Neue Musik – älter und neuer

Eindrücke von den Tagen für neue Musik Zürich

 

Von Peter Hagmann

 

Ungewohnter Anblick in der Tonhalle Maag. Hinter einem Vorhang, der sich zu Beginn langsam öffnete und am Ende ebenso langsam wieder schloss, waren die Streicher des Tonhalle-Orchesters Zürich zu sehen, allerdings aufgereiht auf einem ansteigenden Podest und mit Blick ins Publikum, zudem in violett schimmerndes Licht getaucht. Wie die Blasmusik auf dem Dorf hatten sie ein Notenblättchen am Instrument befestigt, und alle machten sie dieselben stereotypen Bewegungen, was zu einer Klangfläche à la Ligeti führte. Das eine oder andere Mal traten Störungen ein, erschien zum Beispiel ein Trommler vor dem Stimmführer der Bratschen und löste in ihm einen ekstatischen, heftig gezackten Soloauftritt aus – bevor er wieder ins Kollektiv versank.

Zu hören war während der gut zwanzig Minuten allerdings nicht nur ein Streicher-Cluster, das wäre vielleicht doch etwas einfach gewesen. Zu vernehmen war auch eine sehr bewegte, offenkundig komplex geformte Musik von Bläsern und Schlagzeugern – nur kamen diese Klänge aus dem Hintergrund und aus Lautsprechern. Tatsächlich war der Rest des Orchesters zusammen mit dem Dirigenten Pierre-André Valade hinter dem Podium für die Streicher plaziert, im Verborgenen also, und dies bis auf einen kurzen Auftrit eines Trompeters, der wie ein Turmbläser früherer Zeiten sein Ding aus der Höhe zum Besten gab. Der statische Vordergrund und der bewegte Hintergrund durchdrangen sich in vielfältigster Weise zu einem Geschehen, das man mit anhaltendem Interesse und nicht geringer Erheiterung verfolgte.

«Trans» nennt sich die Komposition, von der die Rede ist. Sie stammt von Karlheinz Stockhausen, der sie im Dezember 1970 geträumt haben will und sie 1971 niederschrieb, auf dass sie bei den Donaueschinger Musiktagen jenes Jahres zur Uraufführung komme. Das waren noch Zeiten. Für Stockhausen neigte sich die Phase der Raumkomposition ihrem Ende zu, das Szenische drang mehr und mehr in seine künstlerischen Visionen ein, und die spirituellen Ansätze begannen das Denken des Komponisten zu prägen. Davon (und nicht nur von den Bläsern, die duch die Streicher hindurchklingen) zeugt «Trans». Dass die Komposition Eingang gefunden hat in das Programm der Tage für neue Musik Zürich, ist äusserst verdienstvoll. Hat das kleine, aber weitherum beachtete Festival, das von der Stadt Zürich getragen und jedes Jahr von einem anderen Kurator gestaltet wird, nicht auch diese Aufgabe: hörbar zu machen, dass selbst die neue Musik eine Geschichte hat?

Im Programm, das heuer von Jens Schubbe, dem künstlerischen Leiter des Collegium novum Zürich, unter Beizug von Peter Revai zusammengestellt worden ist, erwies das auch das Eröffnungskonzert mit dem Zürcher Kammerorchester. Aus jüngerer Zeit stammten an diesem Abend das klangfarblich vielgestaltige Stück «Stellen» des Schweizers Dieter Ammann und «Lebensbaum III», ein melodiöses, sinnliches Werk der seit langem in Europa lebenden Koreanerin Younghi Pagh-Paan. Etwas älter, aber in seinen wilden, wüsten Reibungen äusserst vital «Voile» von Iannis Xenakis. Zwei Werke, nämlich «Cantio, Moteti und Interventiones» von Klaus Huber sowie die Musik für 22 Solostreicher von Jacques Wildberger, standen für den (gelungenen? gescheiterten?) Versuch, dem Materialdenken der sechziger Jahre doch etwas von der damals noch geächteten Expressivität abzugewinnen. Unter der Leitung von Roland Kluttig trat das ZKO allein mit Streichern auf; nicht zuletzt ihnen ist zu verdanken, dass der Abend belebt und belebend wirkte.

Durchmischte Eindrücke hinterliessen Stücke aus jüngerer Zeit. «Un despertar» von Matthias Pintscher zum Beispiel, dem Inhaber des «creative chair» beim Tonhalle-Orchester Zürich. Das Werk beeindruckte weniger durch kompositorische Fasslichkeit als durch die hochvirtuose Leistung des Cellisten Sasha Neustroev, der von seinen Kolleginnen und Kollegen aus dem Orchester und dem wie stets souveränen Dirigenten Pierre-André Valade zuverlässig begleitet wurde. Anregenderes brachte das Quatuor Diotima für seinen spätabendlichen, nicht eben günstig platzierten und darum wenig beachteten Auftritt mit. Das Ensemble mit Yun-Peng Zhao und Constance Ronzatti (Violinen), Frank Chevalier (Viola) und Pierre Morlet (Violoncello), welches das Neuste vom Tage ebenso selbstverständlich meistert wie Schubert, hatte ein Stück des Deutschen Enno Poppe von 2016 dabei.

«Buch» nennt es sich, und es stellt, wie der Komponist schreibt, eine Verneigung vor dem «Livre pour quatuor» von Pierre Boulez dar. Was hätte der 2016 verstorbene Altmeister gesagt zu einem Kopfsatz, in dem so ziemlich alles schräg klingt, was schräg klingen kann? In dem Tonhöhen schwanken, Rhythmen aus dem Takt geraten und unablässig hinaufgeschraubt wird? Noch verrückter der zweite Satz, der phantasievoll und verspielt mit wenig anderem als jammernden Glissandi aufwartet – fast musste man fürchten, Poppe wolle partout Salvatore Sciarrino auf die Schippe nehmen. Dann freilich war die Luft draussen, fanden die Ideen des Komponisten nicht mehr dieselbe Fasslichkeit, weshalb sich die Sätze drei bis fünf etwas in die Länge zogen. Für seinen Anfang wenigstens lässt sich dieses «Buch» aber durchaus noch einmal in die Hand nehmen.

Tage für neue Musik Zürich 2016

 

Peter Hagmann

Klein-Donaueschingen, Fein-Witten

Verstreutes zu den Tagen für neue Musik Zürich

 

Sie brauchen sich keineswegs zu verstecken, die Tage für neue Musik Zürich, auch nicht vor den Donaueschinger Musiktagen oder den Wittener Tagen für neue Kammermusik. Natürlich wird im grossen Kanton mit anderen Kellen angerichtet, zumal mit dem Südwestrundfunk in Donaueschingen und dem Westdeutschen Rundfunk in Witten zwei mächtige Radiosender mit langjähriger Tradition im Bereich der musikalischen Avantgarde mit im Boot sind. In der little big city werden im Vergleich dazu kleinere Brötchen gebacken. In Zukunft erst recht, soll das Zürcher Festival für die Speerspitze der Kunstmusik fortan doch bloss noch jedes zweite Jahr, als Biennale also, von der Stadt Zürich durchgeführt werden – mehr erlaube der Kassenstand nicht. Dienlich ist da vielleicht der Blick nach Venedig. Dort gibt es die Biennale Musica, die auch der neuen Musik gewidmet ist und ebenfalls im Herbst stattfindet. Dies allerdings jedes Jahr…

Ein Schritt zurück

Braucht es die Tage für neue Musik Zürich überhaupt? Die Frage ist vielleicht nicht ganz unberechtigt, hat das aktuelle musikalische Schaffen inzwischen doch eine bemerkenswerte Präsenz erreicht, sogar in Zürich. Noch ist die Musik nicht so weit wie die Bildenden Kunst, wo Ausstellungen aus dem Bereich der Moderne mehr Besucher anziehen als solche mit alter Kunst. Aber die Donaueschinger Musiktage werden seit vielen Jahren vom Publikum förmlich gestürmt; manche Konzerte finden dort mit einer Platzbelegung von 110 Prozent statt. Selbst das Tonhalle-Orchester Zürich wagt sich, angestachelt von seiner Intendantin Ilona Schmiel, hie und da in ungewohnte Gefilde – hier freilich stets noch mit vermindertem Publikumszuspruch. Erheblich gewachsen ist auch die Szene der freien Ensembles, die offen sind für das Neue. Und für viele Musikerinnen und Musiker, die an der Zürcher Musikhochschule nachrücken, reicht das Spektrum des Interesses selbstverständlich bis zur Jetztzeit.

Vor dreissig Jahren, als die beiden Komponisten Thomas Kessler und Gérard Zinsstag in einer äusserst verdienstvollen, damals geradezu revolutionären Tat die Tage für neue Musik begründeten, war das anders. Damals war das Angebot an neuer Musik in Zürich ausgesprochen schmal. Und damals hat das Tonhalle-Orchester eine als äusserst gewagt empfundene Aufführung der Turangalîla-Sinfonie von Olivier Messiaen noch durch eine Pause bereichert. Darum handelte Roman Hess nicht weniger weitblickend, als er das Festival 1994 – Kessler und Zinsstag hatten aus verständlichen Gründen als Veranstalter an Energie verloren – unter die Fittiche der städtischen Kulturverwaltung nahm. Der Musikwissenschaftler René Karlen, der im Zürcher Präsidialdepartement für die Kunstmusik eintritt, führte dann das Kuratorenmodell ein. Es brachte den jährlichen Wechsel in der künstlerischen Leitung mit sich und führte damit zu einem Verlust an Kontinuität, aber auch zu einer rasch wechselnden Folge unterschiedlicher persönlicher Handschriften.

Dass nun gerade hier ausgedünnt wird, ist – bei allem Verständnis für die sogenannte Finanzlage – sehr bedauerlich. Wenn in den Zwischenjahren die Partner der Tage für neue Musik selbständig für Ersatz sorgen wollen, wird rasch die Frage aufkommen, ob das Festival als solches nicht ganz aufgehoben werden kann. Externalisierung wird das im Kommerziellen, Privatisierung im Politischen genannt, und man weiss, was es für Verluste mit sich bringt. Das wäre dann ein echter Rückschritt. Denn das geballte Angebot eines sehr verlängerten, sehr dicht besetzten Wochenendes bringt entschieden Gewinn – die diesjährige Ausgabe der Tage für neue Musik Zürich hat es wieder unter Beweis gestellt. Natürlich war durch die Idee, das dreissigjährige Bestehen der Institution zu begehen, manches vorgegeben, so dass Hans-Peter Frehner, dem Kurator dieses Jahres, der mit dem von ihm gegründeten Ensemble für neue Musik Zürich schon an der ersten Ausgabe mitgewirkt hat, weniger Spielraum blieb als Kuratoren früherer Jahren Indessen waren die Eindrücke wieder sehr vielfältig, gab es erneut reichlich Horizonterweiterungen, Entdeckungen und Überraschungen.

Pionierzeiten

Zum Beispiel schon im Vorprogramm. Ein Podium bekam da Peter Révai, der sich ebenfalls seit dreissig Jahren in Zürich um die Vermittlung von Musik bemüht, die den Computer miteinbezieht. In einem Abendkonzert stellte er vier Stücke vor, die sich digitale Technik in verschiedener Weise zunutze machen – indem sie mittels Computer den Notentext berechnen, natürlich erzeugte Klänge erweitern oder künstliche Klänge erzeugen. Zum einen zeigte sich, wie wagemutig Iannis Xenakis in «Theraps» (1976) oder Julio Estrada in «Yuunohui’nahui» (1988), beide Stücke sind für Kontrabass solo geschrieben, den Tonraum erweitert haben – Nicolas Crosse beeindruckte da durch eine Virtuosität ganz eigener Art. Zum anderen konnte man liebevoll auf einen Versuch blicken, wie ihn Marco Stroppa in «Traiettoria» (1985) für Klavier und computergeneriertes Tonband unternommen hat. Was der Pianist Florian Hoelscher zustande brachte, war atemberaubend; was aus dem Lautsprecher kam, klang dagegen nach längst vergangenen Pionierzeiten – ohne die freilich nichts möglich geworden wäre. Ähnliche Eindrücke hinterliess tags darauf im Grossmünster die Rekonstruktion von «Le Poème électronique», einer multimedialen Installation, die Le Corbusier, Iannis Xenakis und Edgar Varèse für den Pavillon des Philips-Konzerns an der Weltausstellung von 1958 in Brüssel entworfen hatten. Visionär wirkte der Versuch, Visuelles, Akustisches und Räumliches zu einer Einheit zusammenzufügen; die Diaprojektoren lösten zugleich nostalgische Gefühle aus. Dass dieses Gemeinschaftswerk ans Licht gehoben werden konnte, ist eines der Verdienste Révais.

Jede Musik, auch die allerneuste wird und schafft Geschichte – das erlebbar zu machen, darf durchaus auch Teil eines Festivals sein, das de Aktualität auf der Spur ist. Die «Musica» in Strassburg und «Wien modern» machen vor, wie aufschlussreich und anregend Repertoirepflege im Bereich der neuen Musik sein kann. In Zürich wurde dies auch durch die Anwesenheit von Liza Lim geleistet, der fünfzigjährigen Komponistin aus Australien, die auch hierzulande nicht ganz unbekannt ist. Hans-Peter Frehner hat sie als «composer in residence» eingeladen und als ganz eigene Farbe ins Programm eingeschleust. Im Eröffnungskonzert mit dem Ensemble für neue Musik Zürich gab es eine Uraufführung («The turning dance of the bee»), während eine (allerdings sehr spärlich besuchte) Sonntagsmartinee im Toni-Areal Türen zum kammermusikalischen Schaffen öffnete. Übers Knie gebrochen konnte man nach dieser stillen, aber eindringlichen Matinee sagen, dass Liza Lim klar einem avantgardistischen Idiom verpflichtet bleibt, dass es der von Martina Schucan vorbereiteten Gruppe von Studierenden an der Zürcher Musikhochschule zum Teil aber eindrücklich gelungen ist, in den Interpretationen persönliche Farben aufscheinen zu lassen. Und ohne Interpretation bekanntlich keine Musik, auch keine neue.

Aus der Taufe gehoben

Herzstück der Tage für neue Musik Zürich 2016 bildeten aber die nicht weniger als zehn Uraufführungen, die im Programm versammelt waren – tatsächlich fast wie in Donaueschingen oder in Witten. Die Idee des diesjährigen Festivals bestand darin, zum Jubiläum alle künstlerischen Leiter der letzten drei Jahrzehnte mit neuen (beziehungsweise neueren) Stücken oder als Interpreten zur Wort kommen zu lassen. So wurde im Orchesterkonzert, dem Beitrag des Tonhalle-Orchesters zu den Tagen für neue Musik Zürich, eine Partitur von Thomas Kessler («Utopia III»), bei der jedes Orchestermitglied zusätzlich zu seinem Instrument einen Laptop zu bedienen hatte, aus der Taufe gehoben und wurde von Gérard Zinsstag «Empreintes» von 2003 vorgestellt. Unmittelbar danach schlossen sich Uraufführungen von Bettina Skrzypczak («Riss») und Moritz Müllenbach («am and fm in dab times lost themselves streaming with friends») an, und hier traten zu der Cellistin Martina Schucan der Saxophonist Marcus Weiss und der Pianist Christoph Keller.

Besonders vielfarbig geriet der Auftritt des Collegium Novum Zürich, an diesem Abend unter der wie stets souveränen Leitung von Jonathan Stockhammer. In einem ausnehmend schönen, dabei sich in keinem Augenblick anbiedernden «Notturno» nimmt Sebastian Gottschick Materialien aus dem Fundus des Repertoires in die Hand, um phantasievoll und verspielt mit einzelnen Gesten zu arbeiten, die er daraus gewinnt. Nadir Vassena wiederum legt in «Vox vocis, ein Stimmenkatalog» einen Teppich aus, auf dem Mats Scheidegger, Virtuose auf der E-Gitarre, zusammen mit einem Ensemble seine Kunst und die klangliche Vielfalt seines in der komponierten Musik nicht eben häufig anzutreffenden Instruments ausbreiten kann. Ganz besonders wirksam aber «Esquisse: le froid» von Walter Feldmann, der die Tage für neue Musik nach Kessler und Zinsstag während eines ganzen Jahrzehnts geprägt hat. Feldmann, nicht nur Komponist, nicht nur Flötist, sondern auch Sprachwissenschaftler, holt sich Prinzipien der Konstruktion aus Texten, in diesem Fall von der französischen Autorin Anne-Marie Albiach, und setzt sie in Klang um. In einer eigenartigen Weise ist in seinem Stück strenge Struktur zu spüren, und zugleich tut sich eine äusserst sinnliche Farbenwelt auf, die von einem Marimbaphon (Jacqueline Ott als Zauberin darauf) sowie einem Flügel und einer Harfe gestützt und erweitert wird. Neue Musik kann ganz schön spannend und gleichzeitig spannend schön sein.

Tage für Neue Musik Zürich

 

Peter Hagmann

Klarheit in der Vielfalt

Das Tonhalle-Orchester Zürich erstmals mit Sylvain Cambreling

 

Schreiben sie sich jetzt mit grossem oder mit kleinem «N», die Tage für Neue Musik Zürich? Einmal und meist mit grossem, ein anderes Mal mit kleinem – und das hat durchaus seinen Hintersinn. Erinnert das grosse «N» im Adjektiv doch an jene nun schon weit zurückliegende Zeit, da sich die Neue Musik mit aller Emphase als unerhört, als Beitrag zur Weiterentwicklung des Materials, somit im weitesten Sinn als Fortschritt verstand. Während das kleine «n», das heute und im Zeichen des «anything goes» üblich geworden ist, bescheidener auf irgendeine Art Gegenwärtigkeit verweist.

Beides gehört zu dem von der Stadt Zürich jeden Herbst durchgeführte – und grosszügig durchgeführte – Festival. Auf der einen Seite nämlich, so scheint es, nehmen die Tage für Neue Musik Zürich durchaus in Anspruch, zeigen zu wollen, dass die Tonkunst keineswegs so stehenbleibt, wie es das Abonnementskonzert suggeriert, dass sie sich vielmehr laufend und produktiv verändert. Auf der anderen möchte aber auch dieses Kurzfestival, und das ist legitim, reine Information bieten über das, was sich in der Szene tut.

Das Kuratorenmodell

Ihre Ziele verfolgen die Tage für Neue Musik Zürich in ausgesprochen persönlicher Weise. Jedes Festival im Bereich der Gegenwartsmusik wird von einer Handschrift geprägt, die sich in der Programmgestaltung verwirklicht. Die Donaueschinger Musiktage trugen lange Zeit die Signatur von Armin Köhler, der letztes Jahr viel zu früh einer Krebserkrankung erlegen ist, bei Wien Modern wirkte im Hintergrund der überaus kenntnisreiche und stilsichere Lothar Knessl und wird im nächsten Jahr der in Österreich lebende Schweizer Bernhard Günther das Zepter übernehmen, bei der Strassburger Musica bestimmt seit langem Jean-Dominique Marco den Kurs. In solcher Konstellation entwickelt sich die Handschrift über längere Zeiträume, sie verändert sich im besten Fall, im schlechteren versteinert sie.

Bei den Tagen für Neue Musik Zürich ist das grundsätzlich anders. 1986 von den beiden Komponisten Thomas Kessler und Gérard Zinsstag ins Leben gerufen und 1994 ins Dossier von René Karlen aus der Präsidialabteilung der Stadt Zürich übergeführt, trug das Festival lange den Stempel der Gründer. Seit einiger Zeit wird es nun aber von jährlich wechselnden Kuratoren geleitet. Das führt zu raschen Beleuchtungswechseln, zu erhöhter Agilität und letztlich vielleicht doch einer breiteren Wahrnehmung der Geschehnisse. Jeder Kurator hat seinen ganz persönlichen Blick, das bringt Einengung mit sich und zugleich, in der Abfolge der Kuratoren, Erweiterung.

Diesen Herbst war die Reihe an Bettina Skrypczak, der seit langem in der Schweiz lebenden Komponistin aus Polen. «Heureka!» überschrieb sie ihr vier Tage umfassendes Programm – als ob sie hätte anzeigen wollen, was die Neue oder die neue Musik ausmache. Fehlanzeige; gerade das Gegenteil war der Fall. Ihr Programm liess vielmehr aufscheinen, mit welcher Vielfalt der Erscheinungsformen der Begriff der «neuen Musik» heute verbunden ist. Die ehemalige Avantgarde von Karlheinz Stockhausens «Gesang der Jünglinge» kam ebenso zu Wort wie das Unterfangen des «Stone Orchestra», das den Klang von Natursteinen in die Szene einzubringen sucht.

Besonders packend verwirklichte sich der Ansatz der Kuratorin dieses Jahres in jenem Konzert, mit dem sich das Tonhalle-Orchester Zürich an den Tagen für Neue Musik beteiligte. Programme, die so schlüssig gebaut sind und so anregend wirken, wie es an diesem Abend der Fall war, sind Raritäten, die man nicht hoch genug schätzen kann. Und die Selbstverständlichkeit, mit der hier Musik unserer Zeit als Ausdruck von Geschichte wie von Gegenwart dargebracht wurde, hatte etwas Bezwingendes. Zu verdanken war das dem Dirigenten Sylvain Cambreling, einem Interpreten, der im Spezialgebiet der neuen Musik genauso profiliert wirkt wie im Bereich des klassisch-romantischen Repertoires. Und der hier zum ersten, aber hoffentlich nicht letzten Mal ans Pult des Zürcher Orchesters trat.

Freiheit und Kontrolle

Zwei Stücke in der Besetzung des Tripelkonzerts bildeten sozusagen einen langen ersten Teil des Abends; und zwei Werke, in denen das Erklingende nicht ausschliesslich auf schriftlicher Fixierung basiert, die Klammer. In dieses dramaturgisch konzis gebaute Programm mischten sich Töne denkbar unterschiedlichster Herkunft. Eröffnet wurde der Abend durch die Uraufführung von «No Alarming Interstice» des Genfers Jacques Demierre – wobei das schon eine halbe Fehlinformation darstellt. Demierre ist Pianist und wirkt zusammen mit dem Luzerner Saxophonisten Urs Leimgruber und dem aus San Francisco stammenden Kontrabassisten Barre Phillips in einem Trio, das seine Musik aus der Improvisation heraus entwickelt. Und das sich hier mit einem Klangkörper zusammengetan hat, der mit notierter Musik zu arbeiten gewohnt ist. Was das im Einzelnen bedeutet, war im Zuhören nicht direkt zu fassen. Das Stück, im Rahmen des Projekts «œuvres suisses» entstanden, wartete mit einer Fülle an disparaten Entwicklungen auf, an denen das Orchester auch mit Geräuschklängen  Anteil nahm. Im Endergebnis präsentierte sich da eine rüde, aufgeladene Klangwelt, wie sie in gewissen Sektoren der neuen Musik zum guten Ton gehört.

Welchen Gegensatz bot da Wolfgang Rihm mit seinem 2014 in Berlin uraufgeführten, vom Tonhalle-Orchester mitbestellten «Trio Concerto» für Klaviertrio und Orchester, also die von Beethoven her bekannte Tripelkonzert-Besetzung. Rihm hat alle Zwänge der avantgardistischen Masken hinter sich gelassen; er komponiert, wozu er Lust hat und was ihm einfällt – aber jenseits jeder Beliebigkeit: kreatürlich und zugleich bewusst entwickelnd. In seinem Tripelkonzert geht er diesbezüglich besonders weit. Das Trio Jean Paul mit Ulf Schneider (Violine), Martin Löhr (Violoncello) und Eckart Heiligers (Klavier) sowie das Tonhalle-Orchester Zürich verbreiteten ein hohes Mass an Sinnlichkeit: in Kantilenen, innerhalb deren dichte Bezüge hörbar werden – etwa dort, wo Gesten vom einen Instrument ans andere weitergegeben und dann verwandelt werden. Vor tonalem Wohlklang schreckt der Komponist keineswegs zurück, ja er spricht sogar offen von seiner Liebe zur Musik Gabriel Faurés. Die neue Musik nicht als Unerhörtes, sondern als Teil, Fortsetzung und Erweiterung des Gewesenen.

Ähnlich hat der grosse, leider viel zu selten gespielte Pole Witold Lutoslawski gedacht: streng in seinen handwerklichen Kriterien, frei in seinen Vorstellungen von Klangentwicklung. In «Livre pour orchestre» von 1968 setzt er ein wenig nach der Art eines Rondos den kontrollierten Zufall ein. Zwischen vier Hauptteile schieben sich Intermedien, bei denen sich die Orchestermitglieder im Rahmen gewisser Vorgaben nach eigenem Gutdünken entfalten können. Dem Tonhalle-Orchester Zürich hat das einen ungeheuren Energieschub verliehen; präsent, lustvoll und mit Verve nahmen sich die Musikerinnen und Musiker des Stücks an und brachten es unter der so präzisen wie motivierenden Leitung von Sylvain Cambreling zu einer eine absolut bezwingenden – mehr noch: zu einer restlos begeisternden Deutung. Ob das nun Neue oder neue Musik sei oder vielleicht gar nichts von beidem, durfte da getrost offen bleiben.