Vor einem Neustart

Ein fulminanter Abend beim Collegium Novum Zürich

 

Von Peter Hagmann

 

An der zunehmenden Segregation im Bereich jener Musik, die sich als Kunst versteht, der sogenannten E-Musik, scheint sich nichts zu ändern lassen. Die alte Musik, jene vor Mozart, hat sich längst ihr eigenes Feld geschaffen: mit einer Vielzahl an spezialisierten Ensembles, Festivals, Labels und Informationsmedien – und dort herrscht sprühendes Leben auf hohem Niveau. Für die neue Musik, jene des 20. Und des 21. Jahrhunderts, gilt Ähnliches; auch in diesem Bereich gibt es hochspezialisierte, für ihre Kunst berühmte Interpreten und Formationen, die unentwegt neue Stücke aus der Taufe heben, gibt es Aufnahmen solcher Stücke und Reflexionen dazu – und wer glaubt, das geschehe abseits und auf kleiner Flamme, sei an Veranstaltungen wie die Donaueschinger Musiktage, die Musica in Strassburg oder an Wien Modern erinnert.

Getrennt sind dabei die bloss Märkte, weniger die Musikerinnen und Musiker. Die interessantesten unter ihnen betätigen sich in allen Bereichen; mit ihrem schlanken, äusserst beweglichen Sopran bewährt sich zum Beispiel Anna Prohaska genauso gut bei Purcell wie bei Nono – oder aber bei Mozart. Die Zuhörer teilen sich da strenger. In Zürich etwa spricht das Tonhalle-Orchester das grosse Publikum für das klassisch-romantische Repertoire an. Wobei dort der Radius klar definiert ist: Sobald etwas von ausserhalb ins Angebot dringt, vielleicht ein Stück von Ravel oder gar Messiaen, regen sich Ablehnung und Widerstand. Vorklassische Musik findet in Zürich seinen Ort in der kleinen, allerdings äusserst lebendig erfüllten Nische des Forums für alte Musik, das zwei Mal pro Saison mit einem gut einwöchigen Festival von sich reden macht. Und für die neue, eigentlich: für die neuste Musik engagieren sich eine ganze Reihe von Formationen grösserer wie kleinerer Art, unter denen das Collegium Novum Zürich die prominenteste ist.

Vom Künstlerischen her ist die Aufteilung in Marktsegmente, so sehr sie zu verstehen ist, absolut zu bedauern, bildet die Musik als Kunst doch eine Einheit von den Meistern der Notre-Dame Schule aus dem 12. Jahrhunderts bis zu den neusten Kompositionen dieser Tage. Deshalb kommt den Aktivitäten in den Nischen eine wichtige Funktion zu – gerade im Fall der neuen Musik, die sich in besonderem Mass ausgegrenzt sieht. Seit mehr als einem Vierteljahrhundert setzt sich das Collegium Novum Zürich für sie ein: mit kontinuierlichem Engagement und mit Resonanz bei einem vielleicht kleinen, aber ausgesprochen treuen Stammpublikum. Als Weiterführung des von Paul Sacher geprägten Collegium Musicum Zürich 1993 eingerichtet, verkörpert es den Gedanken des mobilen, aus Solisten zusammengesetzten Ensembles, wie er im späten 20. Jahrhundert durch Pierre Boulez und sein Ensemble Intercontemporain in die Welt gesetzt wurde.

Was das heisst: Solistenensemble – beim jüngsten Konzert des Collegium Novum war es mit Händen zu greifen. Der Anlass selbst war entspannt. Corona blieb ausgesperrt, Risikogrenzen standen nicht zur Diskussion. Man konnte sich ein wenig zu Hause fühlen: in der Familie rund um das Zürcher Ensemble, aber auch fast in der Atmosphäre des Abonnementskonzerts, denn nach einer Ouvertüre mit vier neuen Werken für Trompete und Posaune aus dem Kompositionswerkshop, den das Collegium Novum zusammen mit der Zürcher Hochschule der Künste anbietet, gab es ein Solokonzert und danach ein gewichtiges Instrumentalstück – so weit ausgreifend, als wäre es die Achte Bruckners. Das entspricht dem dramaturgischen Ansatz, den Jens Schubbe verfolgt hat, der künstlerische Leiter des Collegium Novum Zürich bis Ende letzter Saison und demzufolge noch verantwortlich für die die laufende Spielzeit. Nicht dem Neusten vom Neuen nachzuhecheln, sondern das Schaffen der Gegenwart in seiner ganzen Breite zu zeigen, in seiner stilistischen Vielfalt und seiner Geschichte – das war sein Ausgangspunkt.

Schubbes Überzeugung weist den richtigen Weg. Ganz allgemein, denn in der neuen Musik herrscht eine Fokussierung auf die Uraufführung, welche die Pflege des Bodens, auf dem neuen Werke gedeihen, sträflich vernachlässigt. Und im Besonderen gilt es für die Musikstadt Zürich, wo der Holzboden für alles, was nicht zwischen Beethoven und Brahms liegt, vernehmlich knarrt. Darum war ein Abend wie jetzt eben beim Collegium Novum so fruchtbar. Er brachte nach der Ouvertüre im Foyer «Le Ruisseau sur l’escalier» von Franco Donatoni (1927-2000), ein Konzert für Violoncello und 19 Instrumentalisten aus dem Jahre 1980. Ein vielschichtiger, bisweilen wild bewegter Dialog entwickelt sich da zwischen dem Soloinstrument, das nach allen Seiten Kontakt aufnimmt, sich aber auch durchaus solistisch in Szene setzt, und dem Ensemble, das die Bälle spielerisch aufnimmt und sie seinerseits für solistische Zwischenspiele nutzt. Mit ihrer Erfahrung und ihrer unaufdringlichen Virtuosität, mit ihrem sinnlich warmen Ton und ihrem zugreifenden Temperament war die Cellistin Martina Schucan, Gründungsmitglied des Collegium Novum, hier die berufene Protagonistin.

Das Ensemble wiederum, an diesem Abend von keinem Geringeren als Emilio Pomárico geleitet, erwies einmal mehr, dass es den internationalen Vergleich keineswegs zu scheuen braucht. Erst recht galt das für die Präsentation von Wolfgang Rihms «Jagden und Formen», einem knapp einstündigen, unerhört komplexen Werk für ein grosses Solistenensemble. Rasche, komplexe Bewegungen verschlingen sich in dieser Partitur nach immer wieder neuen Richtungen hin, Kraftfelder von hoher motorischer Energie und expliziter farblicher Wirkung dringen auf das Ohr – und kommt es, zwischendurch und ganz selten, zu Inseln der Beruhigung, so wirkt das geradezu überraschend. In einer ersten Version 1995 entstanden und seither, ganz à la Boulez, weiterentwickelt bis zu einem «Zustand 2008», entfaltet das Stück einen unglaublichen Sog, zumal sich das Ensemble mit einer Energie sondergleichen in das Unterfangen stürzte und der Dirigent das Geschehen unerbittlich vorantrieb. Am Ende des Abends in der Tonhalle Maag verbanden sich Erschöpfung und Begeisterung.

Inzwischen zeichnen sich Veränderungen ab. Die Nachfolge von Jens Schubbe, der nach zehn Jahren in der künstlerischen Leitung des Collegium Novum Zürich nach Dresden in die dortige Philharmonie weitergezogen ist, hat der Kulturmanager Johannes Knapp übernommen, der das Ensemble zusammen mit dem bisherigen Geschäftsführer Alexander Kraus leiten wird. Mit Jahrgang 1990 noch sehr jung, energiegeladen, hellwach, kommunikationsfreudig, soll Knapp neue Horizonte bilden, nicht zuletzt in Pflege und Erweiterung des Publikums – man darf gespannt sein. Und dies umso mehr, als die Lage nicht eben einfach ist. Auf die kommende Saison hin muss ein neuer Subventionsvertrag ausgearbeitet werden, der die bisherige Unterstützung in der Höhe von 480’000 Franken pro Jahr weiterführt. Das ist zentral, denn die Abhängigkeit des Ensembles von Sponsoren und Gönnern ist, wie sich in der Vorbereitung der laufenden Saison erwies, voller Risiken.

Dazu droht neues Ungemach mit der Wiedereröffnung der Tonhalle am See. Für die Benützung des von den Renovationsarbeiten nicht berührten Kleinen Saals, so ist zu vernehmen, verlange die Kongresshaus-Stiftung Zürich als Eigentümerin von Kongresshaus und Tonhalle eine deutlich erhöhte Miete, die sich das Ensemble nicht leisten könne. Ausserdem sei der Saal des zu kleinen Podiums wegen für Abende, wie sie das Collegium Novum anbietet, nur bedingt geeignet. Alternativen seien nicht in Sicht, da tue sich ein echtes Problem auf. Allein, warum sagt es niemand? Die räumliche Struktur für Projekte aus dem Bereich der neuen Musik liegt vor der Tür, in Zürich-West. Es ist die Tonhalle Maag, die nicht abgerissen, sondern auf der Höhe der fussfreien Reihe mit einer mobilen Wand versehen gehörte, die den Saal für die Bedürfnisse jenseits des Sinfoniekonzerts etwas verkleinerte. Die Tonhalle Maag auch als ein musikalischer Ort des Anderen, des Speziellen – damit wäre ein seit langem geäussertes Desiderat erfüllt. Voraussetzung wäre allerdings, dass die verantwortlichen Kreise – die Swiss Prime Site, die Stadt Zürich und die Tonhalle-Gesellschaft – zu einer Kulturpolitik zusammenfänden, die diesen Namen verdient.

Neue Musik – älter und neuer

Eindrücke von den Tagen für neue Musik Zürich

 

Von Peter Hagmann

 

Ungewohnter Anblick in der Tonhalle Maag. Hinter einem Vorhang, der sich zu Beginn langsam öffnete und am Ende ebenso langsam wieder schloss, waren die Streicher des Tonhalle-Orchesters Zürich zu sehen, allerdings aufgereiht auf einem ansteigenden Podest und mit Blick ins Publikum, zudem in violett schimmerndes Licht getaucht. Wie die Blasmusik auf dem Dorf hatten sie ein Notenblättchen am Instrument befestigt, und alle machten sie dieselben stereotypen Bewegungen, was zu einer Klangfläche à la Ligeti führte. Das eine oder andere Mal traten Störungen ein, erschien zum Beispiel ein Trommler vor dem Stimmführer der Bratschen und löste in ihm einen ekstatischen, heftig gezackten Soloauftritt aus – bevor er wieder ins Kollektiv versank.

Zu hören war während der gut zwanzig Minuten allerdings nicht nur ein Streicher-Cluster, das wäre vielleicht doch etwas einfach gewesen. Zu vernehmen war auch eine sehr bewegte, offenkundig komplex geformte Musik von Bläsern und Schlagzeugern – nur kamen diese Klänge aus dem Hintergrund und aus Lautsprechern. Tatsächlich war der Rest des Orchesters zusammen mit dem Dirigenten Pierre-André Valade hinter dem Podium für die Streicher plaziert, im Verborgenen also, und dies bis auf einen kurzen Auftrit eines Trompeters, der wie ein Turmbläser früherer Zeiten sein Ding aus der Höhe zum Besten gab. Der statische Vordergrund und der bewegte Hintergrund durchdrangen sich in vielfältigster Weise zu einem Geschehen, das man mit anhaltendem Interesse und nicht geringer Erheiterung verfolgte.

«Trans» nennt sich die Komposition, von der die Rede ist. Sie stammt von Karlheinz Stockhausen, der sie im Dezember 1970 geträumt haben will und sie 1971 niederschrieb, auf dass sie bei den Donaueschinger Musiktagen jenes Jahres zur Uraufführung komme. Das waren noch Zeiten. Für Stockhausen neigte sich die Phase der Raumkomposition ihrem Ende zu, das Szenische drang mehr und mehr in seine künstlerischen Visionen ein, und die spirituellen Ansätze begannen das Denken des Komponisten zu prägen. Davon (und nicht nur von den Bläsern, die duch die Streicher hindurchklingen) zeugt «Trans». Dass die Komposition Eingang gefunden hat in das Programm der Tage für neue Musik Zürich, ist äusserst verdienstvoll. Hat das kleine, aber weitherum beachtete Festival, das von der Stadt Zürich getragen und jedes Jahr von einem anderen Kurator gestaltet wird, nicht auch diese Aufgabe: hörbar zu machen, dass selbst die neue Musik eine Geschichte hat?

Im Programm, das heuer von Jens Schubbe, dem künstlerischen Leiter des Collegium novum Zürich, unter Beizug von Peter Revai zusammengestellt worden ist, erwies das auch das Eröffnungskonzert mit dem Zürcher Kammerorchester. Aus jüngerer Zeit stammten an diesem Abend das klangfarblich vielgestaltige Stück «Stellen» des Schweizers Dieter Ammann und «Lebensbaum III», ein melodiöses, sinnliches Werk der seit langem in Europa lebenden Koreanerin Younghi Pagh-Paan. Etwas älter, aber in seinen wilden, wüsten Reibungen äusserst vital «Voile» von Iannis Xenakis. Zwei Werke, nämlich «Cantio, Moteti und Interventiones» von Klaus Huber sowie die Musik für 22 Solostreicher von Jacques Wildberger, standen für den (gelungenen? gescheiterten?) Versuch, dem Materialdenken der sechziger Jahre doch etwas von der damals noch geächteten Expressivität abzugewinnen. Unter der Leitung von Roland Kluttig trat das ZKO allein mit Streichern auf; nicht zuletzt ihnen ist zu verdanken, dass der Abend belebt und belebend wirkte.

Durchmischte Eindrücke hinterliessen Stücke aus jüngerer Zeit. «Un despertar» von Matthias Pintscher zum Beispiel, dem Inhaber des «creative chair» beim Tonhalle-Orchester Zürich. Das Werk beeindruckte weniger durch kompositorische Fasslichkeit als durch die hochvirtuose Leistung des Cellisten Sasha Neustroev, der von seinen Kolleginnen und Kollegen aus dem Orchester und dem wie stets souveränen Dirigenten Pierre-André Valade zuverlässig begleitet wurde. Anregenderes brachte das Quatuor Diotima für seinen spätabendlichen, nicht eben günstig platzierten und darum wenig beachteten Auftritt mit. Das Ensemble mit Yun-Peng Zhao und Constance Ronzatti (Violinen), Frank Chevalier (Viola) und Pierre Morlet (Violoncello), welches das Neuste vom Tage ebenso selbstverständlich meistert wie Schubert, hatte ein Stück des Deutschen Enno Poppe von 2016 dabei.

«Buch» nennt es sich, und es stellt, wie der Komponist schreibt, eine Verneigung vor dem «Livre pour quatuor» von Pierre Boulez dar. Was hätte der 2016 verstorbene Altmeister gesagt zu einem Kopfsatz, in dem so ziemlich alles schräg klingt, was schräg klingen kann? In dem Tonhöhen schwanken, Rhythmen aus dem Takt geraten und unablässig hinaufgeschraubt wird? Noch verrückter der zweite Satz, der phantasievoll und verspielt mit wenig anderem als jammernden Glissandi aufwartet – fast musste man fürchten, Poppe wolle partout Salvatore Sciarrino auf die Schippe nehmen. Dann freilich war die Luft draussen, fanden die Ideen des Komponisten nicht mehr dieselbe Fasslichkeit, weshalb sich die Sätze drei bis fünf etwas in die Länge zogen. Für seinen Anfang wenigstens lässt sich dieses «Buch» aber durchaus noch einmal in die Hand nehmen.