Mozart im Elsass

«Così fan tutte»
nach der Premiere in Strassburg

 

Von Peter Hagmann

 

Strasbourg

Über die lieblichen, von Weinbergen durchzogenen Gefilde des Oberrheins erstreckt sich eine Kulturlandschaft von eigenem Reiz. Zwischen Basel und Strassburg, im Umkreis von hundertfünfzig Kilometern, steht eine Fülle an zum Teil eindrücklichen Theaterbauten und Konzerthäusern – alle mit Publikum. Einen Schwerpunkt bildet die Opéra national du Rhin in Strassburg. Seinen Namen trägt das Institut zum einen, weil es vom französischen Staat subventioniert wird, zum anderen aber, weil es neben seinem Hauptsitz das Théâtre municipal de Colmar und das Théâtre municipal de Mulhouse mit seinen beiden Spielorten in der modernen Filature und dem 1868 eröffneten Théâtre de la Sinne bedient – eine Konstruktion, nur wesentlich komplexer, wie im Theater-Orchester Biel-Solothurn oder der Deutschen Oper am Rhein in Düsseldorf und Duisburg.

Mulhouse

Ob so etwas funktionieren kann – das war die Frage, der sich jetzt anhand der Produktion von «Così fan tutte» nachgegangen werden konnte: Mozart an drei Stationen im Elsass. Die Premiere war kurz vor Ostern in Strassburg über die Bühne gegangen – mit durchzogenem Erfolg, wie ich fand (vgl. «Mittwochs um zwölf» vom 20.04.22). Weitere fünf weitere Vorstellungen gab es daraufhin im Stammhaus. Nach einem kurzen Unterbruch folgten zwei Aufführungen im alten Haus von Mulhouse und eine im 1849 eröffneten Stadttheater von Colmar. Die Gewichtung mag erstaunen, ist Colmar mit 65’000 Einwohnern doch fast doppelt so gross wie die südlich davon, auf halbem Weg nach Basel gelegene Schwester. Mulhouse scheint mir allerdings kulturell ambitionierter, wovon die 1993 abgeschlossene Errichtung der Filature zeugt und, vor allem, die Führung des städtischen Orchestre Symphonique de Mulhouse, das sich auch an den Produktionen der Strassburger Oper beteiligt und dort sehr anständige Figur macht. Für die Stadt mit ihrer heiklen sozialen Struktur, aber auch einem reizenden, von Leben erfüllten alten Kern nicht eben selbstverständlich.

Colmar

Drei Mal dasselbe gab es also – und es wirkte drei Mal anders, allen Konstanten zum Trotz. Schon vom Klima im Zuschauerraum her. In Strassburg, der stolzen Stadt Europas, kam das merklich bürgerlich ausgerichtete Publikum der Kenner und Liebhaber zusammen; es nahm «Così fan tutte» mit der gewohnten Distinguiertheit entgegen. Ganz anders im reizenden Haus von Mulhouse, wo bei der Vorstellung an einem wunderschönen Sonntagnachmittag im Parkett und den drei Rängen gespannte Aufmerksamkeit herrschte – es knisterte förmlich im Saal. In Colmar schliesslich, auch hier in einer Sonntagnachmittagsvorstellung in einem nicht weniger würdigen Haus à l’talienne, gab man sich leger; es wurde vernehmlich gesprochen und daraufhin zurechtgewiesen, und als nach der Abreise der beiden Verlobten in den Kriegsdienst als ein äusserst wirksamer coup de théâtre ein toter Soldat mit Getöse aus dem Schnürboden auf die Bühne fiel, entstand eine Heidenaufregung – etwas Italienisches hatten die Publikumsreaktionen an sich.

Ähnliche Wandlungen liess die musikalische Anmutung erkennen. Nach dem unverbindlichen Eindruck der Strassburger Premiere schälte sich in den kleineren Räumen von Mulhouse und Colmar heraus, wie plausibel Duncan Ward als musikalischer Leiter der Produktion kammermusikalische Ansätze verfolgte. Das Orchester war klein besetzt; ein Kontrabass und ein Violoncello genügten für das Fundament. Das ergab ein lichtes Klangbild, in dem die hervorragenden Bläser des Orchestre philharmonique de Strasbourg dominierten – und dabei erkennen liessen, wie viel Bedeutung, auch wie viele anforderungsreiche Aufgaben Mozart diesen Instrumenten in «Così fan tute» zugedacht hat. Wards frische Tempi orientierten sich am Klangbild, das war einsichtig und erschien als logisch. Dass sich der Dirigent, unverkennbar begabt, so wenig auf die emotionale Tiefe dieser Musik einliess, dass er naiv, ja beinah kindlich über so berührende Momente wie das «Addio»-Ensemble nach der Abreise der (angeblich) zu Soldaten gewordenen Verlobten hinwegmusizierte, blieb freilich auch hier, in der trennscharfen Akustik von Colmar noch mehr als in Mulhouse, unverständlich. Statt atemlos dem Aufbau der eigenen Karriere nachzuhecheln, könnte sich der junge Brite ein wenig mit der Rezeptionsgeschichte des Werks, mit Nikolaus Harnoncourt, René Jacobs oder Teodor Currentzis befassen. Und sich von ihnen für die Entwicklung einer echt individuellen Sicht anregen lassen.

Im Rahmen des Gegebenen ausgezeichnet bewährt hat sich das Sextett der Vokalsolisten. Die beiden Paare, der das Spiel leitende «Philosoph» und seine Helfershelferin – sie hatten sich in den beiden letzten Vorstellungen der Serie regelrecht freigespielt. Musikalisch blieben freilich dieselben Desiderate offen wie bei der Premiere. Sehr überzeugend gab Nicolas Cavallier den Don Alfonso nicht als einen gelangweilten, vom Leben enttäuschten Dandy, sondern als einen ausgefuchsten Zyniker, ja einen Frauenhasser von beträchtlichem Zerstörungspotential. Immer wieder zerstört hat der Sänger allerdings auch die Aufführung selbst: durch seine rhythmische Ungenauigkeit und sein dröhnendes stimmliches Auftrumpfen. Darunter litten zumal die Ensembles – aber nicht nur darunter: weil alle Sängerinnen und Sänger üppiges Vibrato einsetzten, blieben die Lineaturen unscharf und verlor der Zusammenklang seine Wirkung. Als besonders störend fiel nicht zuletzt die Art und Weise auf, in der alle Beteiligten auf die Schlusssilben hinsangen und auf ihnen sitzenblieben – von sprechendem Singen keine Spur, im Opernbetrieb ist das leider noch immer viel zu weit verbreitet.

Stärkste Überraschung bot sich auf der Ebene der Inszenierung; drei Mal dasselbe führte hier zu Vertiefung und Wachstum des Verständnisses. Bei David Hermann spielt «Così fan tutte» nicht an einem Tag, sondern in einem Lebensabschnitt, der von den jungen Tagen vor 1914 über den Verlust des Kontakts im Ersten Weltkrieg, die Wiederbegegnung in der Zwischenkriegszeit und die Langeweile in erkalteten Beziehungen bis hin in das fatale Finale von 1945 mit der vorgetäuschten Doppelhochzeit. Das ist als Ansatz ambitioniert, zu ambitioniert vielleicht für einen einmaligen Opernbesuch. Doch ist da alles mehr als anregend, nämlich messerscharf durchdacht und in vielschichtiger Hochpräzision ausgeführt – auch in den subtil unterstreichenden Kostümen von Bettina Walter und dem beweglichen, problemlos an die unterschiedlichen Dimensionen der Bühnen ausserhalb von Strassburg adaptierbaren Bühnenbild von Jo Schramm. Am Schluss löst sich alles auf. Freilich nicht mit dem fragwürdigen Hinweis, es sei alles bloss ein Scherz gewesen, und nicht mit der unglaubwürdigen Rückkehr der beiden Paare in die alte Konstellation. Sondern mit einer scharfen körperlichen Attacke der beiden Bräutigame auf Don Alfonso und wütenden Anklagen der beiden Frauen an die Adresse ihrer Männer. Fiordiligi und Dorabella, sie sind ihrer Zofe Despina auf dem Weg der Emanzipation gefolgt und stehen vierzig Jahre nach dem Beginn der Geschichte gründlich an einem anderen Ort des Selbstverständnisses. Wovon der «Notar» beim Verlesen des Ehekontrakts in einer spassigen Einfügung Zeugnis ablegt.

Mozart im Zeitenwechsel

«Così fan tutte» an der Oper Strassburg

 

Von Peter Hagmann

 

Heilung im Kabarett: «Così fan tutte» in Strassburg / Bild Klara Beck, Opéra national du Rhin

Das letzte Wort zu «Così fan tutte» ist nicht gesprochen. Die einen stossen sich bis heute an der Frivolität der von Lorenzo da Ponte zum Libretto geformten Geschichte, an dem durch einen in die Jahre gekommenen Müssiggänger angezettelten Partnertausch, der sich am Ende aber doch in einem Happy End auflöst – eventuell, eventuell aber auch nicht. Die anderen schätzen die Musik Wolfgang Amadeus Mozarts, können mit der offenkundigen Unwahrscheinlichkeit der Vorlage aber überhaupt nichts anfangen: mit der Art und Weise, in der hier Frauen für dämlich verkauft werden – natürlich Frauen aus dem Adel, denen Mozart im Grunde nur in einer einzigen Hinsicht gewogen war. Jedenfalls stellt «Così fan tutte» die Opernhäuser immer wieder aufs Neue vor beträchtliche Schwierigkeiten.

Das ist jetzt auch in der Opéra national du Rhin in Strassburg zu erleben, wo sich der deutsch-französische Regisseur David Hermann, ein kraftvoll geistreicher Vertreter des interpretierenden Theaters, der Oper Mozarts gestellt hat. «Così fan tutte» spielt bei ihm nicht an einem Tag als ein von Don Alfonso inszenierter Streich, die Verstrickungen zwischen den beiden Paaren Dorabella und Ferrando auf der einen Seite, Fiordiligi und Guglielmo auf der anderen ziehen sich vielmehr durch ein fast ganzes Leben; Eckdaten bilden hier die Jahre vor dem Ersten Weltkrieg und dann die Zeit des Wirtschaftswunders um 1950.

Als abgeklärter Intellektueller trägt Don Alfonso stets eine Zeitung bei sich – aus der er von der Mobilmachung 1914 erfährt. Nicht nur Ferrando und Guglielmo, auf Alfonso selbst ziehen sich den Rucksack über. Wenig später kehren die beiden Liebhaber schwer gezeichnet zurück, doch ihre Damen wollen nichts wissen von zwei durch den Krieg so schauerlich entstellten Monstern. Das gibt einem schon ziemlich zu denken, gerade angesichts der Kriegsbilder, die derzeit so dominant im Raum stehen. Erneute Annäherung zwischen den Partnern ergibt sich nicht durch den Einfluss des Mesmerschen Apparats, sondern durch eine wilde Vorstellung in einem Kabarett der zwanziger Jahre, in dem sich die beiden Männer mitsamt Alfonso als Schauspieler verdingen.

Womit wir im zweiten Akt angelangt wären – und damit in den dreissiger Jahren. Nach zehn Jahren der Ehe sind sich die beiden Paare schon ziemlich gleichgültig geworden, weshalb sie von Alfonso und seiner Assistentin Despina in einen Swingerclub geführt werden. Dort geschieht es dann. Doch schon bricht der Zweite Weltkrieg aus und kommt es zu neuerlicher, wenn auch weitaus gravierender, Verunsicherung. Eine grosse Bombe wird aus dem Schnürboden in die von Jo Schramm entwickelte Szenerie heruntergelassen, und erneut stellt sich die Frage, ob solche Bilder in der augenblicklichen Situation erträglich sind. Das Finale selbst lässt alles offen, das Dramma giocoso zerstiebt. Das ist alles anregend erdacht und, bis hin den aussagekräftigen Kostümen von Bettina Walter, handwerklich untadelig durchgeführt – dem Verständnis des schwierigen Stücks dient es wenig. Zu weit hergeholt wirken die Konstruktionen, die diesem Abend althergebrachten Regietheaters zugrunde liegen, zu sehr verschwindet im Hintergrund, wozu eine Inszenierung Stellung zu beziehen hätte.

Die musikalische Seite der Produktion vermag da nicht wirklich dagegenzuhalten. Der junge Brite Duncan Ward ist ein erkennbar begabter Dirigent, stilistisch ist er aber noch nicht in der Lage, dem Kosmos Mozarts beizukommen. Nicht dass die historisch informierte Aufführungspraxis das Mass aller Dinge sein müsste, aber deren für die Weiterentwicklung der musikalischen Interpretation zentralen Erkenntnisse haben doch Wege offengelegt, die einen fruchtbaren Blick unter die Oberfläche des Notentextes ermöglichen. Duncan Ward erlaubt sich, auf den Stand von Karl Böhm zurückzukehren; leicht, flüssig und vor allem natürlich soll «Così fan tutte» klingen. Artikulation und Phrasierung bieten keine Nahrung, hurtig wird über vieles hinwegmusiziert – was vom Orchestre philharmonique de Strasbourg bewundernswert gemeistert wird. Von der berührenden Emotionalität, auch der tiefen Melancholie, die in dem angeblich so lustigen Experiment des Don Alfonso zum Tragen kommt, ist allerdings wenig zu spüren, viel zu wenig. Da kann der Abend schon lange werden.

Und dies trotz einer ganz ausgezeichneten Besetzung. Als Don Alfonso hat Nicolas Cavallier mit seinem mächtigen Bariton das Heft jederzeit in der Hand; er singt ausgezeichnet, aber ganz und gar für sich selbst, ohne Kommunikation mit dem Graben. Aufsehenerregend auch Lauryna Bendžiūnaitė als als eine agile und zugleich klangvolle Despina. Bei den Herren bringt Björn Bürger als Guglielmo einen wunderbar gerundeten Bariton ein, während Jack Swanson als Ferrando bisweilen etwas sehr an Fritz Wunderlich und damit an einen Mozart-Ton von ehedem erinnert. Von grossartiger Präsenz Gemma Summerfield als Fiordiligi, warm im Timbre und ausstrahlungsstark Ambroisine Bré als Dorabella.

Nach den sechs Vorstellungen im Stammhaus zieht die Produktion im Mai weiter nach Mulhouse und Colmar, die beiden elsässischen Städte, die, ähnlich dem Modell der Deutschen Oper am Rhein in Düsseldorf und Duisburg oder den Theatern von Biel und Solothurn von Strassburg aus bespielt werden. Was die unterschiedlichen räumlichen Konstellationen für die Aufführung bedeuten, wird sich weisen.

Das Bühnenweihfestspiel im Zeichen des Zeitgeistes

Wagners «Parsifal» in Strassburg

 

Von Peter Hagmann

 

Parsifal heilt Amfortas / Bild Klara Beck, Opéra du Rhin Strasbourg

In Strassburg beginnt die Oper vor der Oper: auf der grosszügigen Allee, die auf der Place Broglie hin zur Opéra du Rhin führt – und das nicht ohne Pathos tut. Im Fall von Richard Wagners «Parsifal», derzeit in Strassburg zu sehen und zu hören, hat das seine eigene Stimmigkeit. Der erste Aufzug des Bühnenweihfestspiels mit seinem enormen Ritual der Gralsritter, in das Parsifal als der reine Tor unschuldig staunend einbricht, gerät zu einem ausladenden, pastosen Tableau. Dessen monumentale Wirkung fördert nicht zuletzt der Dirigent Marko Letonja bei, der hier sehr getragene Tempi wählt, die Spannungsbögen aber nicht durchwegs zu halten weiss. Auch hinsichtlich der Balance blieben in der Premiere Wünsche offen. Anders als Ante Jerkunica, der die Partie des Gurnemanz mit sonorer Tiefe versieht, dringt Markus Marquardt (Amfortas) mit seinem etwas helleren Timbre nicht in ausreichendem Mass durch die klanglichen Wogen, die das Orchestre philharmonique de Strasbourg erzeugt. Erst recht gilt das für Konstantin Gorny (Titurel), der im ersten Aufzug weit im Hintergrund zu singen hat. In Sachen Homogenität und Strahlkraft wenig befriedigend zudem die Chöre, ob sie nun über die scheppernde Lautsprecher-Anlage klingen oder auf der Bühne wirken.

Auch szenisch stellt der erste Aufzug besondere Anforderungen. Schon im Vorspiel – was einmal mehr zu Lasten der Musik geht – werden eine junge Frau gezeigt, die sich nach ihrem verstorbenen Mann verzehrt, und ihr halbwüchsiger (Mathis Spolverato), der im weiteren Verlauf als das halbwüchsige Alter Ego Parsifals an der Seite des Protagonisten durch das Geschehen zieht. Zu sehen sind auf der beweglichen Bühne von Boris Kudlicka auch die Räume eines Museums, in denen sich die Jugend von heute mit der Geschichte der Menschheit vertraut macht. Aus dem Museumsbild heraus wird dann das Ritual der Gralsritter entwickelt, treten dort doch Restauratoren in Erscheinung, die mit dem später auf seine ganze Höhe aufgezogene Turiner Grabtuch beschäftigt sind. Deutungsansätze unterschiedlichster Art verschlingen sich hier, ohne dass sie Konsistenz erkennen liessen. Erst im dritten Aufzug lösen sich die Rätsel auf, zum Teil wenigstens. Wird deutlich, dass das Museum einerseits als Quelle des Weltverständnisses eingeführt ist, andererseits als Hort jener Erstarrung, von der die Gesellschaft der allesamt schwer verletzten Gralsritter betroffen ist.

So komplex (und nicht immer schlüssig) diese Einkleidung wirkt, so überraschend gelingt ihre Fokussierung auf die Figur des Parsifal, in der sie ihre Aussage findet. «Durch Mitleid wissend» – was  diese Zuschreibung dem japanischen Regisseur Amon Miyamoto bedeutet, ist im dritten Aufzug, nach dem Besuch Parsifals bei den Blumenmädchen Klingsors (Simon Bailey), zu erfahren. Es ist ein eindringlicher Aufruf zum Respekt vor dem Mitmenschen und, vor allem, vor der Natur, die als ein dichter, dunkelgrüner Wald in Erscheinung tritt und als ein Affe, der als verstehendes Tier dem Menschen die Wege weist. Dass Kundry, die von Christianne Stotijn mit gar viel Vibrato gesunden wird, am Ende zum Engel verklärt wird, überschreitet freilich die Grenze zum Kitsch. Dennoch, in diesem dritten Aufzug erhält auch die musikalische Seite ihre klarste Konturierung. Zumal Thomas Blondelle, ein vorzüglicher Darsteller und ausgezeichneter, freilich noch etwas forcierenden Tenor, einen draufgängerischen Parsifal zeichnet, dem nach und nach die Augen aufgehen und dem bewusst wird, wohin der Weg führen könnte.

Die Macht der Bilder

«Don Giovanni» in Strassburg

 

Von Peter Hagmann

 

Vor aller Augen: Don Giovanni und Zerlina in Strassburg / Bild Klara Beck, Opéra national du Rhin, Strasbourg

Anregend ausgedacht, exzellent ausgeführt, aber viel zu viel des Guten – so erscheint die Inszenierung von «Don Giovanni», die Marie-Eve Signeyrole für Oper Strassburg entwickelt hat. Eine ebenso anregende wie verwirrende Vielfalt an Bild und Aktion stürzt auf den Zuschauer ein, der Zuhörer kommt sich da oft wie überflüssig vor – fast hat es den Anschein, als gehe die Musik Wolfgang Amadeus Mozarts spurlos an der eifrigen Regisseurin vorbei. Wenn zur Champagnerarie des Don Giovanni im Saal geräuschvoll Eis gereicht wird, verdichtet sich der Verdacht zur Gewissheit. War da kein Dirigent beteiligt, der in den Proben Gegensteuer hätte geben können?

Ein Dirigent ist tatsächlich dabei an diesem Strassburger Abend, doch Christian Curnyn ist ganz und gar mit sich selber beschäftigt. Unverwandt blickt er in die Partitur, an seiner Umgebung scheint er kein Interesse zu haben, und so gibt er auch keine Einsätze – wie sollte er auch, verwendet er seine beiden Arme doch fast durchwegs synchron. Auch der vielschichtigen Rezeptionsgeschichte des so häufig gespielten Stücks vermag er, wie er im Programmheft gesteht, nichts abzugewinnen; er ziehe es vor, seinen eigenen, direkten Kontakt zur Partitur zu pflegen – eine rührend naive Aussage, die von einem Musikhochschüler stammen könnte. So klingt es denn auch: unpersönlich, unbestimmt. Da und dort steigt eine Erinnerung an Karl Böhm auf, vor allem aufgrund der oft überzeugend gewählten, wenn auch unbarmherzig gerade durchgezogenen Tempi. Mit der Bühne kommt es darum unweigerlich zu Spannungen – etwa dann, wenn Sängern keine Zeit bleibt, Atem zu holen, oder wenn unwillkürliche Temposchwankungen eintreten und der Maestro concertatore gefragt wäre. Für das Orchestre philharmonique de Strasbourg freilich ist Christian Curnyn genau der Richtige. Seine lange Leine gibt den Musikerinnen und Musikern Gelegenheit, in dem taghellen, transparenten Klangbild des Abends ihr Bestes zu zeigen.

Wie das Orchester nicht durch den Dirigenten gestört wird, bleibt auch das Szenische durch die Musik nur marginal berührt. In der hochkomplexen, unerhört beweglichen Ausstattung von Fabien Teigné und mit den aussagekräftigen Kostümen von Yashi führt Marie-Eve Signeyrole eine Bühneninstallation durch, die sich an den Auftritten der serbischen Performerin Marina Abramović orientiert. Der Ansatz wirkt plausibel, fragt sich die hochbegabte, scharf interpretierende Regisseurin doch, wer Don Giovanni überhaupt sei? Ein Niemand sei er, sagt sie, ja ein Nichts – das Gegenteil so viriler Verkörperungen, wie sie Dietrich Fischer-Dieskau oder Ruggero Raimondi auf die Bühne gebracht haben. Nikolay Borchev ist in Strassburg denn auch ein ganz und gar lyrischer, weichzeichnender Don Giovanni – einer, der selten das Heft in die Hand nimmt, der aber alles dafür tut, dass ihm mitgespielt wird. Dass er schliesslich genug hat vom Spiel und sein Leben nicht durch den Komtur (Patrick Bolleire) zu Ende gehen lässt, sondern sich die Henkersmahlzeit durch seinen Diener Leporello (den sehr witzigen Michael Nagl) vergiften lässt, hat seine eigene Logik. Don Giovanni als Anti-Mann, das strahlt voll auf die anderen Figuren des Geschehens aus. Don Ottavio (Alexander Sprague) wie Masetto (Igor Mostovoi) sind als Waschlappen gezeichnet – was freilich eine Plattitüde darstellt. Anders die Frauen. Mit ihrer klar fokussierten, obertonreichen Stimme gibt Jeanine de Bique eine kämpferische, nur selten in die Knie gehende Donna Anna, während Sophie Marilley als eine hartnäckig zielstrebige Donna Elvira in Erscheinung tritt. Besondere Aufmerksamkeit erzielt die junge Sopranistin Anaïs Yvoz, welche die Partie der Zerlina blendend aus dem Schattendasein holt.

Das alles in einem szenischen Arrangement, das reich besetzt ist durch bildliche Zitate; neben Marina Abramović treten Oleg Kulik, Ruben Östlund und Stanley Kubrick. Und das ausserdem die Gesichter der Darstellerinnen und Darsteller immer wieder in grossformatigen Videosequenzen von nahem sehen lässt. Nicht nur sind die Augen da beständig hin- und hergerissen zwischen dem Spiel auf der Bühne und dem Projizierten auf der Leinwand, von der Bildästhetik her ergibt sich da auch eine bedenkliche Annäherung an die aus berühmten Opernhäusern in Kinos übertragenen Aufführungen, mithin eine Abwertung des Live-Charakters eines Opernabends. Überraschend und amüsant ist jedoch, wie konkret Marie-Eve Signeyrole ihre Vorstellung von Don Giovanni als einer Projektion umsetzt. Sie verwischt die Grenzen zwischen den Ausführenden und dem Publikum, indem sich Figuren aus der Oper vor Beginn der Vorstellung unter die herbeiströmenden Besucher mischen und indem umgekehrt durch Los bestimmte Zuschauerinnen und Zuschauer auf der Bühne Platz nehmen und zu ihrer Überraschung heftig ins Geschehen involviert werden. Das führt zu manch komischem Moment, aber auch zu einem schrecklichen, denn die arme Zerlina wird von dem hier aus seiner Lethargie erwachenden Don Giovanni vor aller Augen malträtiert: die Festgesellschaft wird da zu einer Gruppe von Gaffern. Das wäre dann die Höllenfahrt des Publikums.

Das war hier animierend oder animierend, dort problematisch – es ändert nichts daran, dass die Produktion in ihrer Weise von dem Aufbruch zeugt, den Strassburger Rheinoper derzeit erlebt. Allein, es ist ein Aufbruch auf Zeit, denn seine Auslöserin, die Intendantin Eva Kleinitz, die ihr Amt im Herbst 2017 angetreten hat, ist am 30. Mai 2019 im jungen Alter von 47 Jahren einer heimtückischen Krankheit erlegen. Bei den Bregenzer Festspielen, in der Brüsseler Monnaie-Oper und zuletzt an der damals noch von Jossi Wieler geleiteten Staatsoper Stuttgart hat die Musik- und Literaturwissenschaftlerin aus der Umgebung von Hannover Erfahrungen gesammelt und ihr Netzwerk aufgebaut. Unter ihrer Leitung hat das Strassburger Haus gleich ein neues Gesicht angenommen. Vergessene Werke wie «Barkouf», die freche Operette von Jacques Offenbach, erschienen im Spielplan und sorgten für frischen Wind. Ein multidisziplinäres Festival namens «Arsmondo» richtete den Blick auf die Kultur einzelner Länder wie Japan (2018) oder Argentinien (2019). Und neue Namen erschienen auf den Besetzungszetteln. Die nächste, die dritte Spielzeit wird die letzte sein, die Eva Kleinitz erdacht hat. Das Leben kann unglaublich brutal sein.