Streichquartett mit Singstimme und Geistertönen

Auf Entdeckungsreise zu den Badenweiler Musiktagen

 

Von Peter Hagmann

 

«Frühling. Erwachen.», so das Motto der Musiktage Badenweiler. Und fürwahr: Welches Frühlings-Erwachen stellte sich an diesem 1. Mai 2019 ein – einem Prachtstag, auf den am frühen Abend ein Konzert der Extraklasse folgte: ein Liederabend mit dem Bariton Christian Gerhaher und mit Gerold Huber, seinem langjährigen Partner am Klavier. Lieder von Robert Schumann und Johannes Brahms standen auf dem Programm, von jenem die «Dichterliebe» und weniger Bekanntes, von diesem zum Beispiel der «Regenlied»-Zyklus in seiner Frühfassung. Ein fulminanter Einstieg; der Saal war randvoll.

In seiner Weise nicht weniger aufsehenerregend geriet der Auftritt des Deutschen Frank Dupree. Seiner jungen Jahre zum Trotz ist er kein Unbekannter, zwei CD-Publikationen und eine Reihe hochrangiger Preise haben auf den Schlagzeuger, Pianisten und Dirigenten aufmerksam gemacht. Vom perkussiven Element in der Musik ausgehend, hat er am Klavier eine spezifische Sensibilität für das Rhythmische entwickelt. Und so präsentierte er in seinem unprätentiös moderierten Auftritt amerikanische Musik, die dem Jazz nahesteht. Zum Beispiel drei Stücke des deutschstämmigen Amerikaners George Antheil, die mit dem Gattungsbegriff der Sonate spielen, dabei aber erfrischend wider den Stachel löcken, mit unanständigen Sekundreibungen reizen und immer wieder den Blues anklingen lassen

Das ist die Welt, die Frank Dupree liebt – und darum bewunderte er schon als Jugendlicher «An American in Paris», die Sinfonische Dichtung von George Gershwin aus dem Jahre 1928, die der Pianist in denkbar brillanter Weise für sein Instrument eingerichtet hat. Grandios, was Dupree alles in den Klaviersatz eingebracht hat. Und blendend, mit welcher Agilität er die Erinnerung eines Amerikaners an die französische Kapitale seinem deutschen Publikum nahegebracht hat. Nicht ohne Interesse nahm es auch die so gut wie unbekannten «Phrygian Gates» entgegen, eine anregende minimalistische Studie des 72-jährigen Amerikaners John Adams. Das Randständige wie das Neue gehörte schon immer zu den Musiktagen in Badenweiler.

Besonders eindrücklich war es beim Kammerkonzert mit dem Quatuor Béla aus Lyon zu erleben. Die «Intimen Briefe», das Streichquartett Nr. 2 von Leoš Janáček, wollte den beiden Geigern Julien Dieudegard und Frédéric Aurier, dem Bratscher Julian Boutin und dem Cellisten Luc Dedreuil nicht restlos gelingen; die Wiedergabe trug Züge des al-fresco-Spiels und entbehrte der Dringlichkeit, die bei diesem Stück möglich wäre. Umso besser gelang zum Schluss Ludwig van Beethovens letztes Streichquartett, das Opus 135 in F-Dur. Leicht und hell im Ton, auch lebendig in der Artikulation die beiden ersten Sätze, sehr berührend das in aller Ruhe und mit Wärme ausgesungene Assai lento in Des-Dur, erheiternd dann das Finale, das in einem einleitenden Grave die Frage stellt, ob es denn wirklich sein müsse, dieses Finale, und das darauf im Allegro die lapidare Antwort gibt: «Es muss sein.»

Im Zentrum der Begegnung mit dem Quatuor Béla, einem der auf neue Musik und erweiterte Präsentationsformen spezialisierten Ensembles, stand «Strings» von Robert HP Platz, ein Stück für Streichquartett, Singstimme und Elektronik. Live-Elektronik, mit deren Hilfe der Klang von Instrumenten transformiert und in Echtzeit über Lautsprecher in den Raum verteilt wird – das ist inzwischen hoch entwickelt und geläufig. Im Stück von Platz kommt freilich kein einziger Lautsprecher zum Einsatz, verwendet wird vielmehr ein Transducer – ein kleines, über Kabel mit einem Computer verbundenes Gerät, das an den Instrumenten des Quartetts befestigt ist und auf ihnen elektronische Signale in hörbare Wellen umsetzt. Das Streichinstrument wird somit zur doppelten Klangquelle; es erzeugt sowohl den eigenen als auch einen sozusagen fremden Ton. Dabei wird dieser fremde Ton vorab eingespielt und von einem Techniker im richtigen Moment an das Instrument gesendet; die Computertechnik ist noch nicht so weit entwickelt, dass die Prinzipien der Live-Elektronik auch beim Transducer zur Verwendung kommen könnten.

Was nach einer technischen Spielerei aussah, war in der Aufführung des Streichquartetts von Robert HP Platz von frappanter Wirkung. Dies umso mehr, als die vier Streicher im René-Schickele-Saal des Kurhauses Badenweiler, einem akustisch überraschend guten Raum, verteilt waren. Als Zuhörer hatte man wahrhaft zu tun, man musste die Ohren spitzen und sich in die verhaltenen Klänge einhören – bis dann mit einem Mal von fern her kommende Geisterstimmen dazu traten. Erst erschienen sie als verfremdete Echos, später wurden sie zu eigenständigen Begleitern, indem sie Obertöne aufnahmen und weiterführten; ein Pizzicato etwa erhielt dadurch eine Art Glöckchen umgehängt und empfing so subtile klangliche Erweiterung. Der Erste, der eine solche Horizonterweiterung versucht hat, war Arnold Schönberg, der in seinem zweiten Streichquartett (fis-Moll, op. 10, 1907/08) eine Singstimme einsetzt. Mit dem Beizug einer Singstimme in «Strings» schliesst Robert HP Platz an diesen historisch bedeutsamen Moment an. Tatsächlich war da buchstäblich Unerhörtes zu erleben. Die Sopranistin Julia Wischniewski und das Quatuor Béla hatten daran ganz wesentlichen Anteil.

In einem halben Jahr geht es weiter in diesem Stil – dem Badenweiler Stil, der durch Klaus Lauer begründet worden ist und durch seine Nachfolgerin Lotte Thaler in eigener Handschrift weitergeführt wird. «Spätlese» verheisst die Herbstausgabe der Musiktage. Sie findet zwischen dem 7. Und dem 10. November 2019 statt. Der grossartige französische Pianist Bertrand Chamayou bietet ein Programm, das von selten gespielten Werken französischer Provenienz ausgeht, um in Prélude, Choral et Fugue von César Franck zu kulminieren. Im zweiten Teil stehen sich Wolfgang Rihm und Franz Liszt gegenüber, von dem die in jeder Hinsicht anspruchsvollen «Réminiscences de Don Juan» erklingen. Am zweiten Abend spielt das vielversprechende amerikanische Dover Quartet Streichquartette von Paul Hindemith und Johannes Brahms. Die beiden Kammerkonzerte des Wochenendes bringen die Begegnung mit dem Atos-Trio, einem deutschen Klaviertrio, das an den hundertsten Geburtstag des Komponisten Mieczyslaw Weinberg erinnert und sich im Finale für eine Abfolge von Raritäten um die Bratscherin Tabea Zimmermann und ihre Freunde schart. Programme, wie sie Lotte Thaler im Verein mit ihren Gästen ersinnt, gibt es nur in Badenweiler.

Erwin Schulhoff: Streichquartett Nr. 1. Pavel Haas: Streichquartett Nr. 2. Hans Krása: Thema und Variationen. Quatuor Béla. Klarthe K077 (Aufnahme 2017).

Grenzüberschreitungen

Die Badenweiler Musiktage im Herbst 2018

 

Von Peter Hagmann

 

Badenweiler ist und bleibt die Reise wert. Im lieblichen Markgräflerland gelegen, einer südlich anmutenden Gegend mit herrlichen Weinen, nutzt der Kurort das Heilwasser, das auf den Anhöhen eines kleinen Seitentals zur Oberrheinischen Tiefebene entspringt. Vom Ortszentrum aus blickt man hinunter zum Rhein und hinüber ins Elsass, bei Föhn bis nach Mulhouse und Colmar. Da und dort stösst man im Ort auf den Namen des Schriftstellers René Schickele, eines deutschsprachigen Elsässers aus der ersten Hafte des 20. Jahrhunderts, der sich mit Weitblick jener kulturellen Schnittstelle zuwandte, von der die Gegend bestimmt wird. Und gleich denkt man an Colmar, wo bis heute Jean-Jacques Waltz dominiert, der zur gleichen Zeit wie Schickele unter dem Künstlernamen Hansi fürs Elsass stritt – allerdings für die französische Sache. Womit wir mittendrin wären in den Badenweiler Musiktagen.

Nämlich bei der Osmose zwischen dem Deutschen und dem Französischen, die seit jeher einen Grundpfeiler des kleinen, aber äusserst feinen Festivals für alte und neue Kammermusik bildet. Es war so bei Klaus Lauer, seinem Gründer und langjährigen Leiter. Und es bleibt so bei Lotte Thaler, die seit diesem Jahr die künstlerische Verantwortung für die inzwischen von der Thermenverwaltung der Stadt getragene, durch zahlreiche Sponsoren unterstützte Einrichtung trägt – dabei aber sehr persönlichen Akzente setzt. Diesen Herbst verwirklichte sich der Dialog zwischen den beiden Kulturkreisen in der Begegnung von Claude Debussy, der vor hundert Jahren gestorben ist, mit Bernd Alois Zimmermann, der ebenfalls vor einem Jahrhundert zur Welt gekommen ist.

Mit Jean-Efflam Bavouzet, einem ganz aussergewöhnlichen, hierzulande freilich wenig bekannten Pianisten aus Frankreich, erarbeitete Lotte Thaler ein überaus spannendes Programm, das neben dem zweiten Band der «Préludes» von Claude Debussy zwei Klaviersonaten von Joseph Haydn und dazu Debussys «Hommage à Haydn» sowie drei Stücke aus dessen späten Etüden enthielt. Gerade diese horribel schweren Stücke sind im Konzert so gut wie nie zu hören, Bavouzet bewältigte sie in bewundernswerter Bravour. Nicht weniger brillant meisterte er den zweiten Band der «Préludes», der ebenfalls weniger häufig auf den Programmen steht als der erste. Schon die technische Seite seines Spiels löste ungläubiges Staunen aus, erst recht gilt das für das von ihm erzeugte Farbenspektrum, das einen Klangrausch sondergleichen auslöste, und sein erzählerisches Temperament, das die bisweilen etwas distanziert wirkende Musik Debussys ganz nah an den Zuhörer heranbrachte.

Bernd Alois Zimmermann wiederum kam mit seinen «Monologen» für zwei Klaviere zu Wort, die das Klavierduo Andreas Grau und Götz Schumacher auf dem Programm hatten – einem Programm übrigens, das so beziehungsreich gestaltet war, wie es in Badenweiler Sitte ist. Gleichsam persönlich trat Zimmermann ins Licht bei einer Gesprächsveranstaltung zu dem dieses Jahr erschienenen Band «Con tutta forza», in dem Bettina Zimmermann ihren Vater porträtiert. So vielgestaltig wie das Buch, das mit Schilderungen der Autorin, mit Bildern aus dem Familienarchiv, Briefen und Erinnerungen von Weggefährten durch das Leben des Komponisten führt, so bewegt und bewegend war die Gesprächsrunde, bei der Lotte Thaler mit Bettina Zimmermann sprach und Rainer Peters zusammen mit der Autorin aus dem Buch vorlas. Dass über Musik kundig gesprochen, dass dieser Kunst durchaus aktiv verstehend begegnet werden kann, das hat diese Matinee in aller Eindringlichkeit fassbar gemacht.

Überhaupt nimmt – darin liegt eines der Kennzeichen des Festivals – das Nachdenken und Sprechen über die erklingende Musik in Badenweiler einen bedeutenden Stellenwert ein. Diesen Herbst zum Beispiel war Stefan Litwin zu Gast, der deutsche Pianist, der sich mit seinen Lecture Recitals einen Namen gemacht hat. Litwin hatte den Variationenzyklus «The People United Will Never Be Defeated» von Frederic Rzewski mitgebracht, den er im zweiten Teil seiner Matinee so souverän und so sprechend darbot, dass der Spannungsbogen über der knappen Stunde Musik in voller Kraft zur Geltung kam. Davor aber sprach Litwin über das, was er danach vorzutragen gewillt war – und er tat das in freier Rede, packend von A bis Z. Er ging auf die Entstehung des Zyklus ein, wies auf das politische Statement hin, das seine Uraufführung 1976 im Kontext der 200-Jahr-Feiern der USA abgab, und führte dann mit Hörbeispielen durch die 36 Variationen, die das chilenische Revolutionslied «El pueblo unido jamás será vencido» in postmoderner Vielfalt beleuchten. Kein Blatt nahm Litwin vor den Mund, als er die Umstände schilderte, deretwegen Sergio Ortega das von Rzewski verarbeitete Lied komponiert hat: die Wahl Salvador Allendes zum Staatspräsidenten Chiles 1970 und dessen von den USA betriebenen Sturz durch den in der Folge zum Diktator beförderten General Augusto Pinochet drei Jahre später. Mit Schaudern konnte man dabei an die heutigen Verhältnisse auf dem amerikanischen Kontinent denken.

Debussy, Zimmermann, Rzewski – das ist kein Zufall. Bei den Badenweiler Musiktagen hört die Musik nicht 1914 auf, sie geht in ungebrochener Kontinuität und aller Selbstverständlichkeit weiter bis in unsere Tage. Davon zeugte diesen Herbst der Abend mit dem Arditti String Quartet. Kompromisslos wiesen Irvine Arditti und Ashot Sarkissjan (Violinen), Ralf Ehlers auf seiner eigenhändig gebauten Viola und der Cellist Lucas Fels darauf hin, wie unbändig modern das frühe Streichquartett op. 3 (1910) von Alban Berg klingen kann. Im fünften Streichquartett Hans Werner Henzes fand sich dann auch die Quelle für das Motto dieses Badenweiler Herbstes; «Echos, Erinnerungen, ganz von fern» nennt sich der fünfte Satz dieses immer wieder erstaunlichen Werks. Ein Glanzlicht ergab sich jedoch durch familiäre Verbindungen, denn mit dem ganz ausgezeichneten Countertenor Jake Arditti gesellte sich der Sohn des Primarius zum Quartett. Und sang dort mit den «Canciones lunáticas» (2008/09) der Mexikanerin Hilda Paredes ein attraktives Werk seiner offenkundig herzlich geliebten Stiefmutter. Den Schluss machte «Cosa resta» für Streichquartett und Countertenor – bitte beachten Sie die Reihenfolge – von Salvatore Sciarrino, eine witzige, in die charakteristische Handschrift des Italieners gefasste Aufzählung der Gegenstände, die der Renaissance-Maler Andrea del Sarto bei seinem Tod hinterlassen haben soll.

War nicht Richard Strauss der Meinung, ein zünftiger Komponist müsse auch das Telephonbuch vertonen können? Wie auch immer, danach schritt man frohgemut zum weissen Wein, denn nach allen Abendkonzerten des Festivals schenkt einer der Winzer aus der Gegend eine Spezialität aus seinem Keller aus. Auch das gehört, natürlich, zu den Badenweiler Musiktagen.

*

Die nächste Ausgabe der Badenweiler Musiktage findet vom 1. bis zum 4. Mai 2019 statt. «Frühling. Erwachen» heisst das Thema. Zur Eröffnung gibt es einen Liederabend mit dem Bariton Christian Gerhaher und dem Pianisten Gerold Huber. Das Béla-Quartett aus Lyon interpretiert unter anderem ein Streichquartett des Kölners Robert HP Platz, während der junge deutsche Pianist Frank Dupree etwa Werke von George Antheil spielt und sich das Boulanger-Trio zusammen mit dem Klarinettisten Kilian Herold einem rein französischen Programm widmet.

Bettina Zimmermann: «Con tutta forza». Bernd Alois Zimmermann – ein persönliches Portrait. Unter Mitwirkung von Rainer Peters. Wolke-Verlag, Hofheim 2018. 464 S., 34 Euro / 52 Franken.

Alle sechzehn, keinesfalls weniger

Die Streichquartette Beethovens und ein Epochenwechsel bei den Badenweiler Musiktagen

 

Von Peter Hagmann

 

Besonders, nämlich fordernd und anregend, waren die Badenweiler Musiktage jederzeit. Als ich zum ersten Mal in die liebliche Gegend etwas nördlich von Basel kam, vor knapp dreissig Jahren, fanden sie noch im Hotel Römerbad statt und hiessen darum «Römerbad-Musiktage». Klaus Lauer, ihr Erfinder und spiritus rector, wirkte von Berufs wegen als Geschäftsführer des hochkarätigen Hauses in Badenweiler, hatte zugleich aber eine ausgeprägte Schwäche für klassische Musik. Weil dem Hotelier missfiel, dass in den trüben Novembertagen die Gäste ausblieben, trat der Melomane auf den Plan. 1973 gründete Lauer die Römerbad-Musiktage als ein kleines, aber eben besonderes Festival von wenigen Tagen eines verlängerten Wochenendes; es sollte die Auslastung des Hauses fördern und gleichzeitig eine ungewöhnliche Art Begegnung mit der Musik bieten. Bis 2007 leitete er das über die Jahre hin vielfach erweiterte Festival, dann zog es ihn weg: aus dem Hotel wie aus dem Schwarzwaldstädtchen. 2008 ging er für vier Jahre nach Bad Reichenhall, wo er die künstlerische Leitung des Festivals Alpenklassik besorgte; 2013 kehrte er nach Badenweiler zurück, um die Intendanz der neu gegründeten Badenweiler Musiktage zu übernehmen.

Bild Badenweiler Musiktage

In der Grundidee ging es den damaligen Römerbad-Musiktagen darum, das Erlebnis der gehobenen Hotellerie mit einem hochstehenden musikalischen Angebot zu verbinden. Da die von Lauer eingeladenen Künstler ebenfalls im Hotel wohnten, geschah diese Verbindung in intimem Rahmen. Wer sich auf einen Spaziergang aufmachte, konnte im Vorbeigehen mit dem (inzwischen verstorbenen) Pianisten Zoltan Kocsis ein Wort wechseln. Wer spät am Abend noch auf ein Glas in die Bar ging, konnte dort auf Mitsuko Uchida stossen, die am Flügel nicht genug bekommen konnte von Schubert. Die ungewohnte Nähe zwischen dem Künstler und seinen Zuhörern, sie beförderte im Publikum die Intensität der Auseinandersetzung wie den Mut, sich auf Neues einzulassen. So bildete sich hier eine Stammklientel, die sich ganz und gar dem Geist des Festivals verschrieb – die spezielle Konstellation und ihre anhaltend geglückte Konkretisierung ermöglichten es.

Zu dem in Badenweiler gelebten Geist gehörte nicht nur die Offenheit in ästhetischer Hinsicht, sondern auch intellektuelle Regsamkeit. Einführungen genossen alle Aufmerksamkeit, bisweilen waren auch Proben offen, und die kritische Anteilnahme fand auf hohem Niveau statt. Nicht zu unterschätzen war aber auch die ganz eigene Sinnlichkeit der Veranstaltung. Mag sein, dass die südbadischen Weine ihre Rolle spielten. Ebenso von Bedeutung war die im «Römerbad» gepflegte Kulinarik; nicht von ungefähr erinnere ich mich mit einigem Wohlgefallen daran, wie in den letzten Momenten der Konzerte die Düfte des anschliessenden Abendessens verbreiteten. Und kein Wunder, hat sich Heinz Josef Herbort, der damalige Musikkritiker der «Zeit», in einem Herbst nicht seinem Metier hingegeben, sondern sich als Hilfskraft in der Hotelküche verdingt – und dafür in einer kleinen Zeremonie ein Diplom sowie die vereinbarte Gage in der Höhe von einer Deutschen Mark überreicht bekommen.

Das Zentrum des Geists von Badenweiler bildete indessen eine im positiven Sinne elitäre Grundhaltung. Nur das Beste, nur das Interessanteste sollte gut genug sein. Erstklassige Vertreter ihrer Kunst waren zugegen. 1989, die Berliner Mauer war eben gefallen, konnte man Kontakt aufnehmen mit dem Komponisten György Kurtág und seiner Gattin Márta, der Pianistin, beide im Westen noch so gut wie unbekannt. Im Jahr zuvor war Elliott Carter zu Gast gewesen, der damals schon achtzigjährige Komponist aus den USA, der hierzulande selten gehörte Musik im Geist der europäischen Avantgarde schrieb. Zentralfiguren waren Wolfgang Rihm und Pierre Boulez. Als er den berühmten Komponisten und Dirigenten für einen Auftritt in Badenweiler angefragt habe, so Klaus Lauer, sei die Antwort ein glattes Nein gewesen; für ein einzelnes Konzert komme er nicht, es müsse schon eine ganze Woche sein. So kam es 1990 zu jener denkwürdigen Ausgabe der Musiktage, bei der Boulez mit dem damals noch von ihm selbst geleiteten Pariser Ensemble Intercontemporain einen denkbar breiten Horizont moderner Musik ausschritt.

Mit dem Abschied Klaus Lauers von seinem Hotel und, wenigstens vorläufig, von seinem Festival war das dahin. Allerdings nicht ein für alle Mal, wie inzwischen feststeht. 2013 wurden das Festival wiederbelebt, nun unter der Bezeichnung «Badenweiler Musiktage» und durchgeführt von der örtlichen Therme zusammen mit der Gemeinde und einer Gruppe von Sponsoren, aber nach wie vor mit zwei Ausgaben, einer im Frühjahr, einer im Herbst. Die Atmosphäre des grossbürgerlichen Hotels ist Vergangenheit, nicht aber der Geist. Einführungen gibt es weiterhin. Und am Ende der Konzerte wird jeweils ein Glas badischen Weissweins gereicht, was der Kontaktnahme förderlich ist – zum Beispiel jener mit den Musikern, die sich bald unters Publikum mischen. Und was die Programmgestaltung betrifft, ist bei den Badenweiler Musiktagen auch heute manches möglich, was andernorts ausgeschlossen wäre.

Wer wäre schon in der Lage, eine integrale Aufführung der sechzehn Streichquartette Ludwig van Beethovens an sechs Abenden aufs Programm zu setzen, die Grosse Fuge op. 133 eingeschlossen, und das dargeboten von einem einzigen Streichquartett? Bei Klaus Lauer ist so etwas möglich; er hat es seinem Publikum, aber auch sich selbst geschenkt – zum Abschluss, zum Abschied, denn mit dieser Herbst-Ausgabe des Festivals zieht sich Lauer von der Leitung der Badenweiler Musiktage zurück. Mitgetragen hat das wagemutige Projekt das Danel-Quartett, das französisch geprägte Ensemble mit Sitz in Brüssel, das schon seit 1991 besteht, im deutschsprachigen Kulturkreis aber viel zu wenig bekannt ist.

Das ist zu bedauern, handelt es sich hier doch um eine sehr spezielle, weil sehr persönlich wirkende Gruppierung. Seine Mitglieder unterscheiden sich erheblich voneinander. Der Cellist Yovan Markovich, seit 2013 mit dabei, bleibt jederzeit, auch in heikelsten Momenten, souverän und makellos, bringt zugleich aber ungeheure musikalische Energie ins Ensemble ein. Ihm zur Seite der Bratscher Vlad Bogdanas, der, wenn er denn heraustreten darf, eine Innigkeit eigenen Zuschnitts hören lässt. Noch mehr gilt das für Gilles Millet, der an der zweiten Geige den ruhenden Pol bildet, dabei aber keineswegs im Schatten bleibt, weil er so viel unaufgeregte Genauigkeit beisteuert. Das braucht es, denn Marc Danel als Primarius ist ein Feuerteufel erster Güte. Er legt sich unheimlich in den Klang und seine Verläufe hinein, und dabei zieht es ihm bisweilen vor lauter Spannung die Beine hoch – wann hat man Derartiges schon gesehen, ja gehört? Die Vielfarbigkeit der vier Musikerpersönlichkeiten findet nun aber zu einer Übereinstimmung, die nur staunen lassen kann; so eng sind sie miteinander verbunden, dass alles wie aus einem Guss, wie aus einer Geste heraus klingt.

Ein geradezu orchestraler Zugriff bestimmt die Auslegung der drei Quartette op. 59, die Beethoven für den Fürsten Rasumowsky geschrieben hat. Das heisst freilich nicht, dass die verrückten Zuspitzungen, die der Komponist hier gesucht hat, in der Fülle des Wohlklangs untergingen – nein, sie kommen erst recht als solche zur Geltung. Viele Einzelheiten bleiben dabei in Erinnerung, etwa die rhythmische Prägnanz, die, vom Primarius mit seiner fast perkussiven Bogenführung ausgelöst, das F-dur-Quartett op. 59, Nr. 1 kennzeichnet, oder das sensationell stimmende Tempo im Scherzo und im Trio des C-dur-Quartetts op. 59, Nr. 3. Im Vergleich zur Extravaganz von Opus 59 boten die drei nächsten Quartette, F-dur op. 74, f-moll op. 95 und Es-dur op. 127, spielfreudige Entspannung. Mit historisch informierter Aufführungspraxis hat das Danel-Quartett nichts am Hut. Dennoch wurde in der Maestoso-Einleitung zum Kopfsatz von Opus 127 ebenso sorgfältig wie phantasievoll mit dem Einsatz des Vibratos gearbeitet. Während sich in dem unglaublich ausladenden Adagio dieses Quartetts wieder Wunder an Tempogestaltung ereigneten.

Bild Badenweiler Musiktage

Der gewaltige Schlusspunkt war ein Abschied ganz nach dem Geschmack von Klaus Lauer. Im kommenden Frühjahr geht es jedoch mit neuer Energie weiter. In der Musikologin Lotte Thaler, noch für kurze Zeit als Musikredaktorin beim SWR tätig und als langjährige Besucherin, bisweilen Mitwirkende, mit den Badenweiler Musiktagen vertraut, ist genau die richtige Nachfolgerin gefunden worden. Auch wenn sie ihre eigenen Akzente setzt, bleibt sie dem Geist von Badenweiler treu. «Heut’ und ewig» lautet das Motto ihrer ersten Ausgabe – was heisst, dass das Kernrepertoire seine Bedeutung bewahrt, dem Hergebrachten aber Neues beigesellt wird. Indem sie an den hundertsten Todestag von Claude Debussy und den hundertsten Geburtstag von Bernd Alois Zimmermann erinnern, führen die Badenweiler Musiktage im Frühjahr 2018 die traditionelle Verbindung zwischen dem Deutschen und dem Französischen weiter. Das Pariser Quatuor Diotima wird Tristan Murail spielen und das Streichquartett Debussys, aber auch das erste Quartett Arnold Schönbergs. Der Bariton Hans Christoph Begemann wird Lieder von Franz Schubert mit solchen von Wolfgang Rihm kombinieren. Ilya Gringolts wird mit James Boyd und Thomas Demenga unter anderem die drei für ihre Instrumente geschriebenen Solosonaten vorstellen, während Alexander Melnikov auf nicht weniger aus drei Instrumenten Klaviermusik zwischen Schubert und Strawinsky einbringt. Nicht wenig, was dieser Auftakt verspricht.

Die nächsten Badenweiler Musiktage, die ersten unter der Leitung von Lotte Thaler, finden vom 28. April bis zum 1. Mai 2018 statt. Informationen unter www.badenweiler-musiktage.de.