Der dritte Weg

Abschluss von Wagners «Ring des Nibelungen» im Opernhaus Zürich

 

Von Peter Hagmann

 

Brünnhilde (Camilla Nylund) und Hagen (David Leigh) / Bild Monika Rittershaus, Opernhaus Zürich

«Vollendet das ewige Werk» – so verkündet es Wotan zu Beginn der zweiten Szene von «Rheingold», dem Vorspiel zu Richard Wagners «Ring des Nibelungen». Geschätzte fünfzehn Stunden später, am Ende der «Götterdämmerung», liegt alles in Schutt und Asche. Da sitzt er nun wieder träumend in seinem Sessel, den Schlapphut auf dem Kopf und den noch (oder wieder) heilen Speer in der rechten Hand. Der mächtige Bilderrahmen vom Beginn, der den Blick auf die von den Riesen erbaute Burg eingefasst hat, ist inzwischen leer. Wenig später füllt er sich wieder mit dem jetzt allerdings im Vollbrand stehenden Bau, Theaternebel von links und rechts wird hereingeblasen, orange flackerndes Licht dazugegeben, während die wie stets hervorragende technische Abteilung von Sebastian Bogatu sogar einen lichterloh brennenden Statisten über die Bühne eilen lässt.

Auch hier, wie beim Drachen und der Kröte, wie beim Baum Hundings und Brünnhildes Felsen in früheren Phasen des Geschehens, mochte der Regisseur Andreas Homoki nicht auf die von Wagner vorgegebenen und vom Publikum bis heute erwarten Effekte verzichten. Er hätte sich dadurch allzu sehr in die Nähe jener auf Reduktion und Abstraktion fokussierten Bühnenästhetik begeben, die von Wieland Wagner ab 1951 in Neu-Bayreuth als Markenzeichen gepflegt wurde und in der Folge weite Kreise zog – bis hin zur letzten Zürcher Inszenierung von Wagners «Ring», jener von Robert Wilson aus den Jahren 2000 bis 2002, die genau diesen Ansatz verfolgt hat. Die leere Bühne war also ausgeschlossen.

Ebenso ausgeschlossen war freilich, daran hat Homoki von Anfang an keinen Zweifel gelassen, ein Ansatz im Geist des Regietheaters, das sich seit dem zur Legende gewordenen «Jahrhundert-Ring» mit Patrice Chéreau (und Pierre Boulez am Dirigentenpult) zum hundertsten Geburtstag der Bayreuther Festspiele im Sommer 1976 der Tetralogie bemächtigt hat. Dort richtete sich der Blick auf die sozialen und politischen Verhältnisse, in deren Zeichen «Der Ring des Nibelungen» entstanden ist. Leicht liessen sich die hieraus gewonnenen Erkenntnisse auf die Gegenwart der Aufführung übertragen: der «Ring» als Plattform aktueller Gesellschaftskritik, Wotan mit dem Aktenkoffer als Chef der Walhalla AG. Durchkreuzt wurde diese eifrig benützte Schiene der Deutung von der sich auch auf der Bühne des Musiktheaters ausbreitenden Tendenz zur Dekonstruktion; sie führte in ein Chaos, die immer häufiger die Frage aufkommen liess, ob sich in Sachen «Ring des Nibelungen» nicht eine Aufführungspause aufdränge.

Von all dem liess sich Andreas Homoki nicht beirren. Stracks suchte er den Befreiungsschlag, ging auf Feld eins zurück – und gewann, wie jetzt auch die «Götterdämmerung» erwies. Zwar gab es einen Anklang an die Entstehungszeit der Tetralogie, hatte der Ausstatter Christian Schmidt die Drehbühne doch mit Wänden in gründerzeitlicher Anmutung versehen; geschickt eingerichtet sorgte sie auch im letzten der vier Teile für Geschmeidigkeit in der Abfolge der Spielorte, und die merklich abgeblätterten Farben zeigten an, dass hier eine Ära, jene der Lichtalben, ihr Ende zu finden im Begriff steht. Ebenfalls zu entdecken war ein Hinweis auf den leeren Raum von Neu-Bayreuth: in der Sparsamkeit der Ausstattung. Auch in der «Götterdämmerung» sind nur wenige, mächtige Requisiten im Einsatz, so dass reichlich Bewegungsfreiheit herrscht und sich sogar der ausgezeichnete, klangvoll wie linienklar wirkende Oprnchor (Einstudierung: Ernst Raffelsberger) ohne Enge zurechtfindet. In seinen Auftritten wird übrigens manifest, wie an diesem weit ausholenden Theaterabend Bühnenleben entsteht. Die Chormitglieder sind allesamt als Individuen ausgestaltet, dies ganz im Geiste Walter Felsensteins, einem der Ahnen Homokis.

Hier, in einem sozusagen dritten Weg, liegt das Fundament der neuen Zürcher Inszenierung von Wagners «Ring». Befreit von szenischem Ballast und interpretativem Überbau wird die Geschichte ganz und gar aus den Figuren heraus erzählt. Und das bis in die hintersten Winkel des Geschehens, wie etwa die kleine Partie der Gutrune erweist. Sehr pointiert gibt sie die Australierin Laren Fagan, die gewinnend singt und hervorragend deklamiert, als eine junge, naive, etwas verklemmte Frau, die von dem ihr weit überlegenen, jedoch durch einen Trank betäubten Siegfried erst geblendet wird, an ihm dann aber nach und nach Statur findet. Ganz ähnlich, wenn auch in der gegenteiligen Richtung, Gutrunes Bruder Gunther, der, Daniel Schmutzhard verkörpert das trefflich, als ein Weichei mit übersteigertem Selbstbewusstsein erscheint. Sie sind Marionetten, die beiden Gibichungen. Denn im Zentrum steht er: Hagen.

Alle anderen überragend, in einen bodenlangen schwarzen Mantel gehüllt, unter dem aber doch eine Nibelungen-golden verkleidete Brust hervorglänzt, mit zottigem Schwarzhaar versehen, bisweilen hämisch grinsend, erscheint er als der Böse, wenn nicht das Böse schlechthin. David Leigh bringt das blendend über die Rampe. Er kann auch auf eine nachtschwarze stimmliche Tiefe setzen, die keinerlei Schwäche kennt – nur die Deklamation, zumal die Formung der Vokale, die lässt doch sehr zu wünschen übrig. In seiner Rechten trägt er einen langen Speer, jenem Wotans nachgebildet, nur, was Wunder, mit schwarzem Schaft. Und in seiner Brusttasche findet sich für jeden Zweck das passende Fläschchen. Sein Ziel liegt blank auf der Hand, sein Vater Alberich (Christopher Purves) muss ihn nicht extra motivieren: Es ist die definitive Vernichtung jener ehemals herrschenden, nun noch durch Siegfried repräsentierten Schicht, die auf krummen Wegen in den Besitz des Wunder wirkenden Rings gekommen ist. Der Plan geht freilich nicht auf, am Ende wird Hagen durch die drei Rheintöchter kurzerhand aus dem Fenster in die Fluten des Rheins gestürzt.

Das alles wird in derart packender Weise vorgeführt, dass man sich als Zuschauer (und als Zuhörerin) restlos gebannt auf die Geschichte einlässt. Sich am Bühnenrand paarende Krokodile wie in Frank Castorfs Bayreuther «Ring»-Inszenierung von 2013 gibt es in Zürich nicht zu sehen, dafür den Entwurf einer Welt, der zwar hundertfünfzig Jahre alt ist, aber nicht wenig mit dem Hier und Jetzt zu tun hat. Genährt wird die Verwirklichung dieses Entwurfs von einem Paar, das man sich genuiner nicht vorstellen kann. Mit ihrem kraftvollen Timbre und ihrer sagenhaften Bühnenpräsenz sorgt Camilla Nylund als Brünnhilde energisch für Ordnung. Ihrer Schwester Waltraute – Sarah Ferede meistert ihren Auftritt überragend – bietet sie standfest die Stirn, die schwarz gekleideten Mannen rund um Hagen weiss sie in ihrem blütenweissen Gewand jederzeit zu zähmen, ihren Kampf um die Wahrheit hält sie mit einer Unbeirrbarkeit sondergleichen aufrecht. Ihr gegenüber steht mit Klaus Florian Vogt ein Siegfried, der sich in dieser Produktion stimmlich wie darstellerisch grandios wandelt. In der «Walküre» als Kind und als Pubertierender eher lyrisch angelegt, nimmt er in der «Götterdämmerung», wo er seiner gewiss wird und es trotz der benebelnden Getränke Hagens bleibt, nach und nach heldisches Format an – als künstlerische Leistung ist das schlicht überwältigend.

Getragen, nein: klar mitgestaltet wird diese «Götterdämmerung», wie es in den Teilen zuvor war, vom Orchester, der Philharmonia Zürich, unter der Leitung von Gianandrea Noseda. Mit dem Einsatz des tiefen Blechs, das sich auch hier und hier erst recht, lautstark über alles hinwegsetzt, werde ich mich nie anfreunden können. Die einseitige Gewichtung stört die Balance, ja die musikalische Struktur – etwa dann, wenn das trötende Blech aus der Tiefe einen zarten Akkord der Holzbläser, mit dem ein Leitmotiv anhebt, verdeckt und zerstört. Nicht zu überhören ist jedoch, dass Noseda, der hiermit seinen ersten «Ring» hinter sich gebracht hat, sehr überzeugend in die Partitur hineingewachsen ist, viele Verästelungen hörbar macht und mit herrlichsten Farbwirkungen aufwartet. Zumal am Ende, da das Unheil, das vom Ring des Nibelungen ausging, im Rhein versunken ist und die nunmehr allein dastehenden weissen Wände an einen Neubeginn, vielleicht gar einen besseren, denken lassen. Das wär dann die Moral von der Geschicht.

Wagners «Ring» nach Basler Art

Von Peter Hagmann

 

Brünnhilde (Trine Møller) klärt Sieglinde (Theresa Kronthaler) auf, Siegfried, noch ungeboren, aber anwesend, hört zu: «Die Walküre» im neuen Basler «Ring des Nibelungen / Bild Ingo Höhn, Theater Basel»

Nun hat der «Ring» auch Basel ergriffen – und wie. Anders als in Bern und Zürich, wo die Nibelungen seit der Spielzeit 2021/22 ihr Unwesen treiben, wird Richard Wagners Tetralogie am Theater Basel nicht einfach an und für sich gezeigt – was nach den gescheiterten Annäherungen im frühen und im späten 20. Jahrhundert für ausreichend Sensation gesorgt hätte. Nein, am Rheinknie erscheint der «Ring» eingebettet in ein Festival, das die Geschichte in einem Vorabend und drei Tagen sinnlich oder kritisch begleitet. Das greift freilich etwas hoch. Unter dem Titel «Rheinklang» gibt es vor den Aufführungen von «Rheingold» auf dem Theaterplatz ein «Chorritual» des Briten Matthew Herbert, das den Fluss, in dem das Gold lagert, zu den wartenden Zuschauern und den vorbeigehenden Passanten bringt.

Vor der grossen Treppe stehen fünf Schalen mit den brennenden Scheiten aus der «Götterdämmerung», vor einem Mikrophon finden sich schwarz gekleidete Sängerinnen und Sänger ein, die den Ton Es aus dem Vorspiel zu «Rheingold» intonieren; in der Folge schliessen sich ihnen Mitglieder aus dem Chor und dem Extrachor des Theater Basel an, die, in einer langen Kolonne die Feuerschalen umkreisen und ebenfalls das Es, bisweilen auch das dazugehörige B intonieren. Immer enger werden die Kreise, bis schliesslich alle das Wasser aus ihren mitgebrachten Gefässen über die starken Scheite in den Schalen giessen und eine dichte Rauchwolke aufsteigt. Eine Kürzestfassung der Tetralogie, die zwar Zusammenhänge schafft, in ihrem latenten Jekami-Charakter aber nicht mehr als nette Stimmung erzeugt, jedenfalls wirklich Substanzielles beisteuert.

Drinnen im Haus geht dann aber die Post ab – am einen Abend mit «Rheingold», am zweiten mit der «Walküre» (die Teile drei und vier folgen in der kommenden Spielzeit). Was hier sogleich ins Auge fällt, ist der bis auf einen kleinen Schlitz geschlossene Orchestergraben – ganz nach der Art des Bayreuther Festspielhauses. Das Sinfonieorchester Basel sitzt in grosser Formation nicht nur im Graben, sondern auch in der sogenannten Garage, einem Raum, der sich hinter dem Graben weit unter die Bühne erstreckt. Dort, wo sonst Bretter die Welt bedeuten, ist ein schwarzes Gitter eingefügt, durch das der instrumentale Klang in den Zuschauerraum findet. Die Kommunikation zwischen dem orchestralen Nibelheim und der Bühne wird mit Hilfe von Bildschirmen erzeugt. Unerhört voll und fasslich klingt das Orchester für den Zuhörer in der vierten Reihe; später, auf einem Platz hinten auf der Estrade, ändert sich wenig an diesem Eindruck. Saft und Kraft in aller Schönheit erzeugen die Streicher, aber auch die Hörner, während die solistisch hervortretenden Bläser, namentlich das Englischhorn, farbig schimmernde Linien aufscheinen lassen.

Das alles geschieht unter der Leitung von Jonathan Nott, der 1996 als junger Kapellmeister in Wiesbaden seinen ersten «Ring» dirigiert und im Wagner-Jahr 2013 mit einer konzertanten Aufführung der Tetralogie sensationellen Erfolg erzielt hat. Die Erfahrung ist zu hören. In Wagners Partituren kennt er sich eins zu eins aus; mit sicherem Gespür für die Tempi und ihre Verbindungen, mit instinktivem Gefühl für das Rauschhafte und zugleich mit untrüglichem Wissen um die Einzelheiten zieht er durch die beiden Abende: als ein genuiner Theatermusiker, der den Leitmotiven ihre Rechte lässt, sich aber nie bemüssigt fühlt, den belehrenden Zeigefinger auszustrecken. Alte Instrumente, wie sie diesen Sommer beim Lucerne Festival zu hören waren, haben ihren Reiz; in Basel ist zu erleben, dass es auch ohne sie zu spannenden Ergebnissen kommen kann.

Die spezielle szenische Konfiguration bildet die Basis für Musiktheater im Raum – denn Benedikt von Peter, Intendant des Theater Basel und, zusammen mit Caterina Cianfarini, Regisseur des Basler «Ring», ist ein Raumkünstler. Das hat er in verschiedenen, in ihrer Wirkung oft überwältigenden Inszenierungen, etwa mit Luigi Nonos «Prometeo» 2016 in Luzern oder in Basel 2020 mit «Saint-François d’Assise» von Olivier Messiaen, vor Augen geführt. In Wagners Tetralogie macht die Heranführung der Darstellerinnen und Darsteller auf der Bühne ans Publikum heran besonders Sinn und gehörig Effekt. Wer die bebenden Körper ganz nah vor sich sieht und dabei jedes Wort versteht, bekommt eine Ahnung davon, was Singen heisst – erst recht Singen auf der Bühne und Wagner-Singen. Indessen weist das Konzept zwei entscheidende Schwächen auf. Zunächst ist die Nähe natürlich nur in den ersten Sitzreihen wirklich erlebbar; wer seinen Sitz weiter hinten im Zuschauerraum vorfindet, für den bleibt die Nähe fern wie stets in der Oper – zumal die durch Natascha von Steiger konzipierte Einheitsbühne mit grossen Elementen, etwa einem mehrstöckigen Holzhaus als Sinnbild für die Burg Walhalla, arbeitet und den Blick in den Hintergrund zieht. Das führt zu einer deutlichen Ungleichbehandlung des Publikums.

Vor allem aber erhält in der Basler szenischen Einrichtung der Körperausdruck besonderes Gewicht – und der ist, wie stets bei Benedikt von Peter, handgreiflich, bisweilen jedoch nicht sonderlich differenziert ausgeprägt. Zwar setzt das die musikalische Vitalität fasslich in Gang und Geste um, zugleich aber steht es dem Werk Wagners im Weg. In den beiden grossen Streitgesprächen zwischen Wotan und Fricka in «Rheingold» wie in der «Walküre» verliert die hochstehende Schlagfertigkeit und dessen musikalische Umsetzung an Schärfe, weil zu viel szenische Betriebsamkeit herrscht. Mit seinem dunklen Timbre gibt Nathan Berg einen überherrischen und darum schon merklich angeknacksten Göttervater, der viel zu oft und viel zu stark auf den Tisch haut, während Solenn’ Lavanant Linke die Göttergattin packend singt, aber zu sehr mit Hysterie versieht. Auch der Loge von Michael Laurenz, stimmlich von hohem Format, wirkt überzeichnet. Rollendeckend dagegen die Erda der ehrwürdigen Hanna Schwarz und Frickas Schwester Freia, die für einmal nicht von einer Soubrette, sondern von Lucie Peyramaure mit ihrer pointierten stimmlichen Präsenz gesungen wird.

Das alles findet Platz in einer Inszenierung, die den «Ring des Nibelungen» als Rückblende, als Erinnerung Brünnhildes an ihr Leben, zu erzählen sucht. Wotans Lieblingstochter, Trine Møller bringt das mit farbenreicher Stimme, aber ebenfalls mit etwas heftiger Körpersprache zur Geltung, sieht ihren Vater, seinen zum Scheitern verurteilten Machtanspruch, ausgesprochen kritisch – ja, sie schildert es so, dass ihre Stiefmutter Fricka als Anführerin einer Verschwörung gegen Wotan erscheint. Immer wieder tritts Fricka hinter einer Wand hervor und fordert, ohne ein Wort zu singen, von ihren Untergebenen Donner (Michael Borth) und Froh (Ronan Caillet), ins Bühnengeschehen einzugreifen. Dieses Geschehen zeigt sich in einer Art Zeitlosigkeit, indem sich Ungleichzeitiges gleichzeitig ereignet. Die handelnden Figuren sind in ihren unterschiedlichen Lebensaltern gegenwärtig – Siegfried zum Beispiel mit einem Hörnchen am Gürtel und einem Holzschwert als Kind, auch als Jugendlicher. Das mag aufgesetzt wirken, denkt aber die dramaturgischen Ansätze Wagners weiter, denn durch die Leitmotive und die immer wieder eingefügten Rekapitulationen bleibt die Tetralogie über weite Strecken als Ganzes präsent.

Allerdings schafft die Basler Art der Bühnenerzählung für das Publikum auch Momente der Verwirrung und solche der Ablenkung. Zudem wird hier «Der Ring des Nibelungen», der von A bis Z durchkomponiert ist, durch unnötige, weil banale Zwischentexte unterbrochen. Dabei gäbe es reichlich genug zu erleben. «Rheingold» etwa als ein ins Grosse verlängertes Puppentheater, in dem die Rheintöchter wie in den ersten Inszenierungen der Tetralogie als an Stäben geführte Nixen erscheinen, während Alberich (der vorzügliche Andrew Murphy) als riesige Kröte herumhüpft und später als veritabler Drache aus den seitlichen Vorhängen hervorschnaubt. Oder in der «Walküre», mit Ric Furman und Theresa Kronthaler, Siegmund und Sieglinde als ein von Anfang an schwer gefährdetes Liebespaar. Artyom Wasnetsov gibt einen furchterregenden Hunding, Runi Brattaberg neben Thomas Faulkner als Fasolt einen nicht weniger schlagkräftigen Fafner, und Karl-Heinz Brandt macht als Mime auf die Fortsetzung im nächsten Herbst neugierig.

Von den Nibelungen, deren rhythmisch vertrackte Hammerschläge leider nicht sehr gut vernehmbar geraten, wird erzählt, sie gewännen das Gold in den Tiefen des Rheins und dort in Schluchten und Grüften. Fast in denselben Worten berichtet das die Basler Mission in einer aus dem 19. Jahrhundert stammenden Schilderung ihrer Tätigkeit in Afrika. Dies im Rahmen eines dokumentarischen Theaterstücks von Regine Dura und Hans-Werner Koestinger mit dem Titel «Gold, Glanz und Götter» – einem Teil des Festivals zum «Ring». Es handelt vom globalen Wirken der Basler Handelsherren, die mit ihren auch den Sklavenhandel einbeziehenden Dreiecksgeschäften zwischen Europa, Afrika und Südamerika im Namen Gottes des Herrn mächtig Gold an die Gestade des Rheins gebracht haben. Davon die Rede ist zunächst in einem kleinen Raum im obersten Stock des Basler Stadttheaters, später dann, nach einem eiligen Gang durch ein endlos wirkendes Treppenhaus in die tiefste Tiefe des Materiallagers. Dort wird diese von heute aus peinliche Geschichte anhand vieler nicht ganz neu entdeckter, aber doch hochinteressanter Dokumente ausgebreitet. Und dort kommen auch wieder jene Messing-Gefässe zum Einsatz, die schon im «Chorritual» auf dem Theaterplatz zu sehen waren und die auf der Bühne als Rheingold den Körper Freias zudecken. Auch hier: Leitmotive. Aber solche der eigenen Art.

Ein Musiktheatermärchentraum

«Siegfried» zur Fortsetzung im Zürcher «Ring»

 

Von Peter Hagmann

 

Das Waldvögelein (Rebeca Olvera) und Siegfried (Klaus Florian Vogt) im Walde / Bild Monika Rittershaus, Opernhaus Zürich

Mit keinem Werk der Operngeschichte, auch nicht mit Mozarts «Don Giovanni», ist eine derart komplexe, derart heftig diskutierte Wirkungsgeschichte verbunden wie mit dem «Ring des Nibelungen». Bis heute und in anhaltender Intensität fordert und irritiert Richard Wagners Tetralogie die Musiker, die Theatermacher, das Publikum. Die Leerräumung der Bühne und die Einführung der geneigten Scheibe als Spielort, von Wieland Wagner in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg eingeführt, der pointierte Einbezug gesellschaftspolitischer Allusionen durch Patrice Chéreau und die klangliche Auflichtung des Orchesterparts durch Pierre Boulez im Bayreuther «Jahrhundertring» von 1976, die Blüten des Regietheaters, die in den letzten Jahrzehnten einigen erhellenden und zahlreichen entstellenden Deutungsversuchen  Raum geschaffen haben – das alles gehört ebenso zum «Ring» wie die Aufregungen, die aufschäumen, wenn Wotan den Aktenkoffer des Kapitalisten mit sich führt oder Alberich keinen richtigen Tarnhelm herzeigt. Im Opernhaus Zürich freilich herrscht einhellige Begeisterung: im neuen «Ring», genauer: bei «Siegfried», wo ein drolliger Bär über die Bretter eilt (Kompliment an Dominique Misteli), wo ein sehr zeitgemässer Drache, pardon: ein Dragon seine Nüstern bläht und dann sein Leben aushaucht (Gratulation an den «Tierpfleger» Marius Kob), wo in der Esse die Flammen machtvoll aufschiessen und danach das Schwert bedrohlich glüht (der nie um eine Lösung verlegenen technischen Abteilung unter der Leitung von Sebastian Bogatu gebührt endlich auch einmal ein Kranz).

Wenn somit alles vorhanden ist, was gemäss Textbuch vorhanden sein muss, und umgekehrt nichts von jenen Modifikationen zu erleiden ist, die eifrige Regisseure vorzunehmen lieben – wo stehen wir dann? Erliegen wir dann nicht dem Irrtum, man könne auch bei einem Grossentwurf wie dem «Ring des Nibelungen» sozusagen zum Punkt Null zurückkehren und das Nachleben, das zum Werk gehört wie seine Niederschrift, mir nichts, dir nichts ausblenden? Und mehr noch: Liegt diesem Irrtum nicht eine retrospektive Haltung zugrunde, ja gar eine Negierung der Notwendigkeit, ein Kunstwerk immer und immer wieder neu im Licht der jeweiligen Gegenwart zu lesen – die Werke also notfalls, wie es im Sprechtheater zum Leidwesen vieler Besucher geschieht, zu dekonstruieren und sie der Jetztzeit gemäss neu zusammenzusetzen? Je weiter der neue Zürcher «Ring» voranschreitet, desto deutlicher wird, dass von all dem nicht die Rede sein kann. Auch in «Siegfried» verzichtet der Zürcher Hausherr Andreas Homoki als Regisseur nämlich darauf, seine eigenen Ansichten zur Tetralogie in Szene zu setzen; er schaut vielmehr einfach mit aller Genauigkeit hin und zeigt, was er in Wagners Text liest und in seiner Musik hört. Lesen und hören tut er freilich mit hellwachem Geist. Und sichtbar werden lässt er die Ergebnisse dieses Wahrnehmungsprozesses mit genuinem Theatersinn, ausserdem mit verspielter Phantasie und erheiternder Ironie. Wie ein Märchen zieht «Siegfried» an einem vorüber; die vier Stunden reiner Aufführungsdauer gehen im Nu vorbei – vielleicht mit Ausnahme des dritten Aufzugs, gegen dessen Ausführlichkeit nun einmal kein Kraut gewachsen ist.

Ganz langsam hebt sich der Vorhang, wenn das düstere Vorspiel zum ersten Aufzug anhebt. Eindrücklich die Farbenspiele, die mit denen die Philharmonia Zürich unter der Leitung von Gianandrea Noseda aufwartet; was der Solist an der Kontrabasstuba da an Pianissimo-Klängen herzaubert, ist von aussergewöhnlichem Format. Die von Christian Schmidt entworfene Ausstattung führt weiter, was in «Rheingold» und «Walküre» angelegt wurde. Die gründerzeitlichen Räume auf der Drehbühne wirken etwas enger als in den vorangehenden Teilen – oder erscheinen sie nur so, weil die Farben dunkel gehalten sind und das Mobiliar, inzwischen in herbe Unordnung geraten, gewachsen scheint? Tatsächlich befinden wir uns in einer Art Kinderstube. Siegfried, stürmisch zwar, trägt noch die Eierschalen hinter den Ohren, Klaus Florian Vogt zeigt das sehr schön. Er nimmt den Anfang ausgesprochen lyrisch, wird dabei vom Orchester jedoch mehr als einmal bedrängt. Überhaupt lässt Noseda gerne die Muskeln spielen, was bisweilen von umwerfender Wirkung ist, aber auch Fragen aufwirft; warum zum Beispiel die tiefen Bläser immer wieder so hässlich schnarrend dominieren, ist nicht zu verstehen. Siegfried jedenfalls ist da und dort kaum zu hören – nicht weil Vogt seinen wandelbaren Tenor mit Blick auf die Anforderungen der Partie schont, sondern weil er die unbekümmerte Naivität, auch die Verletzlichkeit des jungen Siegfried heraustreten lässt. So sehr er seinen Ziehvater verachtet, sucht er, wenn er vom Tod seiner Mutter erfährt, doch auch Schutz in dessen Armen.

Mime wiederum ist mehr als eine Karikatur, er ist ein Mensch, wie es heute nicht wenige gibt: zerfressen von der Gier nach dem Ring und nicht eben uneitel, seinem Vorhaben aber nicht wirklich gewachsen. Wolfgang Ablinger-Sperrhacke, dessen Timbre gegenüber früheren Zeiten milder geworden ist, kennt sich in dieser Partie aus wie in seiner Hosentasche; virtuos bringt er sie über die Rampe. Besonders gelingt das in dem von betörenden Sequenzen getragenen Fragespiel, in das ihn der unbekannte und unerwünschte Wanderer verwickelt. Tomasz Konieczny glänzt hier erneut mit unerhörter stimmlicher Pracht und Lust am Auskosten jeder einzelnen Silbe, vor allem aber auch mit Schauspielkunst vom Feinsten. Am Ende finden sich die beiden ungleichen Kontrahenten in dem inzwischen etwas abgewrackten Prunksaal mit dem langen Besprechungstisch, in dem sich der Wanderer zu erkennen gibt, nur versteht es Mime nicht. Genau dort erlebt Wotan/Wanderer seinen endgültigen Niedergang: nach der packend gelingenden Begegnung mit dem ahnungslosen, aber umso selbstgewisseren Siegfried und dem Schlag von dessen Schwert auf den Speer des Göttervaters.

Vorangegangen waren Momente zauberhaften Theaters. Der Zwist zwischen Alberich (Christopher Purves) und Wotan, der Auftritt des zierlichen Waldvögeleins von Rebeca Olvera und der Kampf Siegfrieds mit dem in aller Körperfülle erscheinenden Drachen, dem dann mit David Leigh ein in der Produktion neuer, aber sehr valabler Fafner entsteigt, schliesslich auch die für Wotan ungut ausgehende Besprechung mit Erda (Anna Danik). Dann aber wechselt die Szenerie, verabschiedet sich die Drehbühne für einen Augenblick zugunsten einer vornehm getäferten Wand in edelstem Graugrün und dem Felsen mit der schlafenden Brünnhilde – auch ein diskreter Hinweis auf den Unterbruch in der Entstehungsgeschichte der Tetralogie. Seinen Abschied nimmt hier auch gleichsam der Regisseur, er überlässt das Feld dem Text und der Musik. Einmal mehr darf man staunen über das psychologische Einfühlungsvermögen Wagners lange vor Freud. Und darf man die Kunst bewundern, mit der Klaus Florian Vogt, noch immer frisch, und Camilla Nylund als die aus tiefem Schlaf erwachende Brünnhilde die schwierige Annäherung von Mann und Frau meistern. Wie Siegfried erschrickt ob dem Anblick der Frau ohne Brünne und dann in tiefer Angst nach der Mutter ruft, wie sich Brünnhilde vor der Berührung durch den Mann fürchtet, und das keineswegs nur aus Gründen des Statusverlusts, wie feurig die beiden endlich das wie zufällig bereitstehende Bett in Besitz nehmen – alles feinsinnig ausgearbeitet, hochspannend und tief berührend.

Schöne heile Theaterwelt

Wagners «Rheingold» als Vorabend zum neuen Zürcher «Ring»

 

Von Peter Hagmann

 

Bild Monika Rittershaus, Opernhaus Zürich

Aufführung ohne Interpretation, geht das? Immer und immer wieder ist es behauptet worden – von Igor Strawinsky, der seine Musik lieber dem mechanischen Musikinstrument Pleyela überantwortete als den Interpreten seiner Zeit, auch von einem unverdächtigen Dirigenten wie Günter Wand, der für sich in Anspruch nahm, in seinem Tun ausschliesslich auf den Notentext zu reagieren. Und nun hat auch Andreas Homoki, der Intendant des Opernhauses Zürich, diese Fährte aufgenommen. Seine Inszenierung von Richard Wagners «Ring des Nibelungen», die jetzt mit «Rheingold» eröffnet worden ist und im Lauf der beiden kommenden Spielzeiten vollendet werden soll, möchte nicht eine Deutung der von Wagner erdachten Vorgänge zeigen, sondern die Vorgänge selbst. Der Regisseur mithin nicht als Interpret, sondern als Spielleiter, der szenisch lebendig werden lässt, was Wagner zu Papier gebracht hat. Zurück zum Text selbst, zu den Ursprüngen, so lautet Homokis Maxime – eine Haltung, die sich nicht zuletzt an der Tatsache orientiert, dass Wagners «Ring» zu grossen Teilen in Zürich entstanden ist.

Wenn sich nach den ersten, noch im Dunkeln erklingenden Takten des Vorspiels die Szene erhellt, wird die Drehbühne sichtbar: der Ring als Kreis und das Kreisen als die Beweglichkeit der Fluten. Zu sehen sind in der Ausstattung von Christian Schmidt hochweiss gehaltene Räume klassizistischen Zuschnitts; später werden sie mit schwerem gründerzeitlichem Mobiliar bestückt – was vielleicht noch keine Interpretation darstellt, aber immerhin einen Hinweis auf die Entstehungszeit der Tetralogie vermittelt. Bald schon zeigt sich, wie der leere Raum der Bühne gefüllt werden soll: mit Bewegung und Plastizität der Körpersprache. Das ist überzeugend gelöst – ebenso trefflich, wie der Konversationston des Stücks herausgestrichen wird. Bisweilen werden allerdings Grenzen sichtbar. Die Kissenschlacht, die sich Uliana Alexyuk, Niamh O’Sullivan und Siena Licht Miller als die fröhlichen Rheintöchter liefern, zieht sich merklich in die Länge, während Christopher Purves als ein unerhört stimmgewaltiger Alberich seinen Drang nach dem Weiblichen ziemlich dick auftragen muss und dabei an die Grenze zur Charge gerät.

Format kommt ins Spiel, wenn ab der zweiten Szene Wotan das Heft in die Hand nimmt. Die obligate Augenbinde trägt der Göttervater nicht, wohl aber den wallenden Mantel und in der Hand den Speer mit den Vertragsrunen. Mit Donnerstimme setzt Tomasz Konieczny seine Positionen durch – ein umwerfendes Rollenporträt. Fricka vermag ihrem herrscherlichen, erst wenige Zeichen der Schwäche zeigenden Gatten nicht das Wasser zu reichen, dafür bleibt Patricia Bardon zu unbestimmt, aber es folgt ja noch «Die Walküre» mit dem für Wotan ungünstig ausgehenden Ehestreit. Etwas schwach auch Matthias Klink, der die Partie des Loge aus dem neuen Stuttgarter «Ring» (vgl. «Mittwochs um zwölf» vom 15.12.21) nach Zürich gebracht hat; der Scharfsinn seiner diplomatischen Winkelzüge gegenüber Mime (Wolfgang Ablinger-Sperrhacke) und Alberich fällt ab vor dem Hüpfen und Springen, das ihm der Regisseur abverlangt.

Getragen wird die Produktion von einem sehr soliden Ensemble. Die musikalischen Überraschungen ereignen sich jedoch im Orchestergraben. Dort führt mit Gianandrea Noseda ein Neuling in den Gefilden von Wagners «Ring» und ein Dirigent italienischer Muttersprache das Zepter. Hervorragend tut er das. Kraftvoll und satt klingt die Philharmonia Zürich, aber in keinem Moment zu laut, die Verständlichkeit ist jedenfalls hoch. Das geht auf die Sprachpflege zurück, deren Einfluss nicht genug gewürdigt werden kann, vor allem aber auf den sorgsamen Umgang mit der musikalischen Struktur: mit der klanglichen Balance im verhältnismässig kleinen Raum des Zürcher Hauses und dem Netz der Leitmotive. Immer wieder und mit Erfolg ruft Noseda dem Zuschauer in Erinnerung, dass das «Rheingold» auch eine Art Sinfonischer Dichtung darstellt. Der Dirigent scheut denn auch nicht davor zurück, Motive an entscheidenden Stellen krass herauszuheben – was man da und dort auch als etwas penetranten Wink mit dem Zeigefinger empfinden mag.

Nur, es passt zu einer Inszenierung, die insgesamt doch nicht wenig an ihrer Ambition leidet – am Versuch, die schwer befrachtete Rezeptionsgeschichte von Wagners «Ring» ausser Acht zu lassen und stattdessen mit heiterer Naivität und frischfröhlicher Vitalität zu Werk zu gehen. Das mag im Ansatz denkbar sein, in der Realität der Aufführung führt es zu Problemen. Was der Liebhaber und Kenner verlangt, wird ihm im neuen Zürcher «Rheingold» geboten. Haufenweise wird das Gold in angeblich schweren Klumpen auf der Bühne aufgeschichtet. Und lustig hüpft die Kröte, in die sich Alberich fatalerweise verwandelt, über den Boden. Zuvor versucht es der Nibelung noch mit einer monströseren Erscheinung, deren Wotan und Loge fürs erste nicht gewahr werden – bis sich dann eine furchterregende Schwanzspitze durch eine offenstehende Tür hineinschlängelt. Das wäre schon des Effekts genug gewesen. Doch leider lassen sich Andreas Homoki und Christian Schmidt das Untier nicht nehmen, weshalb einen Lidschlag später gleichwohl ein Theater-Drache mit Dampf und Gloria auf der Bühne erscheint.

So hat es Wagner niedergeschrieben, aber ist es sakrosankt? Entspricht es nicht einem heute etwas kindlich wirkenden Theaterbegriff – einem von vorgestern, der durch die Vielzahl anregender Deutungsversuche längst in die Jetztzeit übersetzt ist? Und erinnert es nicht an die seligen Zeiten der Bayreuther «Ring»-Inszenierungen Wolfgang Wagners? Wenn schon «Rheingold» in der Art, die Wagner vorschwebte, dann vielleicht doch eher konsequent, nämlich in historisch informierter Aufführungspraxis, wie es bei den «Wagner-Lesarten» in Köln versucht wird (vgl. «Mittwochs um zwölf vom 08.12.21). Schliesslich: Wenn Wotan seine Gattin auffordert, in Walhall mit ihm zu wohnen, und die Götter feierlich der Burg zuschreiten, erscheint in Zürich weder Burg noch Brücke, sondern vielmehr ein überlanger weisser Tisch mit goldenem Rand. Obwohl rechteckig, erinnert das Möbelstück an einen anderen überlangen weissen, freilich ovalen Tisch, der dieser Tage, meist von zwei Männern in schwarzen Anzügen besetzt, vielerorts in den Medien erscheint. Die Ähnlichkeit, sie soll nicht als ein Moment deutenden Inszenierens empfunden werden?

Freud und Leid der Tradition

Wagners «Rheingold» in Stuttgart und Bern

 

Von Peter Hagmann

 

«Rheingold» in Bern: Wotan und die Seinen vor der neuen Burg / Bild Rob Lewis, Bühnen Bern

Wie viele Werke aus dem Repertoire des Musiktheaters warten nicht jahre-, jahrzehntelang auf eine Aufführung. Nicht so Richard Wagners «Ring des Nibelungen». Hier stellt sich gerade umgekehrt das Problem, angesichts der Vielzahl an Produktionen und der dementsprechend reichen Rezeptionsgeschichte nochmals einen plausibel deutenden Weg durch die Tetralogie zu finden, und zwar im Musikalischen wie im Szenischen. Mit dem Projekt «Wagner-Lesarten» in der Kölner Philharmonie ist das wieder einmal beispielhaft gelungen (vgl. «Mittwochs um zwölf» vom 08.12.21); die konzertante Aufführung von «Rheingold» mit dem Dirigenten Kent Nagano, dem Barockorchester Concerto Köln und einer exquisiten Vokalbesetzung stiess Türen in einen ganz neu ausgestalteten Raum der Wagner-Rezeption auf. Da gab es fürwahr ungewöhnliche Dinge zu hören.

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Beim neuen «Ring» der Bühnen Bern schien es, wenn auch unter ganz anderen Voraussetzungen, in eine ähnliche Richtung zu gehen. Jedenfalls am Anfang, in den Tiefen des Rheins. Dort schlug Nicholas Carter, Chefdirigent und, zusammen mit dem Dramaturgen Rainer Karlitschek, Operndirektor unter dem neuen Intendanten Florian Scholz, nicht nur leise Töne, sondern auch langsame Tempi an, die er bis zum Einsatz der drei Rheintöchter unmerklich auf das in diesem Moment angebrachte Zeitmass steigerte. Nicht nur ein langsames Crescendo, sondern damit verbunden auch ein langsames Accelerando, so wie es zu Wagners Zeit gepflegt wurde. Das versprach viel – leider zu viel, wie sich in der Folge zeigen sollte. Die Ursache dafür liegt vor allem bei der Verwendung der Orchesterfassung von Gotthold Ephraim Lessing (nicht zu verwechseln mit dem berühmten Namensvetter) aus dem Kriegsjahr 1943. Der deutsche Dirigent, der damals das Sinfonieorchester Baden-Baden leitete, reduzierte massvoll die Zahl der Bläser, beliess bei den Streichern aber die von Wagner geforderte Grossbesetzung – eine eigenartige Lösung, denn in welchem Orchestergraben lassen sich neunzig Pulte unterbringen? In Bern jedenfalls nicht.

Die Folgen waren hörbar – und das geht aufs Konto des Dirigenten. Über weite Strecken dominierten die Bläser, während die Einbettung in den Streicherklang oft kaum wahrzunehmen war – eine Frage der Balance, an der sich bekanntlich arbeiten lässt. Auch im Einzelnen blieb in Bern das aufgelockerte Klangbild zu wenig genutzt; Gewiss, manches Detail war zu hören, doch nicht selten waren es Nebensachen. Umso heftiger fuhr der massive Ton des Berner Symphonieorchesters ein; wie nach zweieinhalb Stunden die Götter in ihre Burg einzogen, erfüllte er sich in einem rohen, wenig gestalteten Fortissimo. Die Erfahrung von Köln im Ohr machte bewusst, dass die Berner «Rheingold»-Premiere klanglich ein altväterisches Wagner-Bild bot. In Biel und Solothurn, zwei noch wesentlich kleineren Häusern, gab es vor bald zwei Jahren (vgl. «Mittwochs um zwölf» vom 19.02.20) eine exemplarische Aufführung von Béla Bartóks Einakter «Herzog Blaubart Burg». Die ausladende Orchesterbesetzung hatte Eberhard Kloke reduziert – äusserst raffiniert. Es gibt also durchaus andere Wege.

Altväterische Züge, aber nicht nur, offenbarte auch die vokale Seite des Abends. Den mit Giada Borrelli, Evgenia Asanova und Sarah Mehnert charakteristisch besetzten Rheintöchtern begegnet mit Alberich ein körperlich verletzter, seelisch versehrter Kriegsheimkehrer; Robin Adams legt seine Aggression eins zu eins in Lautstärke um, was à la longue erheblich nervt – gerade gegenüber der nonchalanten Zielstrebigkeit des hier jugendlich wirkenden Wotan (Josef Wagner) und dem agilen Loge von Marco Jentzsch, der freilich etwas allzu freigiebig mit dem tenoralen Schluchzer im Stil von ehedem umgeht. Auch die Diktion, auf die Wagner so viel Wert gelegt hat, hat noch Luft nach oben, etwa bei dem stets fröhlichen, selbst im Brudermord unbekümmerten Fafner von Mattheus França. Nicht aber bei Masabane Cecilia Rangwanasha, die ein ganz und gar ungewöhnliches Rollenporträt der Freia zeichnet – eines im Zeichen der Diversität. Zumal Christel Loetzsch, die an die Stelle der erkrankten Claude Eichenberger getreten ist, eine stolze, aufrechte Fricka gibt, die ähnlich wie Erda (Veronika Dünser) dem selbstgewissen Wotan die Stirn bietet.

Das alles in einer Inszenierung, die verspielt daherkommt, ironisch mit den szenischen Zeichen umgeht, die in die Rezeptionsgeschichte von Wagners «Ring» eingegangen sind, und vielfältige Anregung bietet. Sie stammt von der jungen Polin Ewelina Marciniak, die bisher im Schauspiel brilliert hat und jetzt mit Wagners Tetralogie im Musiktheater debütiert. Der «Ring» ist für sie ein Spiel mit Mythen, aber auch, durchaus im Geiste Wagners, ein Entwurf, der seine Zeit kritisch in den Blick nimmt. Das tut auch die Regisseurin – und so fehlt es nicht an edlem Metall. Ein ganzer Vorhang aus Gold deutet die Fluten des Rheins an, er ist aber aus simplem Plastik gefertigt und wird von Tänzern nach den Ideen der Choreographin Dominika Knapik (und nicht ohne Anleihen bei der Gestensprache Robert Wilsons) bewegt. Oben und unten sind in den Kostümen von Julia Kornacka klar voneinander geschieden, während das Bühnenbild von Mirek Kaczmarek mit wenigen Strichen den Duft der Gründerzeit evoziert. Lebendig sind die Figuren gezeichnet, markant tritt die Interaktion zwischen ihnen heraus – und auch für den guten Theatereffekt ist gesorgt. Nicht mit einem riesigen, feuerspeienden Drachen aus der Bayreuther Werkstatt Wolfgang Wagners, sondern mit einer schwarzen Schlange, einer Tänzerin, die Wotan bedenklich nahekommt. Sehr lustig die welkenden Götter, die vom Mangel an Äpfeln Freias kündend ihren Ebenbildern gegenübertreten. Warum allerdings die Kröte, in die sich Alberich dummerweise verwandelt, als Patient am Infusionsgestell erscheint, darüber darf nachgedacht werden.

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In Stuttgart werden nicht gar so viele Gedanken evoziert. An der dortigen Staatsoper hat ebenfalls eine Produktion der Tetralogie begonnen. Anders als in Bern steht hier in allen vier Teilen derselbe Dirigent am Pult steht, sind für die vier Abende aber je andere Regisseure vorgesehen. So war es schon beim letzten Stuttgarter «Ring» vor zwei Jahrzehnten, und wie als Reminiszenz an jene goldenen Tage wird bei «Siegfried» die Inszenierung von Jossi Wieler wiederbelebt. Das neue Stuttgarter «Rheingold» nun hat Stephan Kimmig szenisch betreut – mit mässigem Erfolg, um ehrlich zu sein. Die Bühne von Katja Hass und die Kostüme von Anja Rabes versetzen die Geschichte vom zweifachen Raub des Goldes in eine Manege. Wotan (Goran Jurić) ist ein in die Jahre gekommener, mehr an der Flasche als an seiner Umgebung interessierter Zirkusdirektor, Donner (Paweł Konik) und Froh (Moritz Kallenberg) durchmessen die Bühne mit Autoscootern, Fasolt (David Steffens) und Fafner (Adam Palka) stehen ihnen mit ihren blinkenden Gabelstaplern in nichts nach. Auch Erda (Stine Marie Fischer) verfügt über ein Gefährt: ein Herrenfahrrad, weil sie ja Jackett und Krawatte trägt. Der Deutungsansatz wirkt dünn: beliebig, weil auf das Eigentliche übergestülpt. Wie er aufgehen soll, das kann vielleicht Miron Hakenbeck erklären; er hat beide Produktionen, jene von Stuttgart wie jene von Bern, als Dramaturg begleitet.

Zwei hervorragende Auftritte verzeichnet das Stuttgarter «Rheingold» immerhin. Leigh Melrose gibt, stimmlich untadelig, einen temperamentvoll aufbrausenden, aber gleichwohl nie schreienden Alberich; bevor er am Ende den Ring wieder verliert, wird er gerädert – nicht einmal das behindert den Sänger. Matthias Klink wiederum, als Loge jeder Situation gewachsen, gewinnt sein Profil dadurch, dass er seine Partie sehr ausgeprägt deklamiert, bisweilen fast spricht – da wird auch ohne Übertitel jedes Wort verständlich. Und das, obwohl der Stuttgarter Generalmusikdirektor Cornelius Meister auf vollen Ton setzt. Das Staatsorchester Stuttgart tritt in grosser Besetzung auf und erzeugt einen fest in sich ruhenden, strahlenden Klang, aus dem die Leitmotive als integrierte Teile eines Ganzen heraustreten – Probleme der Balance stellen sich hier keine. In einem grossen Haus wie der Stuttgarter Staatsoper ist das nicht nur möglich, es drängt sich geradezu auf, stehen hier doch neben dem Orchestergraben reichlich Raumreserven zur Verfügung. Das musikalische Wagner-Bild, das in Stuttgart präsentiert wird, fügt sich nahtlos ein in die Tradition, wie sie durch die Bayreuther Festspiele, den «Jahrhundert-Ring» mit Pierre Boulez ausgenommen, repräsentiert wird und wie sie etwa in den Jahren 2010/11 durch Philippe Jordan an der Pariser Opéra zu prägnanter Gegenwart gebracht worden ist. Eine Tradition, die neben der Kölner Innovation zu bestehen vermag.

«Rheingold» in Stuttgart: Fricka (Rachel Wilson) im Zirkus (Bild Matthias Baus / Staatsoper Stuttgart)

Wagners «Ring» – wie anno dazumals?

«Rheingold» historisch informiert in Köln

 

Von Peter Hagmann

 

«Der Ring des Nibelungen» hat Konjunktur. An mindestens vier Häusern sind derzeit neue Projekte mit der Tetralogie Richard Wagners angesagt. Eine Neuinszenierung hat die Staatsoper Stuttgart in Angriff genommen; wie beim letzten «Ring» an diesem Haus in den Jahren 1999 und 2000 leitet der Stuttgarter Generalmusikdirektor, es ist inzwischen Cornelius Meister, alle vier Teile, während die Regisseure wechseln. Für den gesamten «Ring» gleich bleibt das Produktionsteam in Zürich, wo Andreas Homoki sein Wirken am Opernhaus mit einer Neuinszenierung der Tetralogie innerhalb der letzten vier Spielzeiten seiner Intendanz zu krönen sucht und dafür mit dem neuen Generalmusikdirektor Gianandrea Noseda zusammenarbeitet. Gleich bleibt das Team auch an den Bühnen Bern; dort wenden sich der neue Operndirektor und Chefdirigent Nicholas Carter gemeinsam mit der jungen Polin Ewelina Marciniak dem «Ring des Nibelungen» zu. Für besonderes Aufsehen sorgt indes das Concerto Köln, das mit dem Dirigenten Kent Nagano in der Kölner Philharmonie eine konzertante Aufführung der Tetralogie in Angriff genommen hat.

Wie bitte? Das bekannte Barockorchester aus Köln legt sich Wagner auf die Pulte? So ist es. Kent Nagano, das ist vielleicht nicht in jedermanns Bewusstsein, arbeitet oft und gern mit dem Concerto Köln – so wie es René Jacobs, Marcus Creed und andere Kollegen aus dem Bereich der alten Musik tun. Nagano kennt keine Berührungsängste. Mit seinen inzwischen siebzig Jahren gehört er zu einer älteren Schicht an Dirigenten, sein ästhetischer Horizont gleicht aber durchaus jenem jüngerer Vertreter seines Standes wie etwa Pablo Heras-Casado, der Praetorius so anregend interpretiert wie Eötvös, Beethoven so gut wie Verdi. Auch Nagano ist klar im klassisch-romantischen Kernrepertoire verankert, bekannt geworden ist er jedoch als Schüler und Vertrauter des Komponisten und Organisten Olivier Messiaen; mit gutem Grund veröffentlicht darum der Bayerische Rundfunk zum 70. Geburtstag Naganos eine 3-CD-Box mit Werken Messiaens, die Dirigent mit dem hauseigenen Symphonieorchester erarbeitet hat. Von Messiaen aus hat sich Nagano ein Profil als Vertreter des Neuen zugelegt. Dass er aber auch über einen Draht zur historisch informierten Aufführungspraxis verfügt, dass er seit geraumer Zeit mit dem Concerto Köln verbunden ist, vom Ensemble gar zum Ehrendirigenten ernannt wurde, das ist weniger verbreitet.

Warum er mit ihnen nicht einmal ein Stück aus seinem Kernrepertoire erarbeite, wurde Nagano in einer Probe mit dem Concerto Köln von einem Kontrabassisten des Ensembles gefragt. Was denn, soll der Dirigent zurückgefragt haben, vielleicht etwa Wagner? Das war die Initialzündung. Beide Seiten nahmen die Herausforderung an: das Orchester aus seiner sprichwörtlichen Neugierde heraus, der Dirigent als exzellenter Musiker, aber auch als äusserst regsamer Intellektueller – wovon sein ebenfalls zum runden Geburtstag erschienenes Buch «10 Lessons of my Life» einmal mehr Zeugnis ablegt. «Der Ring des Nibelungen» in historisch informierter Aufführungspraxis, nicht weniger als das war das Ziel. Um es zu erreichen, wurden die Voraussetzungen für vertiefte Grundlagenarbeit geschaffen. Gegründet wurden 2017 die «Wagner-Lesarten», eine von der Kunststiftung Nordrhein-Westfalen und zahlreichen weiteren Geldgebern getragene Forschungsstelle, die sich im Rahmen von Symposien und im Netz frei zugänglichen Publikationen den weitreichenden Fragen rund um die Interpretation von Wagners «Ring» im Stil seiner Entstehungszeit zuwandte. Was die Forschung hervorbrachte, wurde sodann in Workshops praktisch erprobt. Nach vier Jahren der Vorbereitung konnte jetzt ein erstes Zwischenergebnis vorgelegt werden: «Rheingold», der Vorabend, wie er zu Lebzeiten Wagners geklungen haben könnte.

Sehr anders geklungen hat es in Köln. An die Stelle der satten Homogenität und der oft merklich angehobenen Lautstärke trat ein lichtes, ziseliertes Klangbild, aus dem die charakteristisch eingesetzten instrumentalen Farben und das Netzwerk der Leitmotive deutlich heraustraten. Zum Einsatz kam trotz dem grossen Konzertsaal mit seinen gut zweitausend Plätzen nicht die volle Besetzung, die Wagner verlangt hat. Die Streicher blieben bei einem Aufbau mit vierzehn Ersten Geigen, bei den Harfen gab es deren fünf statt deren sieben. Dementsprechend gelang in der klanglichen Balance nicht alles befriedigend. Die Ambosse in Alberichs unterirdischer Werkstatt, deren sechzehn schrieb Wagner vor, waren kaum zu hören und schon gar nicht in ihrer vertrackten Rhythmik zu verstehen. Ähnliches gilt für die Harfen im Orchester; sie waren ihrer vier, aber noch immer zu leise, während die eine Harfe der Bühnenmusik so positioniert war, dass sie zusammen mit den klagenden Rheintöchtern am Ende des Abends viel zu sehr in den Vordergrund trat. Trotz solcher Einschränkungen war der von Spiellust und Engagement geprägte Auftritt des Concerto Köln, der hohe Aufmerksamkeit auf sich zog, dem vokalen Teil aber allen Raum liess, von erregender Wirkung.

Erzielt wurde diese Wirkung durch die Verwendung von Instrumenten, die der Entstehungszeit von «Rheingold» entsprechen; einige Instrumente sollen sogar eigens nachgebaut worden sein. Schade nur, dass das Instrumentarium im Abendprogramm nicht angeführt war; wenn eine Aufführung so explizit, wie es hier der Fall war, auf dem Beizug chronologisch adäquater Instrumente aufbaut, sollten deren Provenienzen ausgewiesen gemacht werden – wie es etwa bei CD-Aufnahmen alter Musik längst die Regel ist. Nicht nur die Instrumente waren besonders, ungewöhnlich war auch deren Platzierung auf dem Podium. Das Orchester war sozusagen doppelchörig aufgestellt; nicht nur die beiden Geigengruppen standen sich gegenüber, für viele Bläser galt das Nämliche. Die Verbindung wurde hergestellt durch die Reihe der zehn Celli, die sich wie ein roter Faden durch das Orchester zog. Unterstützt wurde die klangliche Aufspreizung durch den ganz selbstverständlichen Verzicht auf das Vibrato als Grundlage der Tonerzeugung bei den Streichern, was zum Beispiel die liegenden Töne herrlich schärfte, sowie durch die explizite Gewichtsetzung, die zum Beispiel ans Licht brachte, wie viele der wichtigen Leitmotive von den Bratschen vorgetragen werden. Vielleicht hatte das aber auch damit zu tun, dass Kent Nagano der Bratsche mit besonderer Empathie begegnet…

So zeigte Wagners Orchester im Kölner «Rheingold» ein ganz anderes Gesicht als gewohnt. Die Sängerinnen und Sänger – sie bildeten übrigens ein exzellentes Ensemble – waren zweifellos dankbar dafür; sie brauchten nirgends zu drücken. Auch sie waren Teil des Forschungsprojekts, denn zuallererst fokussierten die «Wagner-Lesarten» auf den Gesang, vielmehr auf die Beziehung zwischen Text und Musik, also auf die geeignete Aussprache. Wagner hat sich eingehend zur vokalen Gestaltung, insbesondere zur Deklamation geäussert: durch Notizen in den Dirigierpartituren wie durch entsprechende Texte. Seine Musik solle von der Sprache her gehört werden, weshalb der Text jederzeit gut verständlich sein müsse, schrieb der Komponist, und er gab gleich an, wie das zu erzielen sei – durch rollendes «r» beispielsweise und durch die klare Unterscheidung zwischen «g» und «ch», aber auch durch die klare Akzentsetzung («wéhè», nicht «wéhē», wie es in der Schlamperei des Opernalltags üblich ist. Auch auf dieser Ebene wurde versucht, von der erforschten Theorie möglichst viel in die Praxis der Aufführung überzuführen, und auch hier kam es im Kölner «Rheingold» zu unerwarteten Erlebnissen.

Gleich zu Beginn etwa, beim Auftritt der drei Rheintöchter, die mit Ania Vegry (Wolginde), Ida Aldrian (Wellgunde) und Eva Vogel (Flosshilde) von der Unterschiedlichkeit der Timbres her ideal besetzt waren. Dort, wo Woglinde erläutert, dass ans Rheingold nur komme, wer der Liebe entsage, klang das Orchester ganz eben und fiel die Sängerin in den Sprechgesang, was eine unerhörte Unterstreichung zur Folge hatte – eine Praxis, die auf die von Wagner sehr geschätzte Sängerin Wilhelmine Schröder-Devrient zurückgehen soll. Bald schlug aber die Stunde Alberichs, und hier erschien mit Daniel Schmutzhard ein Sänger, der Drang und Not des Aufsteigers allein durch seine musikalische Präsenz zu vermitteln verstand. Mit seinem unerhört klangvollen Bass gab Derek Welton einen fast jederzeit gelassenen Wotan – dem Stefanie Irányi als Fricka selbstbewusst entgegentrat und dem Gerhild Romberger in ihrem eindrücklichen Auftritt als Erda die Leviten las. Sehr überzeugend auch Thomas Ebenstein als Mime, Tijl Faveyts und Christoph Seidl als die Riesen Fasolt und Fafner, Sarah Wegener als Freia sowie Johannes Kammler und Tansel Akzeybek als Donner und Froh. Überraschungsgast des Abends war freilich Thomas Mohr, der die Partie des Loge kurzfristig vom erkrankten Julian Prégardien übernommen hatte und sich deshalb nicht in die Forschungsergebnisse einarbeiten konnte; der deutsche Tenor ist mit seiner Partie jedoch so verwachsen und als Bühnenmensch von derart bezwingender Ausstrahlung, dass seine Auftritte zu Momenten reinen Vergnügens wurden.

«Rheingold» ist ein Spass, der menschlich-allzumenschlichen Götter, der Stabreime, überhaupt der sprachlichen Erfindungen Wagners, nicht zuletzt der szenischen Effekte wegen. Zu Bewusstsein kommt das selten, weil schon der Vorabend vor den drei Tagen im «Ring» vokal wie instrumental oft schwergewichtig daherkommt. Das muss nicht sein. Die historisch informierte Aufführung von «Rheingold» hat vorgeführt, was der helle, farbenreiche Ton, die Präsenz des Textes, die Flüssigkeit der Tempi, die Geschmeidigkeit der Artikulation bewirken. Wenn sie so launig erzählt werden, wie sie geschaffen sind, können diese zweieinhalb Stunden enorm Spass machen. Das darf, bei aller Ernsthaftigkeit der «Wagner-Lesarten», auch sein.

Kent Nagano: 10 Lessons of my Life. Was wirklich zählt. Unter Mitarbeit von Inge Kloepfer. Berlin-Verlag, Berlin 2021. 206 S.

Olivier Messiaen: La Transfiguration de notre Seigneur Jésus-Christ, Poèmes pour Mi, Chronochromie. Jenny Daviet (Sopran), Pierre-Laurent Aimard (Klavier), Chor und Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks München, Kent Nagano (Leitung). BR Klassik 900203 (3 CD, Aufnahmen 2017-2019, Publikation 2021).