Spielarten des Bösen

Mozarts «Figaro» und Verdis «Macbeth»
an den Salzburger Festspielen

 

Von Peter Hagmann

 

Die Zeit sei aus den Fugen, stellen die Salzburger Festspiele mit Shakespeares Hamlet fest. Das kann man wohl sagen. Ebenso liegt auf der Hand, dass eine Einrichtung wie die Salzburger Festspiele sich nicht in den Elfenbeinturm der künstlerischen Höchstleistung zurückziehen kann, dass sie vielmehr bewusst die Zeitläufte in den Blick zu nehmen hat. Ist das doch eingeschrieben im Erbgut einer Idee, die sich nicht zuletzt als Reaktion auf den Ersten Weltkrieg konkretisiert und 1922 erstmals ihre Form gefunden hat. Dass mit Markus Hinterhäuser, der seit 2016 als Intendant die künstlerische Gesamtverantwortung trägt, etwas expliziter, etwas weniger immanent gelebt wird als ehedem, auch das liegt nahe. Schon in den frühen neunziger Jahren, als er in Salzburg noch eine Randfigur war, sprach Hinterhäuser davon, dass ihn der Krieg in Jugoslawien als Pianisten nicht gleichgültig lasse, die Grenze zu Slowenien sei nicht sehr weit von Salzburg entfernt.

So erstaunt nicht, dass das Opernprogramm der Salzburger Festspiele 2023 unseren so ungut bewegten Tagen den Spiegel vorhält. Grosse Werke der Vergangenheit erzählen dem Publikum von der Gegenwart. Zum Beispiel, in Mozarts «Nozze di Figaro», vom Grafen Almaviva, einem Grapscher, der über Geld und Privilegien verfügt und sich darum alles erlauben zu können glaubt – ganz unbekannt kommt einem das nicht vor. Oder, in Verdis «Macbeth», von einem Offizier, der eine Machtgier sondergleichen an den Tag legt, der über jede Leiche geht und alles zerstört, am Ende sich selbst – auch das löst nicht eben angenehme Assoziationen aus. Falstaff sodann, in Verdis gleichnamiger Oper, auch er ist ein Mannsbild, wie es im Buche steht; dass er am Ende über sich selber stolpert, schafft eine Art Gerechtigkeit. Einen ganz besonderen Gegenwartsbezug weist «Die griechische Passion» auf, die 1961 in Zürich uraufgeführte, selten gespielte Oper von Bohuslav Martinů, die ein Drama um die Ankunft türkischer Flüchtlinge in einem griechischen Dorf zum Gegenstand hat. Ein Programm in solcher Konsistenz muss zuerst einmal erfunden werden.

«Le nozze di Figaro»

Die Idylle trügt… «Le nozze di Figaro» / Bild Matthias Horn, Salzburger Festspiele

Und dann, vor allem, realisiert werden. «Le nozze di Figaro» von Wolfgang Amadeus Mozart hätte problemlos die leicht tänzelnde, von zartem Humor getragene opera buffa werden können, als die das Stück in weiten Kreisen geliebt wird. Damit hatte der Regisseur Martin Kušej bei seiner Inszenierung im Haus für Mozart rein gar nichts am Hut, er schälte vielmehr heraus, mit welch unbarmherziger Präzision das Stück von Beaumarchais, Da Ponte und Mozart den gesellschaftlichen Gegebenheiten auf den Grund geht und die sich andeutenden tektonischen Verschiebungen skizziert. Dass «Le nozze di Figaro» 1786 in der Wiener Hofoper zur Uraufführung kommen konnte, dass Joseph II. die beissende Kritik zuliess, wo die Komödie Beaumarchais’ in Wien auf der Bühne doch verboten war, nur als Buch in deutscher Übersetzung kursierte – es kann immer wieder erstaunen. Auf den Einfluss Da Pontes am Hof allein ist es nicht zurückzuführen, eher noch auf die Einkleidung der fürwahr scharfen Aussagen in feingliedrige Ironie. Indessen steht genau diese Ironie in unseren Tagen dem Stück im Weg, sie verschleiert seine Brisanz. Dem suchte Kušej entgegenzuwirken. Er tat es in der drastischen Art, die für ihn charakteristisch ist – durchaus erfolgreich, wenn auch nicht zu durchgängiger Begeisterung der Kritik.

Almaviva ist das, was heute ein toxischer Mann genannt wird. Dem Ius primae noctis, das kein Gesetz war, doch ein durch die Praxis sanktioniertes Vorrecht, hat er zwar abgeschworen, er tat es aber nur öffentlich. Wenn er von der versammelten Angestelltenschaft des Schlosses dafür gefeiert wird, wirft eine Gruppe junger, weissgekleideter Mädchen ihre von Blutspuren getränkte Unterwäsche gegen eine Glasscheibe (Kostüme: Alan Hranitelj). Mit Susanna, der mit zauberhaft schlanker Stimme und grossartiger Stilsicherheit agierenden Sabine Devieilhe, geht es jedenfalls klar zur Sache – nur braucht es dafür am Ende doch deren zwei. Zum einen scheint Susanna mit ihrem Bräutigam Figaro (Krzysztof Bączyk) nicht wirklich glücklich zu sein, zum anderen mag sie die Gräfin zum Vorbild nehmen (Adriana González versieht ihre Partie mit warmem Klang und starker Ausstrahlung) – die Rosina aus dem Umfeld eines Barbiers von Sevilla, die durch die Verheiratung mit einem gewissen Almaviva gesellschaftlich einen Schritt nach oben getan hat.

Vielleicht schwimmt sie auch nur im Fahrwasser der nicht nur, aber vor allem erotischen Entfesselung, die im Hause Almaviva herrscht. Dafür steht die fast nackte junge Frau, die den Herrn des Hauses sorgfältig einkleidet. Dafür steht aber auch der juvenile, triebgesteuerte Cherubino, den Lea Desandre körperlich agil und stimmlich unerhört berührend verkörpert. Dafür steht in erster Linie aber Almaviva selbst, dem die Pistole locker im Halfter sitzt – selbst dann, wenn er im Schlafzimmer seiner Gattin eine Tür aufbrechen will. Der allseits gepflegte Griff zur Waffe spricht fvom Heraufdämmern der Revolution mit ihren Gewaltausbrüchen und Blutorgien (der Dramaturg Christian Longchamp hat dazu einen informativen Text verfasst, er steht allerdings im Programmbuch von «Macbeth»). Cherubino springt denn auch nicht in einen Garten, sondern in einen Haufen grosser Müllsäcke. Am Ende, nach den vielschichtigen Verirrungen in dem süssen Dickicht des Bühnenbildners Raimund Orfeo Vogt, hat sich der tiers état erhoben, steht Figaro aufrecht auf einem kleinen Hügel, während der Graf – es ist André Schuen, der über ein samtenes Timbre, aber nicht die nötige Tiefe verfügt – auf den Knien vor seiner Gattin um Verzeihung bittet.

Keine Revolution, aber doch so etwas wie einen Aufstand gab es bei den Wiener Philharmonikern, die sich nicht mit dem Mann am Pult anfreunden mochten. Markus Hinterhäuser versucht hartnäckig, den ästhetischen Horizont des Spitzenorchesters aus der Welthauptstadt der Musik zu erweitern. Darum hat er für den «Figaro» Raphaël Pichon engagiert, einen pointierten Vertreter der historisch informierten Aufführungspraxis, der mit seinem Ensemble Pygmalion hervorragende Arbeit leistet. Ein mit Spezialisten besetztes Ensemble und die Wiener Philharmoniker sind wahrlich zwei verschiedene Paar Stiefel, zumal wenn der Dirigent stilistisch auf dem neusten Kenntnisstand zu Werk geht. Am Ende haben sich die beiden Parteien aber gefunden. Pichon konnte vielleicht nicht alles realisieren, was er sich vorgenommen hatte, jedenfalls klangen die Wiener Philharmoniker nicht so, als wäre bei ihnen 1789 ausgebrochen. Aber insgesamt durfte sich der musikalische Ansatz des Abends sehr wohl hören lassen. Die Tempi hielten sich jederzeit in natürlichem Rahmen und waren ausgezeichnet aufeinander abgestimmt. Der Klang blieb leicht, transparent, vor allem von federnder Energie und rhythmischer Präzision geprägt. Und das Zusammenwirken mit der Bühne liess in der dritten Vorstellung nichts zu wünschen übrig.

«Macbeth»

Trautes Ehegespräch… «Macbeth» / Bild Bernd Uhlig, Salzburger Festspiele

Wie sich ein Orchester doch wandeln kann. Unter dem energischen Zugriff des Dirigenten Philippe Jordan klangen die Wiener Philharmoniker bei Giuseppe Verdis «Macbeth» grundlegend anders: unglaublich kraftvoll, ja muskulös, ohne dass die klangliche Schönheit gelitten hätte und die Balance gestört worden wäre, auch ohne jeden Moment der Bedrängnis für die durchs Band ausgezeichneten Sängerinnen und Sänger. Zugleich gelang Jordan dort, wo es die Partitur forderte, der Blick nach innen, hin zu den Befindlichkeiten der einzelnen Figuren und zu den solistischen Einwürfen der Bläser – Verdis Instrumentation erschien an diesem Abend, der zweiten von sechs Vorstellungen von «Macbeth», in neuem, glanzvollem Licht. Hinreissend auch der Auftritt der ausserordentlich gross besetzten Konzertvereinigung Wiener Staatsopernchor, die von Jörn Hinnerk Andresen vorbereitet worden war.

Alles war da ins Grosse gerichtet – wohl der einzig mögliche Ansatz auf der Riesenbühne im Grossen Festspielhaus. Als Ausstatterin liess Małgorzata Szczęśniak die gesamte Spielfläche benutzen – was insofern eigene Ansprüche stellte, als das Stück nur wenige personalintensive Aufzüge kennt. Sie löste das Problem durch die Vervielfältigung der Zahl der Mitwirkenden und die simultane Präsenz von Nebenschauplätzen. Die immer wieder auftauchenden Hexen sind ein Chor blinder Frauen im Saal eines Behindertenheims, die Geister zahlreiche Kinder mit überlebensgrossen Köpfen, während die Bediensteten in ihrer schwarzen Kluft mit den weissen Handschuhen ohne Zahl sind. Dazu gibt es Videoprojektionen in unterschiedlichen Formaten. Von allem so viel, dass das konzentrierte Zuhören fast unmöglich wird.

Nur, was soll der arme Regisseur machen in einem Stück, das zwar den grossen Gefühlsausbruch kennt, sich aber in kleinen Schritten auf das unabwendbare schreckliche Ende hin zubewegt? Krzysztof Warlikowski stellt sich dem oratorischen Zug von «Macbeth» und positioniert den Chor gerne in schwarzen Gewändern an den Rändern der Bühne. Und er arbeitet gezielt mit Nähe und Ferne, mit Weitblick und Fokus. Zu Beginn rollt eine enorm in die Breite gezogene Sitzbank in den Vordergrund, auf der sich die beiden Feldherren Macbeth und Banco über ihre Erfolge freuen – beide, Vladislav Sulimsky wie Tareq Nazmi, in glänzender Verfassung. Dazu darf man über Video einer in einem seitlichen Tunnel vollzogenen gynäkologischen Untersuchung beiwohnen, an deren Ende Lady Macbeth erfährt, dass sie kinderlos bleiben wird. Das ist der Startschuss für den unglaublichen Antrieb zum Bösen, den die offenkundig zutiefst verletzte Frau auslebt, und der Auftakt zu einer sängerischen Grossleistung von seltenem Format. Asmik Grigorian reiht hier einen weiteren Salzburger Stern an Marie, Salome, Chrysothemis und Suor Angelica. Für das Trinklied im Zentrum des Werks mag ihr das letzte Quentchen an Kraft fehlen, aber vielleicht ist die Zurückhaltung auch gewollt, herrscht hier doch nur gespielte Ausgelassenheit. Schliesslich beginnt schon da der Niedergang; bald sitzt Macbeth, Vladislav Sulimsky fasst das stimmlich bewundernswert, vom Schlaganfall niedergestreckt im Rollstuhl, während sich seine irr gewordene Gattin durch ihre Wahnvorstellungen schleppt. Beide Opern, «Figaro» wie «Macbeth», enden in Jubel. Uns Heutigen bleibt bestenfalls ein Glühwürmchen an Hoffnung.

Im Ausnahmezustand – die Salzburger Festspiele 2020

Von Peter Hagmann

Salzburg, ein Sommermärchen?

Im Grunde war es der einzig richtige Weg – im Falle der Salzburger Festspiele erst recht. Während sich das Virus rasant verbreitete, das öffentliche Leben Schritt für Schritt stillgelegt wurde und die grossen Musikfestivals Europas die für den Sommer 2020 geplanten Ausgaben absagten, hielt man in Salzburg erst einmal still. Sehr lange hielt man still. Dann aber, am Abend des 25. Mai, nachdem die österreichische Regierung weitgehende Lockerungen des Corona-Stillstands verfügt hatte, gaben die Salzburger Festspiele bekannt, dass die Ausgabe zum Jubiläum ihres hundertjährigen Bestehens tatsächlich stattfinden werde, wenn auch in modifizierter Form: mit einem ausgeklügelten Sicherheitskonzept für alle Beteiligten, mit einem reduzierten Programm, mit einem deutlich verkleinerten Angebot an Sitzplätzen, mit Anlässen, die, ohne Pause und Gastronomie durchgeführt, eine Dauer von zwei Stunden nicht übersteigen sollten. Das mutige Warten und das tatkräftige Umgestalten des Programms haben sich gelohnt. Die Salzburger Festspiele als die ausstrahlungsmächtigste Institution ihrer Art führten damit vor, dass die Pandemie nicht das Ende der Kultur bedeuten muss.

In Salzburg angekommen, nimmt man mit Erleichterung Anzeichen von Courant normal wahr. Die Flaggen auf der Staatsbrücke wehen wie immer, die Kaffeehäuser sind belegt wie stets, an gewissen Orten herrscht das übliche Gedränge. Und doch: So wie jeden Sommer ist es nicht. Die Masken, in Österreich «MNS» oder «Mund-Nasenschutz» genannt, fallen schon auf, zumal in den Festspielhäusern, wo sie obligatorisch sind. Die Getreidegasse ist so leer, dass man für einmal die Möglichkeit hat, ihre architektonischen Schönheiten zu entdecken. Und im «Bazar» kann man, wenn man sich nicht allzu ungeschickt anstellt, sogar einen Tisch finden. Bemerkenswert auch die Belegung der Spielorte, an denen das Publikum nach der Art eines Schachbretts auf die Sitze verteilt ist; so ist es wenigstens im Grossen Festspielhaus, wo auch einander nahestehende Menschen einen Sitz zwischen sich freizulassen haben (in der Felsenreitschule wird das Prinzip offenbar nicht gar so streng gehandhabt). Der Abstand zum Nächsten ist gefordert – was nicht jedermann als Nachteil empfinden wird, was eine Einrichtung wie die Salzburger Festspiele mit ihrer eminenten sozialen Funktion aber schwer trifft.

Indes geht es in Salzburg wohl doch in erster Linie um die Kunst. In dieser Hinsicht stellte die vollkommene Umstellung des Programms einen Drahtseilakt erster Güte dar, freilich auch einen Schritt, dessen Bedeutung nicht hoch genug eingeschätzt werden kann. Das Angebot musste überdacht und neu disponiert werden. Bisher verkaufte Karten mussten rückvergütet, Plätze für das neue Programm mussten verkauft werden. Ein Sicherheitskonzept war zu entwerfen und zu testen. Und das alles in kürzester Zeit und unter dem Damoklesschwert von Planungsunsicherheit und unklarer Informationslage. So musste denn von dem schön durchdachten, äusserst reichhaltigen Programm zur Jahrhundertfeier der Festspiele Abschied genommen werden. Endgültig ist der Abschied jedoch nicht; weite Teile des Programms sollen zu späteren Zeitpunkten realisiert werden.  Der aussergewöhnlichen Umstände wegen dauert das Jubiläumsjahr der Salzburger Festspiele denn auch bis zum 31. August 2021, das gilt selbst für die anregende Ausstellung «Grosses Welttheater» im Salzburg Museum am Mozartplatz.

«Elektra»

Ausrine Stundyte (Elekttra) und Asmik Grigorian (Chrysothemis) in der Salzburger ,«Elektra» (Bild Bernd Uhlig, Salzburger Festspiele)

Statt der geplanten vier Neuinszenierungen gab es bei den Salzburger Festspielen 2020 also nur deren zwei. «Elektra» von Richard Strauss, einem der Gründerväter der Festspiele, wurde unverändert aus dem ursprünglichen Programm übernommen – eine herausragende Produktion, die erwies, dass die Pandemie das eine, die Kunst dagegen das andere ist. Die Wiener Philharmoniker traten, so machte es den Anschein, in voller Besetzung auf und liessen die opulente Partitur in ganzer Pracht erklingen. Im Moment der Katastrophe am Ende des knapp zweistündigen Einakters drehte das Orchester ungehemmt auf – und da wurde wieder einmal deutlich, dass das Fortissimo nicht zu Stärken der Wiener gehört, die Krone gebührt diesbezüglich den Berliner Philharmonikern. Aber die Farbenpalette, die aus dem Graben der Felsenreitschule drang, war von betörender Sinnlichkeit. Nicht zuletzt ist das dem Dirigenten Franz Welser-Möst zu danken, der mit ebenso viel Fingerspitzengefühl wie Temperament bei der Sache war.

Täuschte der Eindruck oder legte Welser-Möst den Akzent tatsächlich weniger auf die geschärften Seiten der Partitur als auf ihre klangsinnliche Ausstrahlung? Klang am Ende, wie Elektra den ahnungslosen Ägisth in die Arme ihres blutig rächenden Bruders treibt, nicht sogar ein wenig «Rosenkavalier» an? Nicht zu überhören war jedenfalls, dass des Dirigenten Deutungsansatz Hand in Hand ging mit den vokalen und den szenischen Intentionen. Elektra wird vom Regisseur Krzysztof Warlikowski von Anfang an als eine gebrochene Frau gezeigt. Zu Beginn sieht man sie, verkörpert von einem Double, nackt unter einer Dusche stehen, wo sie unter Aufsicht einer herrischen Zofe Körperpflege zu betreiben hat; später wird sie ihrem Bruder sagen, sie habe im Palast zu Mykene alles hergeben müssen, selbst ihre Scham. Es ist weniger die Obsession als deren Ursache, als der heillose Schmerz, der Elektra zu Boden drückt. Ausgezeichnet spiegelt sich das in Stimme und Darstellung von Ausrine Stundyte. Die Sopranistin aus Litauen ist keine Heroine, ihr Timbre zeichnete eher fein und stellt die verletzte Seite der Figur in den Vordergrund.

Ganz anders die Chrysothemis von Asmik Grigorian. Die ebenfalls aus Litauen stammende Salome von 2018 verfügt über eine Stimme von fabulöser Ausstrahlung und enormem Ambitus sowie eine szenische Präsenz sondergleichen. So erscheint die Chrysothemis hier, im Gegensatz zu den allermeisten Inszenierungen von «Elektra», nicht als die etwas biedere, nach Eheglück und Kindersegen strebende kleine Schwester, sondern als eine starke, ganz und gar dem Leben zugewandte Frau – als die Einzige in der Familie der Atriden, die nicht von Fluch und Wahn besessen ist, sondern positive Lebenskraft ausstrahlt. Eine grossartige Besetzungsentscheidung und eine in jeder Hinsicht überzeugende Darbietung auf der Bühne war das. Nicht minder eindrücklich der Orest von Derek Welton. Sein Auftritt mit dem lapidaren ersten Satz «Ich muss hier warten» gerät zum Höhepunkt der Oper; genau hier liegt, so der Eindruck an diesem Abend, die dramaturgische Scharnierstelle. Äusserst berührend in der Folge der Vorgang des Erkennens, an dem Jens Larsen als der alte Diener mit Schauspielkunst vom Feinsten teilhat.

Etwas oft wird an der Rampe gesungen, gewiss; störend ist es nicht. Es kommt der klanglichen Balance zugute, und in der Tat bleiben die Stimmen fast jederzeit präsent – ganz anders als in der letzten Salzburger «Elektra» von 2010, in welcher der Dirigent Daniele Gatti mit seinen Fortissimo-Exzessen das Bühnengeschehen zum Stummfilm werden liess. Darüber hinaus sind die Figuren derart plastisch gezeichnet, dass sie auch in Momenten sparsamer Aktion greifbar bleiben. Zum Ausdruck kommt das etwa bei der Klytämnestra von Tanja Ariane Baumgartner, deren Mezzosopran grandiose Kontur gefunden hat und deren Darstellungskraft enorm gewachsen ist. Ohne jeden Druck macht sie die Klytämnestra zu einer buchstäblich unheimlichen Theaterfigur.

Sie wird dadurch zur Quelle allen Übels – was als Feststellung allerdings darum nicht restlos stimmt, weil in der Inszenierung Warlikowskis der Mythos als allgegenwärtig gezeigt wird. Links auf der Bühne von Małgorzata Szczęśniak steht ein ausladender Kasten. Es ist der Schrein der Erinnerung. Durch die gläsernen Wände wird ein Salon sichtbar, in der die vermeintlichen Sieger der Geschichte, die bald ein unrühmliches Ende finden werden, ihr üppiges Leben führen. Wie sich der Mythos zu erfüllen beginnt, bewegt sich der Schrein ins Zentrum, worauf in einer raffinierten Videoarbeit von Kamil Polak auf den geschlossenen Arkaden der Felsenreitschule das Blut fliesst. Gierig aufgesogen wird dieses Blut von einer wachsenden Zahl an Fliegen, die sich nach und nach zu einem kreisenden Wirbel fügen – eine szenische Metapher, wie sie zum Ausbruch des Wahnsinns und zur musikalischen Explosion am Ende von «Elektra» nicht besser passen könnte.

«Così fan tutte»

Lea Desandre als Despina, Marianne Crebassa: als Dorabella und Elsa Dreisig als Fiordiligi in «Così fan tutte» (Bild Monika Rittershaus, Salzburger Festspiele)

Neben Richard Strauss durfte in dem halben Jubiläumsjahr der Salzburger Festspiele Wolfgang Amadeus Mozart nicht fehlen. Im ursprünglichen Programm war «Don Giovanni» mit Teodor Currentzis und Peter Sellars vorgesehen. Der sinnenfreudige Totentanz musste ersetzt werden; an seine Stelle trat – «Così fan tutte». Wie das? Das Dramma giocoso mit seiner Länge von gut drei Stunden an einem pausenlosen Abend? Gewiss nicht, das Stück wurde auf etwas mehr als zwei Stunden gekürzt – ein Eingriff in ein Allerheiligstes des Kanons, von der Pandemie gefordert und durch sie gerechtfertigt. Das lässt sich umso eher sagen, als die Erstellung der Salzburger Bühnenfassung durch die Dirigentin Joana Mallwitz und den Regisseur Christof Loy ausgesprochen geglückt ist. Gestrichen wurde – das Programmbuch lässt es verdienstvollerweise nachvollziehen – in rezitativischen Teilen, wegfallen mussten aber auch Arien: jene der Despina im ersten Akt, drei der beiden Herren und ein Quartett im zweiten Akt, der in mancher Aufführung etwas Länge zeigt. Natürlich ist es schade um die Musik, die nicht erklungen ist, und um die Proportionen, die gestört sind, der dramatischen Stringenz war das Vorgehen eher förderlich.

Unterstrichen wurde es durch eine Inszenierung, deren Minimalismus beinah zu einer halbszenischen Wiedergabe führte. Die Erinnerung an den «Ring des Nibelungen» Richard Wagners 2013 beim Lucerne Festival lag jedenfalls nahe, zumal die Wirkung von «Così fan tutte» im Grossen Festspielhaus von ähnlich bezwingender Direktheit war. Die Bühne von Johannes Leiacker, ganz in Weiss gehalten, begnügte sich mit einer durch zwei Flügeltüren gegliederten Wand und einigen Treppenstufen, beides über die ganze Breite gezogen. Davor ein Sextett von Darstellerinnen und Darstellern, für die Barbara Drosihn fast durchwegs gehobenes Schwarz heutiger Provenienz entworfen hatte; nur für die Verkleidung von Ferrando und Guglielmo sowie für die beiden Auftritte Despinas als Doktor und als Notar waren Kostüme im eigentlichen Sinn in Verwendung – die Differenz zu Szenenbildern früherer Zeit, zumal solchen aus Salzburg, hätte grösser nicht ausfallen können. Eine Verortung des Stücks durchs Optische blieb ebenso aus wie ein Positionsbezug des Regisseurs zu dem eigenartigen Experiment Don Alfonsos mit dem Partnertausch der beiden jungen Paare. Der puristische Ansatz hatte insofern seinen Reiz, als man sich ganz auf die komplexe Interaktion zwischen den Beteiligten konzentrieren konnte. Umso frustrierter liess einen dann aber das Ende zurück – und damit die Frage, was Mozart und Da Ponte mit dem Stück wollten.

Sah die Inszenierung deshalb doch ein wenig nach Notlösung aus, so wurde dieser Eindruck deutlich relativiert durch die Entschiedenheit, mit der Geschehen musikalisch wie szenisch geformt war. Für einmal waren die beiden Paare als solche problemlos zu erkennen: an den Haarfarben, vor allem aber an den Timbres. Als Fiordiligi brachte Elsa Dreisig, blond, einen leicht geführten, hellen Sopran ein, während Andrè Schuen, dunkelhaarig, als ihr Bräutigam Guglielmo mit einem kernigen, in der Tiefe verankerten Bariton aufwartete. Spiegelbildlich angelegt das andere Paar, bei dem Bogdan Volkov, blond, als Ferrando einen lyrischen, obertonreichen Tenor hören liess, dem Marianne Crebassa, dunkelhaarig, einen samtenen, runden Mezzosopran gegenüberstellte. Auf dieser lange nicht in jeder Produktion so klaren Basis konnte der Regisseur witzig und virtuos mit den Irrungen und Wirrungen des Partnertauschs spielen. Ausgezeichnet gelang dies auch dank der entschiedenen Steuerung des Experiments durch Johannes Martin Kränzle, der einen keineswegs altersweisen, sondern durchaus lebensbezogen fordernden Don Alfonso gab und der mit der Despina der quirligen Lea Desandre eine raffinierte Assistentin an der Seite hatte.

Am Pult die junge Joana Mallwitz, die ursprünglich die Wiederaufnahme der «Zauberflöte» hätte dirigieren sollen, nun aber mit «Così fan tutte» Aufsehen erregte. Zügig ihre Tempi, fast so zügig wie bei Arnold Östman. Sehr leicht und agil der Ton, in dem sie durch die besondere Beleuchtung der Bratschen immer für überraschende Akzente sorgte. Nur wirkten leider die Wiener Philharmoniker, anders als bei «Elektra», hier nicht besonders inspiriert. Sie traten mit der Dirigentin nicht wirklich in Dialog, sie versahen ihren Part eher so, wie sie ihn immer versehen. In Fragen der Artikulation und des sprechenden Musizierens blieben einige Wünsche offen. Das führte zumal im zweiten Akt (und trotz der dort vorgenommenen Kürzungen) immer wieder zu Durchhängern in einer sonst sehr animierten Produktion.

Wie auch immer: Gut, dass die beiden Abende stattfanden. Erst recht, dass sie auf diesem Niveau stattfanden. Auf dem Salzburger Niveau – Corona hin, Corona her.