Kinderschmerzen, erfolgreich gelindert

«L’Enfant es les sortilèges» von Ravel und Tschaikowskys «Iolanta» in Bern

 

Von Peter Hagmann

 

Claude Eichenberger als noch intakte Teetasse, Michał Prószyński (Teekanne) und Amelie Baier in voller Zerstörungswut / Bild Florian Spring, Bühnen Bern

Natürlich weiss das Kind, dass es seine Hausaufgaben zu erledigen hätte, die Mutter hat es ausdrücklich daran erinnert. Nur hat das Kind darauf absolut keine Lust; Lust hat es vielmehr darauf, böse zu sein, der Mutter die Stirn zu bieten und das wohlgeordnete Heim zu attackieren. Das geht anfangs gut, doch mit einem Mal verändert sich die Umgebung. Sie belebt sich. Die ihres Deckels beraubte Teekanne beginnt zu sprechen (natürlich auf Englisch, der Tea ist ja über das Commonwealth auf uns gekommen), der immer wieder zu Boden geworfene Wecker, der aufgeschlitzte und nach Massen ausgeweidete Teddybär, das zahme, aber nichtsdestotrotz malträtierte Eichhörnchen, sie alle beklagen sich über die ihnen zugemutete Behandlung. Ein Katzenpaar führt dann allerdings vor, wie das geht: lieb sein. Das Kind, nicht wenig erschrocken über sein bisheriges Verhalten, hat ein Einsehen. Ob es die Hausaufgaben erledigt, bleibt offen, aber immerhin zeigt es tatkräftiges Mitleid.

«L’Enfant et les sortilèges», die von Colette erfundene Geschichte, ist und bleibt entzückend, das finden auch die nicht wenigen Kinder, die an diesem Sonntagnachmittag an Vaters und/oder Mutters Hand ins Stadttheater Bern gefunden haben und dort gebannt dem Geschehen folgen. Es wird von den Bühnen Bern in einer sympathisch kindergerechten, zugleich nirgends anbiedernden Weise vorgestellt. Patrick Bannwart (Bühne) und Moana Stemberger (Kostüme) haben das Kinderzimmer, das sich später in einen nächtlichen Garten weitet, so stimmungsvoll eingerichtet, wie es das Libretto andeutet: die Welt der Erwachsenen übergross, die für das Kind erschreckenden Erscheinungen witzig und effektvoll. Und David Bösch führt als Regisseur das grosse, durchwegs ausgezeichnet besetzte Ensemble hin zu lebendiger, aber diskreter Bewegung.

Getragen wird die Aufführung auch von der Musik Maurice Ravels, der in diesem Einakter nicht nur seine Einfallskraft, nicht nur seine Handschrift, sondern vor allem einen prägenden Zug seiner Persönlichkeit herzeigt. Das Kleine, das Verspielte, das Naturhafte, das Kindliche, ja die Kinder überhaupt und mit ihnen die Tiere und die Blumen – all das lag dem Komponisten besonders nahe, und in «L’Enfant et les sortilèges» hat er es in hellen, sehr charakteristischen Klang gefasst. Barockes gesellt sich zum Jazz, die Assonanz an den Opernton zur Revue; manch schräger Ton, manch überraschender Auftritt eines Instruments sorgt für Erheiterung – Postmoderne avant la lettre findet hier statt, freilich fern jeder Nostalgie, vielmehr stets ironisch distanziert. Dass man das so klar wahrnimmt, geht zuvörderst auf das Berner Symphonieorchester unter der Leitung von Nicholas Carter zurück. Trocken geht der Berner Co-Operndirektor die Partitur an, er erzählt sie etwas knorrig, nahe beim Fagott des Grossvaters in Prokofjews «Peter und der Wolf». Amelie Baier als das schreckliche, doch rasch gesundende Kind macht hierbei genau die richtige Figur.

Verity Wingate (Iolanta) in ihrem gläsernen Verliess / Bild Florian Spring, Bühnen Bern

Allein, damit hat es sich nicht, es geht ja noch weiter – und wie. Ganz und gar andersartig, obgleich auf ähnlicher Schiene. Auch die Titelfigur in «Iolanta», dem Einakter von Peter Tschaikowsky, ist ein Kind, ein etwas älteres Kind, eine Königstochter an der Schwelle zur Adoleszenz. Sie sieht nichts, und das ist darum halb so schlimm, weil sie nicht weiss, dass Menschen sehen. Sie darf es nicht wissen, ihr Vater René will es so, und wer gegen diesen Willen verstösst, ist des Todes. Das hat Gewicht, denn der Herrscher über die Provence ist in Bern eine überaus machtvolle Erscheinung. Der König sitzt zwar im Rollstuhl, weil seine Kräfte, wie er von sich selber sagt, zu schwinden beginnen. Aber das bezieht sich keineswegs auf die Stimme, daran lässt Matheus França nicht den geringsten Zweifel. Selten ist derart prachtvoll gerundetes Volumen zu hören wie bei dem 36-jährigen Bass aus Brasiliens. Und kaum je kommt es zu so genuinen Theatermomenten wie hier.

Auch in diesem zweiten Teil der jüngsten Berner Opernproduktion gibt es einen Garten mit duftenden Blumen und ein Zimmer – einen gläsernen Kubus, in dem König René seine Tochter Iolanta in ihrem Unwissen gefangen hält. Doch die Geschichte wendet sich gegen die Autokratie. Der Herrscher hat den maurischen Arzt Ibn-Hakia engagiert; dieser Vertreter des im Mittelalter auch in Spanien ansässigen, kulturell wie wissenschaftlich hochentwickelten Islam, Thomas Lehman gibt ihn mit geschmeidigem, sonorem Bariton, soll die Tochter von ihrer Blindheit erlösen. Zum Teil ist das freilich bereits geschehen. Denn mit Robert, dem Herzog von Burgund (Jonathan McGovern), und seinem beigeordneten Ritter Vaudémont sind angeblich zufällig zwei unerwünschte Gäste in den verbotenen Garten eingedrungen. Iolanta und Vaudémont, das ist ein coup de foudre, wie er im Buch steht. Er eröffnet ihr ihre Blindheit und im gleichen Atemzug seine unbedingte Liebe, sie erwacht und ist voll des Feuers, Blindheit hin oder her – wie das Verity Wingate mit ihrem leuchtkräftigen Sopran und James Ley mit seinem geschmeidigen Tenor darbieten, ist schlechterdings hinreissend.

Kein Wunder, gelingt die Heilung, lässt der König im Rollstuhl auf dringendes Anraten des weitsichtigen Arztes seine Tochter frei und kann das überglückliche Ende eintreten, zu dem auch der von Zsolt Czetner vorbereitete Chor der Bühnen Bern mit seinem klangmächtigen Gotteslob seinen nicht unbeträchtlichen Teil beiträgt. Überhaupt lebt diese «Iolanta» von einer sehr ausgeprägten Musikalität. Engagiert unterstützt durch das Berner Symphonieorchester schlägt Nicholas Carter am Pult einen ganz anderen Ton an als bei Ravel. Warme Homogenität und vibrierende Lebendigkeit stellen sich da ein. Sorgfältig und in souveräner Übersicht steuert der Dirigent die Spannungskurven, aus überzeugender Vorstellung heraus mischt er die Klangfarben, natürlich atmend entfalten und verbinden sich die Tempi – und das alles ohne jeden Druck. Da kann einem die Musik Tschaikowskys fürwahr ans Herz gehen.

Vom Dunkel ins Licht – und zurück

«Iolanta» von Tschaikowsky in Solothurn

 

Von Peter Hagmann

 

Im Glashaus: Iolanta wird vom maurischen Arzt geheilt. / Bild Konstantin Nazlamov, Theater-Orchester Biel-Solothurn

 

Während «Schwanensee und «Nussknacker», «Eugen Onegin» und «Pique Dame» sowie die Sinfonien fünf und sechs in aller Munde sind, fristet «Iolanta» ein Schattendasein. Dabei handelt es sich bei Peter Tschaikowskys Einakter nicht etwa um ein vergessen gegangenes Jugendwerk, sondern um des Komponisten letzte Oper überhaupt. 1891, zwei Jahre vor seinem Tod, in St. Petersburg uraufgeführt, vermochte sich das thematisch avancierte Werk nicht zu verbreiten. Produktionen sind selten – weil die Opernhäuser nicht wagen, das rund anderthalb Stunden dauernde Stück allein anzusetzen und weil andererseits die Möglichkeiten der Kombination eingeschränkt sind. Was den medialen Bereich betrifft, sieht es nicht weniger trübe aus.

Um so mehr ist zu schätzen, dass das Theater Biel-Solothurn «Iolanta» jetzt ins Programm genommen hat. Die Musik ist herrlich, wie so vieles aus Tschaikowskys Feder – und eigenartig zugleich, wie die zahlreichen Feinheiten der Instrumentation erkennen lassen. An der Premiere im stimmungsvollen, sensibel wiederhergestellten Stadttheater Solothurn brauchte es beim Zuhören allerdings ein wenig Phantasie; der begrenzte Platz im Orchestergraben verunmöglicht, die Streicher so zahlreich zu besetzen, wie es erforderlich wäre. Bläserbetont war darum der Klang und herb – ungewohnt jedenfalls für Tschaikowsky, aber nicht uninteressant. Die modernen Seiten der Partitur traten zutage, und dem entsprachen die frischen Tempi, die Francis Benichou, der Dirigent der Solothurner Premiere, mit sicherer Hand installierte. Das Sinfonie-Orchester Biel-Solothurn war aufmerksam dabei; vielleicht hätte es auch etwas explizitere Gestaltung mitgetragen, sei es im Umgang mit den Tempi, sei es in der Arbeit an den Instrumentalfarben.

Als König René, Vater der blinden Iolanta, spielt Pavel Daniluk seine ganze Kraft aus; auf der kleinen Bühne erscheint er als ein Herrscher von riesiger Statur, der sich seine Umgebung unterwirft und sie dazu bringt, seiner Tochter die Tatsache ihrer Blindheit zu verheimlichen. Über die Einhaltung des Gebots wacht als eine Art Oberschwester die Kammerfrau Martha, der Candida Guida ihren tiefen, ungemein gerundeten und klangschönen Alt lieh – ich würde fast wetten, dass man von der jungen Italienerin bald mehr hören wird. Seiner Sache ganz sicher ist der König freilich nicht, jedenfalls hat er den maurischen Arzt Ibn-Hakia engagiert, der für seine ophthalmologischen Künste bekannt ist. Der Moslem mit seiner wunderschönen Schultertasche steht für die alte arabische Hochkultur, wie sie das mittelalterliche Spanien gekannt hat – dass das in unserer Zeit des blutrünstigen Islamismus auf die Bühne kommt, ist ausgesprochen wertvoll. Und es wirkte besonders stark, weil Aram Ochanian nicht nur äusserst klug argumentieren durfte, sondern das auch in einer wohltönend ruhigen Art tat.

Die einzige, allerdings nachvollziehbare Bedingung, die der Arzt stellt, ist die Forderung, dass Iolanta aufgeklärt werden solle, damit sie den Schritt hin zum Licht selbstbestimmt einfordern könne. Die Aufklärung übernimmt in der Oper, anfangs sehr zum Verdruss des Vaters, ein junger Mann; er schwärmt ihr nicht nur vom Sehen vor, sondern auch von der Liebe. Irakli Murjikneli setzt seinen weich timbrierten Tenor so überzeugend ein, dass die wohlorganisierte Welt König Renés rasch in sich zusammenfällt und Iolanta nimmer von ihrem Grafen Vaudémont lassen will. In der atmosphärisch belebten, anregenden und detailgenauen Inszenierung von Dieter Kaegi, dem Intendanten am Theater Biel-Solothurn, ist das alles mit Händen zu greifen. Der Ausstatter Francis O’Connor hat das vom Textbuch geforderte Paradies in ein wunderbares Gewächshaus umgewandelt, in dem der Lichtdesigner Mario Bösemann die zauberhaftesten Stimmungen evoziert. Hier wachsen nicht nur langstielige Rosen, hier erwacht auch die von Anna Gorbachyova sehr überzeugend als junges Mädchen gesungene und gespielte Iolanta zum Leben. Was von ihrer Umgebung mit stürmischer Begeisterung aufgenommen wird.

Iolanta aber ist, so zeigt es der Regisseur, dem ungewohnten Licht nicht gewachsen; sie will zurück in die Dunkelheit. Mitten in den Jubel hinein blendet sie sich mit zwei Rosenstielen und präsentiert dem schockierten Publikum ihre blutenden Augen. Ein Alptraumbild. Ein Theaterbild.