Im Zauberreich der barocken Koloratur

Händels «Alcina» in Basel

 

Von Peter Hagmann

 

Valer Sabadus und Nicole Heaston in der Basler «Alcina» / Bild Theater Basel, Priska Ketterer

Dass die Hauptdarstellerin eine Woche vor der Premiere das Handtuch wirft, ist natürlich ein Alptraum. Wenn sich aus dem Unglück aber solches Glück ergibt, wie es jetzt am Theater Basel bei «Alcina» von Georg Friedrich Händel geschehen ist, kann man sich nur die Augen reiben. Warum die berühmte Kate Royal ausgestiegen ist, darüber lässt sich nur, aber doch trefflich spekulieren. Dass mit Nicole Heaston eine Sängerin für die Rolle der Zauberin Alcina gefunden wurde, die alles andere ist als ein Ersatz, die vielmehr innerhalb einer Woche zum Gravitationszentrum der Produktion geworden ist, das macht den Abend zum Ereignis.

Nicole Heaston wirkt wie ein Star aus der New Yorker Met – und das ist sie auch: In dem ästhetisch verschlafenen Riesentanker hat sie etwa unter der Leitung von James Levine die Pamina in Mozarts «Zauberflöte» gesungen. Die Basler «Alcina» stellt davon ungefähr das Gegenteil dar. Musikalisch steht die Produktion der Schola Cantorum Basiliensis nahe, dem von Paul Sacher gegründeten Lehr- und Forschungsinstitut für alte Musik an der Musikakademie Basel, im Graben agiert das Basler Barockorchester La Cetra und am Pult, nein am Cembalo des Kapellmeisters wirkt mit Andrea Marcon ein Mann, der genau weiss, was Sache ist. Und mehr noch: der dem Abend eine ungeheure Energie einflösst. Wie sich Nicole Heaston auf ihn einliess und sich aufmachte, ist absolut hörenswert.

Gewiss bildet die hergebrachte Gesangstechnik auch bei diesem Auftritt die Basis. Aber die amerikanische Sopranistin arbeitet am Dauervibrato, fügt da und dort gerade Töne ein und versieht die Verläufe so mit besonderer Spannung. Und wie sie in den Dacapos, die an diesem Abend allesamt ausgeführt werden, wie sie in diesen Wiederholungen der Hauptteile nach einem Nebenteil mit den Verzierungen umgeht, kann nur bewundert werden. Dazu kommen das ausserordentliche Charisma und die packende Bühnenpräsenz der Sängerin. Die Figur der Alcina entfernt sich hier vom Rollenklischee der bösen Zauberin und erhält Züge einer liebenden Frau – einer vielleicht tragisch, ja krankhaft, aber doch wahrhaftig liebenden Frau.

Grundlage dafür ist ein ganz und gar selbstverständlicher, sehr spontan wirkender Umgang mit den Prämissen der historisch informierten Aufführungspraxis. Das Orchester, in der besuchten Vorstellung bei blendender Laune, ist klein besetzt; wenn einmal die Oboen, die Blockflöten oder die Hörner eingreifen, macht das ordentlich Effekt. In dem klanglich eng abgesteckten Raum vermögen die zwei Cembali und zwei Lauten, die durchgehend explizit gespielt werden, prächtige Abwechslung zwischen glanzvoller Ausstaffierung und hochemotionaler Unterstreichung zu erzeugen. Und dass sprechend artikuliert, dass auch klar zwischen schweren und leichten Taktteilen unterschieden wird, versteht sich hier von selbst.

Dazu kommt, jenseits der Hauptrolle der Alcina, eine Besetzung, die nicht anders als exquisit genannt werden kann – dass solches in einem Mehrspartenhaus möglich ist, mag man kaum glauben. Ruggiero, der von der Zauberin in ihren Fängen gehaltene Ritter, wird von Valer Sabadus verkörpert, einem rasch aufsteigenden Countertenor der neuen Generation mit brillanter Technik und einem nirgends scharfen, nirgends näselnden, sondern samtig weichen Timbre. Hinreissend die Koloraturensicherheit von Katarina Bradić (Bradamante) und Alice Borciani (Oberto), erstaunlich die Agilität von Bryony Dwyer (Morgana), Nathan Haller (Oronte) und José Coca Laza (Melisso), übrigens alles Mitglieder des Basler Opernstudios OperAvenir.

Etwas beliebig blieb einzig die Inszenierung, die Lydia Steier im Bühnenbild von Flurin Borg Madsen und mit den Kostümen von Gianluca Falaschi entwickelt hat. Sie spart nicht mit den Überraschungseffekten, die in dieser heute wohl erfolgreichsten der Opern Händels gefordert sind, kann aber nicht vergessen machen, dass die Lösung des zuvor geschürzten Knotens in dritten Akt gar lange auf sich warten lässt. Dramaturgisch hat das Stück hier eine Schwäche, wenigstens von heute aus gesehen – zu Händels Zeit galt der Kette der Arien mehr Aufmerksamkeit als der schlüssigen und energisch voranschreitenden Handlung. Meist wird das Stück darum gekürzt. In Basel wird es vollständig gezeigt, was immerhin auch eine Erfahrung darstellt.