, hochästhetischen, mit wenigen, aber effektvollen Zeichen arbeitenden Bühnenbild von Ben Baur (die in Farbe und Form sehr aussagekräftigen Kostüme stammen von Gideon Davey) sorgt die Regisseurin Jetske Mijnssen für Konkretisierungen des szenischen Moments, die ein ums andere Mal tiefe Betroffenheit auslösen. Einen ersten Höhepunkt bildet die Begegnung von Blanche mit Madame de Croissy, der alten, von schwerer Krankheit gezeichneten Priorin jenes Klosters, in dem die junge Frau unterkommt. Zuerst der Kontrast zwischen der tiefen Lebensweisheit des Alters und der scheuen, aber dringlichen Annäherung der Jugend, dann jedoch, und vor allem, der schreckliche, weil langsame, schmerzhafte Tod der Priorin in den Armen der Novizin. Evelyn Herzlitzius gibt diese beiden Szenen als eine hinreissende Tragödin, geradezu expressionistisch, ohne Schonung der Stimme, mit letztem Einsatz der Körpersprache. Mit der Ukrainerin Olga Kulchynska als Blanche steht ihr eine Darstellerin gegenüber, welch die Eigenheiten der französischen Deklamation mit bewundernswerter Geschmeidigkeit in ihre Stimmkunst integriert hat und ihre Präsenz in der Zurückhaltung findet.

Zugespitzt und feinsinnig zugleich das Finale, in dem die Köpfe rollen. Ganz einfach, sozusagen choreographisch zeigt es Jetske Mijnssen. Eine nach der anderen tritt zu den zischenden Geräuschen des Fallbeils ihren Weg an und löscht dabei ihren mit Kohle auf die raue Wand des Gefängnisses geschriebenen Namen aus, beobachtet von Blanche, die gleichsam aussen steht, dann jedoch als Letzte folgt. Weitergehende szenische Andeutungen, gar eine Guillotine in Aktion, braucht es da nicht, das Dünnerwerden, schliesslich das unvermittelte Abbrechen des «Salve regina» und das leise, trockene Pizziccato, zu dem der Blackout eintritt, sagen genug.

Es ist ein Abend der vertrauensvollen Hingabe an das Werk, verwirklicht durch ein stimmlich charakteristisch besetztes, mit letzter Sorgfalt geführtes Ensemble. Nicolas Cavallier, etwas heftig im Forte, aber vorbildlich in der Aussprache des Französischen, steht als der Vater von Blanche, als der in seinen Gewohnheiten erstarrte Marquis, für die alte Zeit – wie es die Bühne tut, die da einen Kronleuchter und ein höfisches Ballett (Choreographie: Lillian Stillwell) sehen lässt. Man siezt sich im Hause de La Force, auch der Chevalier (mühelos bewältigt Thomas Erlank die Höhen, die zum französischen Tenor gehören) hält es so. Eine andere Welt öffnet sich mit dem Kloster. Dort wird nach dem Tod der alten Priorin mit Madame Lidoine (Inga Kalna füllt die Rolle voll aus) eine etwas einfacher gestrickte, selbstgerechte Nachfolgerin eingesetzt, die von ihrer Stellvertreterin Mère Marie (Alice Coote als eine eindrucksvolle Erscheinung) allerdings sogleich an die Wand gespielt wird. Und dort findet sich auch Sœur Constance, wie Blanche eine Novizin, die von Sandra Hamaoui mit heller, klangvoller Stimme als ein lebenslustiges, aber auch von düsteren Ahnungen erfülltes Wesen vorgestellt wird.

Schönheit verbindet sich an diesem Abend mit Schärfe. Nicht in der direkten Unmittelbarkeit, da folgt Jetske Mijnssen dem Komponisten, der in einem Brief festhält, in den «Dialogues des Carmélites» solle die Revolution eher erahnt als gesehen werden. Sehr wohl aber in den Abgründen der menschlichen Existenz.

Expressionistisch zugespitzt

«Salome» von Richard Strauss zur Eröffnung der Saison am Opernhaus Zürich

 

Von Peter Hagmann

 

Kostas Smoriginas (Jochanaan) und Elena Stikhina (Salome) in der Zürcher Inszenierung von Richard Strauss’ Einakter «Salome» (Bild Paul Leclaire / Opernhaus Zürich)

Es ist kaum zu glauben, aber jetzt geht es wieder los im Opernhaus Zürich. Mit Masken zwar, aber vor vollbesetzten Rängen, mit der in den Orchestergraben zurückgekehrten Philharmonia und Darstellern auf der Bühne, die vor dem auf der Bühne unabdingbaren Körperkontakt nicht mehr zurückzuschrecken brauchen. Möglich macht es das Zertifikat, will sagen: die Impfung, und darüber hinaus die regelmässige Testung. Und wie wenn das Lebenszeichen nicht hätte stark genug sein können, fanden sich zur Saisoneröffnung mit «Salome» von Richard Strauss auf dem edel versteinerten Sechseläutenplatz gut fünftausend Menschen ein, um sich bei allerschönstem Altweibersommerwetter die Übertragung der im Inneren durchgeführten Premiere zu Gemüte zu führen. Die Stimmung war ausgezeichnet. Das tat Not nach den gut eineinhalb Jahren der Einschränkungen – denen das Opernhaus Zürich, das darf wiederholt werden, mit Phantasie und Mut begegnet ist.

Nun ist das Feld wieder etwas freier, und so kann das Theater wieder zeigen, was es sein kann. Der Moment der Befreiung hinterlässt in der Zürcher «Salome» durchaus seine Spuren. Unerhörte Spannung trägt den Abend. Die hundert Minuten dieses Einakters gehen ja ohnehin schnell vorbei, aber so rasch wie jetzt in Zürich, so meine Empfindung, liegt der Kopf selten auf der Silberschüssel. Kaum hat die Prinzessin die Bühne betreten, macht sie deutlich, dass sie nur eines kennt: sich und ihre Wünsche. Elena Stikhina ist weder Girlie noch Matrone, vielmehr eine junge Frau von heute. Ihre Stimme hat einen samtenen Grund, lässt aber gewaltige Expansion zu. Und ihr Drängen nimmt derart obsessive Züge an, dass Narraboth, Mauro Peter gibt ihn als einen sensiblen, ehrlichen Soldaten, geradewegs handgreiflich werden muss – erst gegen die Prinzessin, die er in Verletzung der Etikette von ihrem Vorhaben förmlich zurückzureissen versucht, später mit fataler Folge gegen sich selbst.

Nicht nur von Salome geht elementare Kraft aus, dasselbe gilt für Jochanaan, den Kostas Smoriginas mit glänzendem, dabei nie monochromem, sondern grossartig wandelbarem Metall singt. In seiner Darstellung ist der heilige Mann aus der Zisterne gewiss ein Heiliger, vor allem aber ein Mann. Einer, der über ungeheure Ausstrahlung verfügt; und einer, der nicht lange fackelt. Während sein Erscheinen üblicherweise so bedrohlich wie elektrisierend gezeigt, vor allem aber mit Distanzierung versehen wird, ist er in Zürich fast tierischer Körper, jedenfalls ungezügelter Trieb und damit Salome verwandt. Bevor er die Prinzessin mit Donnerstimme verdammt, spreizt er ihr die Beine – unvermittelt und roh. Eine Vergewaltigung? Eine Bestrafung? Oder gar eine Projektion Salomes, auf der Bühne sichtbar gemacht? Die gleiche Frage stellt sich im Schleiertanz, an dessen Ende Herodes seiner Stieftochter einen Slip unter dem Jupe herunterziehen darf, nachdem Herodias zuvor von Jochanaan brutal genommen worden ist. Jochanaan also doch der rächende Prophet? Mag sein; hat er nicht dem nach dem Suizid noch röchelnden Narraboth den finalen Schnitt durch die Kehle zugefügt?

Darüber darf nachgedacht werden. Herodes und Herodias dagegen, das Paar sorgt auch in Zürich für Amusement. Sie, die auf ihre adlige Abkunft pocht, hat von der Kostümbildnerin Mechthild Seipel eine üppige Abendrobe in der Königsfarbe Rot auf den Leib geschneidert bekommen und ist die Domina: Michaela Schuster bringt das ausgezeichnet über die Rampe. Er, restlos übergekippt, aber durchaus noch seiner (angemassten) Funktion bewusst, zieht sich nicht mehr an, ihm genügt der seidene, mit aufgemalten Federn der über hundert königlichen Pfauen dekorierte Schlafanzug – was alles andere als daneben ist, wenn man bedenkt, wie beim Wiener Kongress 1815 die Herren Diplomaten ihre Verhandlungspartner im Schlafzimmer empfingen. Wolfgang Ablinger-Sperrhacke ist die Traumbesetzung für diese Partie, die hell-klare Lineatur, die perfekte Diktion, das Understatement im Ausspielen der Demenz gelingen ihm perfekt. Überhaupt lebt die Inszenierung des Zürcher Hausherrn Andreas Homoki von scharf gezeichneten Figuren, zugleich aber von feinsinnig durchdachtem Kontext. Wenn Salome davon singt, dass sie seinen Mund küssen möchte, nimmt sie Joachanaans Kopf exakt so in die Hände, wie sie es dann am Ende der Oper, wenn dieser Kopf nicht mehr auf seinem Leib sitzt, tun wird – so werden mit Gesten szenische Subtexte geschaffen.

Zum gedanklichen Beziehungsreichtum trägt auch das Bühnenbild von Hartmut Meyer bei. Zwei Halbmonde, einer oben, einer unten, stehen im Mittelpunkt – so wie in «Salome» immer wieder auf den Mond angespielt wird. Es ist nicht der Mond in romantischer Verklärung, sondern jener des Expressionismus, die Metapher des Nächtlichen, die für Angstzustände und Grenzerfahrungen steht. Warum kommt an diesem Abend gar nicht selten die Erinnerung an Edward Munchs Gemälde «Der Schrei» auf? Es wird des Orchesters wegen sein, der Philharmonia Zürich, die von der Gastdirigentin Simone Young zu beinah schmerzvollem Dröhnen angetrieben wird. Wüst klingt die Partitur, auch in den Passagen, wo sie sinnliches Piano verlangt und sich die Dirigentin mit trockenem Mezzoforte begnügt. «Salome» als expressionistisches Musikdrama und, wie die Dirigentin durchaus zu Recht findet, als Sinfonische Dichtung mit eingelegten Singstimmen in Ehren, doch ein Gepolter, wie es von der in Grossbesetzung angetretenen Philharmonia zu hören ist, muss nicht sein. Zuspitzung braucht, zumal in einem kleinen Haus wie der Zürcher Oper, nicht oder nicht nur Lautstärke, sie braucht mehr noch Schärfungen in der Farbgebung, der Artikulation, der Akzentsetzung. Dass das geht und wie es geht, hat Michael Gielen vorgemacht: im Frankfurter «Ring des Nibelungen» aus den Jahren 1986/87, der mit instrumentaler Kraft nicht sparte und doch der Stimme wie dem Wort ihre Rechte beliess.

Populär – und doch so schwer

Verdis «Nabucco» im Opernhaus Zürich

 

Von Peter Hagmann

 

Veronica Simeoni (Fenena) , Michael Volle (Nabucco) und Anna Smirnova (Abigaille) im neuen Zürcher «Nabucco» / Bild Monika Rittershaus, Opernhaus Zürich

Der Gefangenenchor ist ganz wunderbar gelungen. So leise im Ansatz, so gemässigt im Ausbruch, so liebevoll in der klanglichen Zuwendung ist dieses Zentralstück im Repertoire des radiophonen Wunschkonzerts selten zu hören – der erweiterte Chor des Opernhauses Zürich, von Janko Kastelic vorbereitet, zeigt hier, was er kann. Überhaupt öffnet sich ab dem dritten der vier Teile von Giuseppe Verdis «Nabucco» der Raum für Differenzierung im Dynamischen und für Farbigkeit im Vokalen wie im Instrumentalen. Zuvor aber herrschen musikalisch ein Druck und ein Lärm, wie sie beim Zürcher Generalmusikdirektor Fabio Luisi leider des öfteren vorkommen.

Natürlich, es geht in diesen ersten beiden Teilen von Verdis Jugendwerk um Machtansprüche und kriegerische Konfrontation. Dennoch, so laut, wie es Luisi fordert, muss es nicht werden, es geht ja doch noch um Kunst. Und die leidet in diesen Momenten des neuen Zürcher «Nabucco» erheblich. Michael Volle, im deutschen Repertoire erprobt und inzwischen auch im italienischen Fach approbiert, kann als Nabucco zwar auf eine gewaltige Donnerstimme setzen, aber sein Dröhnen wirkt einförmig und auf die Länge ermüdend. Auch sein Gegenspieler Georg Zeppenfeld muss als Zaccaria derart pressen, dass die Vorzüge seines edlen Timbres nur ansatzweise hervortreten. Die Russin Anna Smirnova, welche die anspruchsvolle Partie der Abigaille kurzfristig von Catherine Naglestadt übernommen hat, zeigt hinsichtlich des dynamischen Durchhaltevermögens keine Schwäche, an der Premiere litt ihr Auftritt dagegen an deutlich hörbaren Mängeln der Intonation. Eine Überraschung Benjamin Bernheim als Ismaele; das biegsame Timbre des französischen Tenors hat derart an Kontur und Glanz gewonnen, dass ihm der vom Dirigenten verfolgte Pegel keinerlei Problem bereitet. In den Schatten gerät dagegen Veronica Simeoni (Fenena); erst nach der Pause vermag sie zu zeigen, über welch grossartiges Potential sie verfügt.

So fehlt es in diesem «Nabucco» nicht an Augenblicken, in denen die Schwächen des Werks und die Problematik seiner Rezeption übermächtig heraustreten – das gilt auch für die Inszenierung des Zürcher Hausherrn Andreas Homoki. Eine riesige, zugleich aber erstaunlich bewegliche Wand, die nach grünem Quarz aussieht, beherrscht die Bühne von Wolfgang Gussmann. In vielgestaltiger Weise wird sie genutzt. Wenn das Heer der Babylonier mit Nabucco an der Spitze gegen Juda aufmarschiert, rückt sie als Ausdruck der Bedrohung so nahe an den Bühnenrand, dass man um die davor am Boden liegenden Chormitglieder zu fürchten beginnt. Zugleich trennt sie den Raum und schirmt sie Gespräche ab – die dann von der anderen Seite her belauscht werden können. Ihre grüne Farbe gibt den Ton vor für die Kostüme der Babylonier, die sich an adliger Mode orientieren, während das Volk Israel in erdfarbenes Tuch kleiner Leute gehüllt ist – eine minimale Andeutung auf die Rolle Verdis und seiner Oper in der Bewegung des Risorgimento. Lebendig geführt der Chor – Homoki kommt schliesslich aus der Schule Walter Felsensteins. Die einzelnen Figuren bleiben zum Teil aber maskenhaft. Immer wieder dreht sich Nabucco um die eigene Achse, worauf das Volk erschrocken zurückweicht – so etwas geht einmal, vielleicht zweimal, danach ist das szenische Zeichen verbraucht. Nach der Pause, wenn sich die dramatische Spannung aus den einzelnen Figuren nährt, gewinnt die Inszenierung an Griffigkeit. Die Probleme, die «Nabucco» bietet, sind damit aber nicht gelöst.