Schubert der Grosse

Paavo Järvi nimmt in C-Dur Abschied von der Tonhalle Maag in Zürich

 

Von Peter Hagmann

 

Wenige Wochen noch, dann wird nicht nur diese als Folge der Pandemie so gründlich verunglückte Saison, sondern auch die Tonhalle Maag Geschichte sein. Eine stolze Tat war der Einbau dieses hölzernen Konzertsaals in eine ehemalige Industrie- und Eventhalle. Das Provisorium für gut 1200 Konzertbesucher bot dem Tonhalle-Orchester Zürich eine mehr als taugliche Heimstätte für die vier Jahre der Bauarbeiten am Stammsitz beim Bürkliplatz. Zentral war hier der in hellem Fichtenholz gehaltene Saal von Spillmann Echsle Architekten mit seiner Akustik von Müller-BBM München; er schuf ein Raumgefühl, das so rasch nicht vergessen gehen wird. Ebenso ins Gewicht fiel das Darumherum: die leichte Erreichbarkeit mit dem öffentlichen Verkehr, das sympathische Restaurant im seitlichen Anbau mit seinen zugigen Fenstern, vor allem aber das Foyer mit seinem industriellen Charme, seinen improvisiert wirkenden Heizstrahlern und seiner von der Tonhalle-Gesellschaft selbst geschaffenen, zum Verweilen einladenden Gastlichkeit. Da ist ein Ort der Kommunikation entstanden, von dessen Geist hoffentlich etwas ins angestammte Haus am See mitgenommen und dort weitergepflegt werden kann.

Aber eben, die stolze Tat war eine auf Zeit. Nach dem Auszug des Orchesters im Sommer wird der Konzertsaal in Teilen abgebaut und fürs erste umgewandelt in einen Room for Light Shows, ein «Lichtmuseum für immersive Kunst». Alle Bemühungen, den Konzertsaal als solchen zu erhalten, sind gescheitert; als unmöglich hat sich erwiesen, eine auf verschiedenen Schultern, nicht nur auf jenen der Tonhalle-Gesellschaft ruhende Trägerschaft zu errichten. Zürich ist nun einmal nicht Musikstadt genug, um neben der altehrwürdigen, nach einer umfassenden Renovation im Herbst dieses Jahres wieder aufgehenden Tonhalle einen zweiten, ähnlich konfigurierten Konzertsaal erfolgreich zu betreiben. Ebenso wenig scheint sich die die Idee eines Zentrums für alternative Formen von Kunstmusik in dieser Stadt realisieren zu lassen. Ein hochfliegendes Projekt endet im Sand. Darum geht es jetzt ans Abschiednehmen – an die Trennung von einer kulturellen Stätte, die vieles, was gewöhnlich nebeneinander in Erscheinung tritt, in ein fruchtbares Miteinander gebracht hat: Alt und Jung, Klassisches und Moderneres, Industrie (vergangen) und Kultur (trotz Corona lebendig), Versenkung und Sinnlichkeit.

Einer hat schon Abschied genommen. Es ist Paavo Järvi, Musikdirektor des Tonhalle-Orchesters Zürich. In den vergangenen Wochen war er kontinuierlich in Zürich, um mit dem Orchester zu arbeiten. Der Zyklus der Sinfonien (und anderer Orchesterwerke) Peter Tschaikowskys ist aufgenommen und zum Teil schon auf dem Markt. Ähnliches gilt für die Sinfonien (und weiteren Stücke) Felix Mendelssohn Bartholdys. Beide Aufnahmeprojekte sollen im Herbst, anlässlich der Eröffnung der Tonhalle am See, in Form von CD-Boxen erscheinen. Bei Tschaikowsky, so der Eindruck des bisher Gehörten (vgl «Mittwochs um zwölf» vom 31.10.19, 28.10.20, 27.01.21 und 14.04.21), fühlt sich Järvi restlos zu Hause. Seine musikalische Art entspricht dieser Musik in hohem Masse, und er entwickelt zu ihr anregende Deutungsansätze. Mit Mendelssohn aus Järvis Hand gibt es mehr Mühe. Mendelssohns kompositorische Sprache ist von ausgesprochen fein ziselierter Struktur, da trifft der klanglich handfeste Zugriff Järvis nicht wirklich – und das, obwohl das Tonhalle-Orchester auch hier, wie bei Tschaikowsky, hochstehende Leistungen erbringt. Beim «Sommernachtstraum», kürzlich in der «Global Concert Hall» des Streaming-Dienstes Idagio präsentiert, stellte sich schon in der Ouvertüre das Gefühl ein, hier werde eine Spur zu dick aufgetragen. Und der «Hochzeitsmarsch» akkurat gezügelt, aber auch einfach eins zu eins gegeben – und das ist gerade bei diesem Stück mit seiner ausgeprägten Rezeptionsgeschichte zu wenig. Keine Spur jedenfalls vom Brio und vom Enthusiasmus, den ein Dirigent wie Claudio Abbado bei dieser Musik aufscheinen liess. Nur dies noch: Die Damen der Zürcher Sing-Akademie hatten eine glänzende Stunde.

Von der Tonhalle Maag verabschiedet hat sich Paavo Järvi aber mit Franz Schubert, und zwar mit der Grossen C-Dur-Sinfonie, nach heutiger Zählung der Achten. Gross ist sie nicht nur im Gegensatz zur «Kleinen» C-Dur-Sinfonie Schuberts, gross wirkt sie auch – daran war schon darum kein Zweifel, weil Järvi die zahlreichen Wiederholungen, die von Dirigenten früherer Zeiten gerne ignoriert wurden, voll beim Wort nahm. Dafür schlug er in allen vier Sätzen überraschend flüssige Tempi an, pflegte er auch einen fest gefügten Klang eher spätromantischen Zuschnitts. Weg vom weichlichen Dreimäderlhaus-Schubert hin zum Visionär, der stilistisch weit über seine Zeit hinausdenkt, das war der Ansatz; er entspricht im Grundzug heutiger Auffassung und hat eine Plausibilität. Was jedoch einmal mehr zu denken gab, waren der Tonfall und, vor allem, die Lautstärke. Allzu gross klang Schuberts Musik immer wieder, allzu grob auch. Das insistente Moment der in ihrer Weise trotzigen, vielleicht mächtig gegen den biedermeierlichen Geist der Metternich-Zeit aufbegehrenden Komposition in Ehren, aber muss das so einseitig durch die Kraft, um nicht zu sagen: Kraftmeierei ausgedrückt werden, muss das Stück ein durch die Zeichengebung des Dirigenten auf die Spitze getriebenes Stampfen erreichen? Dirigenten mit Herkunft aus der alten Musik haben gezeigt, dass es auch anders geht. Eines hat Paavo Järvi aber fraglos erreicht: dass uns die Musik Franz Schuberts nicht angenehm unterhalten oder gar gleichgültig gelassen hat. Das ist schon viel.