Im Westen manch Gutes

Von Sonntag bis Sonntag in der Tonhalle Maag, Zürich

 

Von Peter Hagmann

 

Glücklich im Provisorium – und ein Schuss vor den Bug

Etwas peripher liegt sie schon, die Tonhalle Maag in Zürich: in einem ehemaligen Industriequartier im Westen der Stadt, wo sich lärmige Verkehrsstränge kreuzen, wo man Freitag-Taschen kauft, wo man im Schuppen von Frau Gerold speist. In diesem Neu-Zürich, mit dem sich nicht alle Zürcher identifizieren mögen, herrscht aber nicht nur das Klima der Ausgehmeile, es gibt auch klassische Kultur. Im Schiffbau, dem auf einen Ausruf des Zürcher Regisseurs Christoph Marthaler hin errichteten Theaterhaus mit seiner einzigartigen Atmosphäre, präsentiert das Schauspielhaus Zürich einen Teil seines Angebots. Und in den Gebäuden der ehemaligen Zahnradfabrik Maag hat sich das Tonhalle-Orchester Zürich – aus eigener Kraft notabene – einen provisorischen Konzertsaal errichtet, um zu überwintern, während die Tonhalle am See erneuert wird.

Doch, sagt Ilona Schmiel, die Intendantin des Orchesters, die Saison laufe gut. Mit einem gewissen Einbruch beim Verkauf von Abonnementen sei zu rechnen gewesen; dafür gebe es mehr spontane Besuche, besonders an Freitagabenden, die in der Tonhalle am See als schwierig gegolten hätten. Gleichwertig neben die Statistik stellt die Intendantin jedoch die Veränderungen im Klima. Tatsächlich führt das Foyer die Menschen zusammen; nicht ungern bleibt man nach dem Konzert noch auf ein Glas beisammen, wozu das kulinarische Angebot wie die freundlichen Mitarbeiterinnen hinter dem Tresen und an der Garderobe das Ihre beitragen. Der Saal selbst darf als Prunkstück eines Provisoriums gelten, der Bereich hinter dem Podium lässt sich fast besser nutzen als im angestammten Haus, und die Anbindung an den öffentlichen Verkehr ist wesentlich komfortabler als am Bürkliplatz.

Allein, der Horizont hat sich verdüstert. Vor wenigen Wochen gab das Hochbaudepartement der Stadt Zürich bekannt, dass sich die Instandsetzung von Kongresshaus und Tonhalle am See infolge unvorhergesehener Faktoren um ein halbes Jahr auf März 2021 verlängere und sich eine Kostensteigerung von insgesamt 13 Millionen Franken bei gesamten Baukosten von 165 Millionen Franken abzeichne. Darin eingerechnet sind 3,7 Millionen Franken, welche die Tonhalle-Gesellschaft der Stadt in Rechnung stellt, weil die vollständig geplante Saison 2020/21 überarbeitet werden und weil mitten in der Spielzeit umgezogen werden muss. Ungünstiger lässt es sich nicht denken. Nicht nur fällt die feierliche Eröffnung der zweiten Saison unter der Leitung des neuen Chefdirigenten Paavo Järvi weg, nicht nur muss der Konzertkalender äusserst kurzfristig umgebaut werden, das Tonhalle-Orchester muss auch mitten in der Saison, ab Ende Januar 2021, für einen guten Monat pausieren, damit – und dies unter enorm engen zeitlichen Gegebenheiten – der Umzug zurück an den See vollzogen werden kann. Das kostet Nerven und Geld. Ändern lässt es sich nicht. Neuer Stichtag für die Wiedereröffnung ist nun der 11. März 2021. Was mit der Tonhalle Maag danach geschieht, steht noch in den Sternen; sicher sei nur, sagt Ilona Schmiel, dass sie nicht von der Tonhalle-Gesellschaft weiter betrieben werden wird.

 

Auf und ab in den Konzerten

Einstweilen herrscht aber noch gute Laune, sehr gute sogar, wie vier Abende in der Tonhalle Maag innerhalb einer Woche erwiesen. Naturgemäss waren sie von unterschiedlichem Format, auch unterschiedlichem Glück im Gelingen der Vorhaben, sie liessen jedoch spüren, welch quirliges Leben in diesen so gar nicht provisorisch wirkenden heiligen Hallen an der Zahnradstrasse herrscht. Zwei Auftritte des Tonhalle-Orchesters gab es, ausserdem Kammermusik und schliesslich ein Gastspiel des aus Paris angereisten Ensemble Intercontemporain mit seinem Chefdirigenten Matthias Pintscher – der deutsche Komponist und Dirigent ist bekanntlich Inhaber des Creative Chair dieser Saison. Dementsprechend weit gespannt war der stilistische Horizont dieser musikalischen Woche, sowohl hinsichtlich der aufgeführten Werke als auch der Interpretationen.

In höchst unterschiedlicher Verfassung präsentierte sich das Tonhalle-Orchester – das wieder einmal erwies, dass der Mann am Pult nicht einfach, wie Bernard Haitink sagt, «Luft sortiert», sondern das klingende Ergebnis vielmehr entscheidend prägt. Für meinen Geschmack einen Tiefpunkt erreichte das Orchester mit dem tschechischen Gastdirigenten Tomáš Netopil, einem tüchtigen Opernkapellmeister, der als Konzertdirigent grobschlächtig zu Werk geht. Im Violinkonzert Mendelssohns in e-Moll begleitete er zuverlässig den Solisten Klaidi Sahatçi, einen der drei Konzertmeister des Orchesters; in dem merklich pauschalen Zugriff liess er jedoch schon erahnen, was dann folgen würde. Es war die Sechste Dvořáks, in D-Dur, aber nicht die beste unter den Sinfonien des tschechischen Meisters. Warum nicht die Dritte in Es-Dur? Sie ist das wesentlich interessantere Stück als die Sechste. Wie auch immer: Netopil setzte auf Lautstärke – und vor allem: auf eine nervtötende, weil undifferenzierte, zudem hässlich aufgebauschte Kraftentfaltung. Das Orchester klang deutlich unter seinem Niveau.

Dabei hatte es die Tage zuvor genau das Gegenteil erleben lassen. Unter der energiegeladenen, präzisen Leitung des Franzosen François-Xavier Roth zeigte es, was es kann. Roth entlockte dem hochmotiviert mitgehenden Orchester einen hellen, farbenreichen Klang, der in seiner klaren Zeichnung das musikalische Geschehen in deutliche Form brachte. Dass zu Beginn von Mahlers «Lied von der Erde» der Tenor nur wenig zu hören und schon gar nicht zu verstehen war, ist nicht die Schuld von Eric Cutler und auch nicht jene des Dirigenten. Wenn schon ist es jene Mahlers, der seine Partitur so dicht besetzte, dass die Singstimme als voll und ganz ins instrumentale Ganze integriert erscheint, also nicht über einer Begleitung schwebt. Bei Isabelle Druet stellten sich solche Fragen nicht; mit ihrem obertonreichen Mezzosopran hob sie sich deutlich vom Instrumentalen ab – und ihr war nicht zuletzt auch zu verdanken, dass die letzte der sechs Nummern, «Der Abschied», überaus eindringlich gelang. François-Xavier Roth band die Mahlers Musik nicht unter einen beschwichtigenden Bogen, sondern liess sie – ganz im Geist der Moderne – regelrecht zerfallen. Anders und doch vergleichbar der Einstieg ins Programm mit Beethovens zweitem Klavierkonzert in B-Dur. Tongebung und Artikulation liessen erkennen, dass Roth seine Erfahrungen mit der historischen Praxis gemacht hat, und der bestens gelaunte Solist Paul Lewis trat in lebendig konzertierenden Kontakt mit dem Orchester.

Ein grossartiger Abend, der mit dem Auftritt des Pariser Ensemble Intercontemporain eine nicht minder eindrückliche Fortsetzung erhielt. Zwei Konzerte György Ligetis bildeten den ersten Teil, das Klavierkonzert von 1988 und das Cellokonzert von 1966. Und beide Stücke boten Höhepunkte an moderner, heutiger Virtuosität. Matthias Pintscher ist genau der Richtige am Pult vor dieser Versammlung erstklassiger Solisten. Seine Körpersprache zeigt, dass er die Partituren bis ins Letzte versteht und ausgezeichnet voraushört. Als sei es altgewohnte Musik, dirigierte er die beiden Stücke Ligetis, und das Ensemble folgte ihm in hellwacher Reaktion. Was aber die beiden Solisten boten, liess einen staunend zurück. Sébastien Vichard, der junge Pianist des Ensembles, brillierte mit unendlichen Perlenketten an raschen Läufen und fand dabei noch Gelegenheit, mit seinen Kollegen aktiv zu kommunizieren, während Pierre Strauch, der seit über vierzig Jahren zum Ensemble gehört, seinen meist leisen Part mit einer Souveränität sondergleichen meisterte. Dass Matthias Pinterscher im zweiten Teil mit «Bereshit» ein Stück aus eigener Feder dirigierte, lag angesichts seiner Position als Inhaber des Creative Chair beim Tonhalle-Orchester nahe. Ein guter Dienst war es nicht, zu deutlich hörbar war die Distanz zu den beiden Meisterwerken Ligetis.

Mit dem Klavierkonzert Beethovens, der Sinfonie Dvořáks, dem «Lied von der Erde» und den beiden Instrumentalkonzerten Ligetis war das stilistische Spektrum der ereignisreichen Woche beim Tonhalle-Orchester Zürich denkbar weit gespannt. Zu ihrem Abschluss gab es noch Kammermusik – mit einem der angesagtesten Steichquartette dieser Tage. Allein, das Quarteto Casals hatte nicht seinen besten Moment. Vera Martínez ist als Primgeigerin nicht die ideale Besetzung; sie wirkte verkrampft und gehemmt in der klanglichen Ausstrahlung, zudem vermochte sie das Ensemble nicht voranzuziehen, wie es ihre Aufgabe gewesen wäre. Die Führung der drei Hirsche an den anderen Instrumenten stellt allerdings besondere Anforderungen. Abel Tomàs, der auch als Primgeiger wirkt, an diesem Abend aber die Zweite Geige versah, erschien mit seinem unbändigen Temperament als ein veritabler Tiger im Tank, während der Bratscher Jonathan Brown, vorne rechts sitzend, seine Mittelstimme prägnant herausstellte und Arnau Tomàs am Cello für ein kraftvoll ruhendes Bassfundament sorgte. Warum aber die grauslichen Glissandi bei den Sextsprüngen im Kopfsatz von Bartóks erstem Streichquartett? Und weshalb das verzweifelte Suchen nach Form in Beethovens Opus 131? Das späte Streichquartett in cis-Moll gehört zu den anspruchsvollsten Werken der Gattung, weil es so zerklüftet ist; die Interpreten stehen hier vor der Aufgabe, einen Weg durch diese von Überraschungen gesäumten Landschaft zu finden. Da gibt es beim Quarteto Casals, das ich über alles schätze, noch Luft nach oben.

 

Ein Neubeginn in der nächsten Saison

Mit dem Antrittskonzert von Paavo Järvi als neuem Chefdirigenten (und, wie er sich nennen lassen will, «Music Director») des Tonhalle-Orchesters Zürich beginnt am 2. Oktober 2019 die nächste Saison in der Tonhalle Maag. Sie bringt einige Veränderungen – nicht nur im Format des nun fadengehefteten Generalprogramms. Auch nicht in Bezug auf die künstlerischen Kompetenzen. Wie bisher ist der Chefdirigent für alle Fragen des Orchesters und für seine zehn Programme zuständig – dies in Zusammenarbeit mit der Intendantin, aber doch mit einem Vorrecht der Wahl. Ilona Schmiel wiederum gestaltet das übrige Programm, dies ihrerseits in Absprache mit Paavo Järvi. Beibehalten wird die Einrichtung des Creative Chair, doch wird das 2019/20 eher ein Composer in Residence sein, denn berufen in diese Funktion ist der estnische Komponist Erkki-Sven Tüür, ein langjährige Weggefährte und Freund des Chefdirigenten. Ebenfalls aus Nordeuropa stammen die drei Interpreten jüngerer Generation, die in Residenz eingeladen sind: der schwedische Klarinettist Martin Fröst, der finnische Geiger Pekka Kuusisto und die lettische Akkordeonistin Ksenija Sidorova. Das verspricht doch einiges.

Damit ist auch der thematische Schwerpunkt angedeutet, den Paavo Järvi verfolgt. Er bringt Musik aus der Gegend seiner Herkunft nach Zürich – Bekanntes und weniger Bekanntes, vor allem auch eine Sprache der neuen Musik, die hierzulande noch zu entdecken ist. Das Eröffnungskonzert gilt «Kullervo» von Jean Sibelius, eine Art Sinfonischer Dichtung für Vokalsolisten, Chor und Orchester über das gleichnamige Nationalepos aus Finnland. Järvi nimmt sich ausserdem der sechs Sinfonien Tschaikowskys an und leitet zum Saisonende im Sommer 2020 eine halbszenische Aufführung von Beethovens «Fidelio». Dies im Zusammenhang mit dem Beethoven-Jahr, zu dem das Belcea-Quartett mit der Aufführung von acht Streichquartetten Beethovens beiträgt (die Fortsetzung besorgt in der Saison darauf dann das Quatuor Ebène). Im übrigen bleibt alles in gewohnten Bahnen. Von den grossen Alten treten Herbert Blomstedt, Christoph von Dohnányi, Heinz Holliger und David Zinman wieder ans Dirigentenpult, unter den jüngeren Dirigenten sind Alondra de la Parra, Gianandrea Noseda, Rafael Payare, Krzystof Urbánski  und Joshua Weilerstein zu nennen. Krzysztof Penderecki erweist dem Tonhalle-Orchester die Ehre. Und die Geigerin Isabelle Faust kommt zusammen mit dem Dirigenten Philippe Herreweghe nach Zürich. An Leben wird es weiterhin nicht fehlen.

Paavo Järvi – genau der Richtige für Zürich

Der 54jährige Este wird Chefdirigent und Künstlerischer Leiter beim Tonhalle-Orchester

 

Von Peter Hagmann

 

Ilona Schmiel und Paavo Järvi in der Tonhalle Zürich / Bild Priska Ketterer, Tonhalle-Orchester Zürich

Nun ist das Team komplett, echt komplett. Als Ilona Schmiel 2014 ihre Aufgabe als Intendantin des Tonhalle-Orchesters Zürich übernahm, war Lionel Bringuier als Chefdirigent gesetzt. Sie hatte den jungen Mann, der über keinerlei Erfahrung im Umgang mit einem Orchester und einer Institution vom Rang der Zürcher Körperschaft verfügte, zu akzeptieren; seine Berufung war vom Orchester dringend gewünscht worden, und der Vorstand der Trägergesellschaft hatte dem Wunsch entsprochen. Doch um die Chemie zwischen Chefdirigent und Intendantin scheint es von Anfang an nicht zum Allerbesten gestanden zu haben, das lassen allein schon die leicht verkrampften Bilder erkennen, die anlässlich des Amtsantritts der beiden kursierten. So erstaunt auch aus diesem Blickwinkel nicht weiter, dass die vier Jahre Bringuiers beim Tonhalle-Orchester zum Zwischenspiel wurden; vor der Sommerpause 2016 wurde bekannt, dass sein Vertrag nicht verlängert werde.

Mit Paavo Järvi als neuem Musikdirektor des Tonhalle-Orchesters Zürich ab 2019/20 geht es nun aber richtig los, daran liess die eilig einberufene Medienkonferenz vom gestrigen Dienstag keinen Zweifel. Martin Vollenwyder, der Präsident der Tonhalle-Gesellschaft, strahlte Stolz und Zuversicht aus, Ilona Schmiel funkelte nach Massen, und sogar der distinguierte Paavo Järvi trat ein wenig aus dem Busch hervor. Als Järvi, das liess er an der Medienkonferenz erkennen, im Dezember vergangenen Jahres ein geschickt als ganz normaler Anlass verkleidetes Probekonzert gab, wusste er schon, dass er möglicherweise für die Aufgabe angefragt würde – und er habe damals auch schon gewusst, dass er im Fall der Fälle zusagen würde. Wir Kommentatoren wussten es eigentlich auch schon. Nach diesem ausserordentlich geglückten Konzert, insbesondere nach der hinreissenden Darbietung von Schumanns dritter Sinfonie (http://www.peterhagmann.com/?p=851), stand Järvis Name ganz oben auf der Liste denkbarer Chefdirigenten. Einer wusste es am Ende noch besser: Der Gerüchtekoch Norman Lebrecht, der vor keinem Hinterzimmer Halt macht, liess es sich nicht nehmen, zwei Stunden vor der Medienkonferenz auf seiner Website zu verkünden, wer die Nachfolge Bringuiers antritt.

Und wer, so muss man es sagen, in die Fussstapfen David Zinmans tritt. Darum geht es, und dafür ist Paavo Järvi genau der Richtige. Schon die Tatsache, dass Järvi, anders als Bringuier, wieder die doppelte Funktionsbezeichnung als Chefdirigent und Künstlerischer Leiter trägt, lässt auf klare Einlässlichkeit hoffen. Die initiative und ideenreiche Intendantin Ilona Schmiel muss sich dadurch in keiner Weise bedrängt fühlen, hat sich Järvi an der Medienkonferenz doch ausdrücklich als Teamplayer zu erkennen gegeben (vgl. NZZ vom 31.05.17). Kommt dazu, dass Järvi von Alter, Erfahrung und Bekanntheitsgrad her optimal nach Zürich passt. Das Tonhalle-Orchester braucht jemanden am Pult, der mit beiden Beinen in der Gegenwart steht, der den Musikerinnen und Musikern aber auch noch etwas voraus hat – nicht zuletzt eine eigenständige, plausible Sicht auf die Werke. Die Reihe der von Järvi bislang eingenommenen Chefpositionen – sie reicht von den Stockholmer Philharmonikern über das Sinfonieorchester des Hessischen Rundfunks in Frankfurt am Main bis zum Orchestre de Paris und dem NHK Symphony Orchestra in Tokio – lässt erahnen, dass der 54jährige Dirigent aus Estland sein Handwerk kennt. Und die Gesamteinspielung der Sinfonien Beethovens, die er mit der seit 2004 von ihm geleiteten Kammerphilharmonie Bremen erarbeitet hat, zeigt viel von seinem hellwachen Umgang mit dem Notentext. Ihr kristalliner Ton und ihre Kompromisslosigkeit in der Attacke eröffnen einen ganz anderen Weg als die helle, transparente, spritzige Leichtigkeit, die David Zinman in seinen Beethoven-Aufnahmen mit dem Tonhalle-Orchester Zürich so erfolgreich beschritten hat. Nicht auszuschliessen, dass das Orchester mit Paavo Järvi tatsächlich ein neues Kapitel seiner Geschichte aufschlägt.

Jörg Widmann in Zürich

 

Peter Hagmann

Spiegelungen und Brechungen

Der Klarinettist und Komponist Jörg Widmann beim Tonhalle-Orchester Zürich

 

Als Klarinettist ist er so gut wie unüberbietbar. Innigst ist Jörg Widmann mit seinem Instrument verbunden, es ist sozusagen Teil von ihm. Wenn er zum Beispiel, was er immer wieder tut, die Zirkuläratmung einsetzt, wenn er also einatmet, ohne dabei sein Spiel zu unterbrechen, sieht man ihm rein gar nichts an: keine aufgeblasenen Backen, kein roter Kopf, keine Zuckung – es scheint ihm selbstverständlich von der Hand zu gehen. Im (allerdings nicht sehr breiten) Repertoire klassisch-romantischen Zuschnitts gelingen ihm immer wieder Momente von grossartiger Eindrücklichkeit; Stücke wie das Klarinettenkonzert oder das Klarinettenquintett von Mozart erfahren in der Schönheit seines Tons, in der Weite seines Atems, in der natürlichen Souveränität seines Gestaltens eine interpretatorische Vertiefung, wie sie ihresgleichen sucht. Kein Wunder, gehört er zu den allseits gefragten, dementsprechend vielbeschäftigten Musikern dieser Tage.

Einer zum Anfassen

Und vielleicht auch kein Wunder, dass sich Jörg Widmann auch als Komponist profiliert. Sein Werkverzeichnis hat schon ansehnliche Dimension erreicht und umfasst viele Gattungen: Kammermusik, Orchesterwerke, aber auch die 2012 an der Bayerischen Staatsoper München uraufgeführte Oper «Babylon» auf ein Libretto von Peter Sloterdijk. Sein Schaffen, zum Teil von ihm selbst vorgestellt, lässt sich jetzt kennenlernen beim Tonhalle-Orchester Zürich; es hat den 42-jährigen Münchner für diese Saison auf den «Creative Chair» gerufen – in die vor einem Jahr neu geschaffene Funktion für einen Musiker, der das Orchester eine Spielzeit lang als Komponist und Interpret zugleich begleitet. Ein intensiver Austausch wird da in Gang gesetzt, von dem alle Seiten profitiieren. Publikum wie Orchester können einen Musiker näher kennenlernen – als Interpreten in seinen Spielweisen, als Komponisten in seinem ästhetischen Horizont (wovon übrigens auch die Studierenden an der Zürcher Musikhochschule profitieren). Der Gast wiederum kann sich in eine Umgebung einleben, wie es ihm sonst, im Rahmen der Konzertreisen mit ihren Kurzaufenthalten, nicht möglich wäre.

Einer zum Anfassen wird da also präsentiert. Es ist freilich mit der Schwierigkeit verbunden, dass es ein Musiker von heute ist, während das, was heute komponiert wird, nicht von jedermann geschätzt wird. Ilona Schmiel, die Intendantin des Tonhalle-Orchesters Zürich, hat diesbezüglich ein eigenes Fingerspitzengefühl entwickelt. Sie hat mit dem ganz und gar neuen, hochinteressanten Konzept des «Creative Chair» ein Format geschaffen, das Musik dieser Tage mit einem über längere Phasen anwesenden, seine Kunst persönlich vermittelnden Menschen verbindet. Zugleich ist sie stilistisch geschickt, nämlich vorsichtig vorgegangen; sie hat nicht gleich auf Heinz Holliger gesetzt, dessen Vermögen als Oboist höchsten Massstäben genügt, dessen Musik aber besonders offene Ohren verlangt. Nein, sie hat Künstler in den Blick genommen, welche die Avantgarde in gewisser Weise hinter sich gelassen haben. In der ersten Saison ihres Wirkens in Zürich war Esa-Pekka Salonen zu Gast, der als amerikanisch geprägter Finne eine in ihrer Weise zugängliche, weil ästhetisch offene, gleichwohl aber klar heutige Musik vertritt.

Und nun eben Jörg Widmann. Bei ihm fängt es damit an, dass er sein Instrument mit verspielter Neugierde oder neugieriger Verspieltheit erkundet – das Hohe wie das Tiefe, das Laute wie das Leise, das Reine wie das geräuschhaft Angereicherte. Wie das vor sich geht, war an einem Kammermusikabend im Kleinen Saal der Tonhalle Zürich zu verfolgen. Widmann trug seine Fantasie für Klarinette solo von 1993 vor, die den Zuhörer im Rahmen von kaum zehn Minuten auf einen anregenden Spaziergang durch die Klangwelt des Instruments mitnimmt. Eine Fingerübung, vielleicht; eine Harmlosigkeit, mag sein. Aber doch ein Moment attraktiven Erlebens; mucksmäuschenstill war es im Saal, hie und da wurde geschmunzelt, bisweilen gar gelacht – was könnte Besseres geschehen?

Wie Salonen pflegt auch Widmann, das mag sich bei einem Musiker seiner Generation von selbst verstehen, einen entspannten Umgang mit der Avantgarde und ihren gewiss ausser Kraft gesetzten, in den Hinterköpfen jedoch nach wie vor wirksamen Normen. Mehr als am Willen zur Erneuerung des Materials, mithin dem Gedanken an einen wie auch immer gearteten Fortschritt, nährt sich sein Komponieren sich an dem, was ihn als Interpreten umgibt. Beim Lucerne Festival zum Beispiel hat das Collegium Novum Zürich im Sommer 2009 Widmanns Oktett für Klarinette, Horn, Fagott, Streichquartett und Kontrabass vorgestellt, das sich in Besetzung und Tonfall hörbar an dem für dieselbe Besetzung geschriebenen Werk Franz Schuberts orientiert. Gleiches geschah in besagtem Kammermusikabend in Zürich; Bezugspunkt war dort Robert Schumann.

«Im Märchenton»

Zusammen mit dem bei Schumann klanglich etwas groben Pianisten Dénes Várjon spielte Widmann die «Fantasiestücke» op. 73 in der Fassung für Klarinette und Klavier, nachdem er zuvor, unter Mitwirkung der Bratscherin Tabea Zimmermann, die «Märchenerzählungen» op. 132 für Klarinette, Viola und Klavier gegeben hatte. Als Reflex darauf folgte die Uraufführung eines vom Tonhalle-Orchester bestellten Werks für die gleiche Besetzung. Unter dem Titel «Es war einmal…» und, wie der Untertitel suggeriert, «im Märchenton» schliesst Widmanns Trio von 2015 klar an die Musik Schumanns an. Es nimmt teils ganze Passagen, teils charakteristische Gesten auf, lässt die Strukturen dann aber zerfallen, führt sie in die Phantasie und die Handschrift Widmanns über, um sie bisweilen auch wieder zusammenzufügen – äusserst anregende Verläufe ergeben sich da.

Die charakteristischen, euphorischen Sprünge Schumanns eröffnen das fünfteilige Stück. Bald jedoch verfremden sich die Klänge, sie werden nicht nur durch Dissonanzen angereicht, sondern auch farblich verändert, nehmen Züge orientalischer Welt an oder denaturieren sich zu gläsern erstarrten Mehrfachklängen. Widmann ist kein Strukturdenker wie Brian Ferneyhough, er bewegt sich auch nicht an den Rändern des Klangs wie Helmut Lachenmann, in seiner Lust an der Wahrnehmung seiner musikalischen Umgebung und in seiner fast unersättlichen Art von deren Verarbeitung gleicht er eher Wolfgang Rihm. Mit ihm teilt er auch die überquellende Phantasie, die wohlstrukturierte Spontaneität und die Zugänglichkeit, die keinerlei Anbiederung braucht. Nicht zuletzt lebte diese Uraufführung freilich von der Höhe der Interpretation. Wie weit Jörg Widmann im Leisewerden der Klarinette gehen kann und wie stolz sein Klang aus den Tiefen des Instruments nach oben steigt, ist ebenso hinreissend wie die gestalterische Intensität und die klangliche Präsenz der Bratscherin Tabea Zimmermann, aber auch das sagenhafte manuelle Vermögen und die Reaktionsschnelligkeit des Pianisten Dénes Várjon. Im «Kegelstatt-Trio» KV 498 von Wolfgang Amadeus Mozart führte das zum interpretatorischen Höhepunkt des Abends.