Luzerner Osterklänge

Bachs Johannes-Passion und Rihms «Requiem-Strophen» im KKL

 

Von Peter Hagmann

 

Kurz vor Ostern ballt sich das Geschehen zu einmaliger Dichte. Bringt die klassische Musik – womit hier wie immerdar die Kunst-Musik im allgemeinen gemeint ist – in einer Art Frühlings-Explosion ans Licht, dass sie alles andere als einen Endzustand erreicht hat, dass sie vielmehr farbenfroh lebt und Publikum in hellen Scharen anzieht. Die Osterfestspiele der Berliner Philharmoniker im Festspielhaus Baden-Baden prunken mit einer «Tosca», bei der Simon Rattle den Taktstock führt und Kristine Opolais, Marcelo Alvarez und Evgeny Nikitin auf der Bühne stehen. Zu gleicher Zeit ereignen sich die durch Herbert von Karajan 1967 ins Leben gerufenen Osterfestspiele Salzburg, die mit einer «Walküre» aufwarten – dies mit Christian Thielemann am Pult der Staatskapelle Dresden und in einer szenischen Produktion, für welche die Regisseurin Vera Nemirova in einem Nachbau jenes Bühnenbilds arbeitet, das Günther Schneider-Siemssen vor fünfzig Jahren für Karajan gebaut hat. Exquisit die Besetzung mit Anja Harteros und Anja Kampe, mit Peter Seiffert und Georg Zeppenfeld. Ohne die Sensation der Oper kommt dagegen das Osterfestival Luzern aus; es sorgt still und leise, aber ausgesprochen nachhaltig für künstlerische Bereicherung.

Zum Beispiel durch eine Aufführung der Johannes-Passion Johann Sebastian Bachs mit dem Dirigenten Thomas Hengelbrock und den Kräften des Balthasar-Neumann-Ensembles. Wie üblich im Bereich der alten Musik und der historisch informierten Aufführungspraxis hat der Dirigent Sängerinnen und Sänger, Instrumentalistinnen und Instrumentalisten um sich geschart, die ihm eng verbunden sind und sich seine Intentionen restlos zu eigen gemacht haben. Und ähnlich wie Philippe Herreweghe lässt Hengelbrock die vokalsolistischen Nummern von den Mitgliedern des Chors ausführen – mit Ausnahme der Partien des Evangelisten und des Jesus. Da nun stellten sich im KKL Luzern Momente einzigartiger Verdichtung ein. Mit der Helligkeit und der leuchtenden Lineatur seines Tenors zeigte Daniel Behle, dass der Evangelist der Johannes-Passion weder ein neutral berichtender Erzähler noch ein das Geschehen aufplusternder Dramatiker sein muss, dass es vielmehr einen dritten Weg gibt. Sein stimmliches Vermögen, das von einem lyrischen Grundansatz durchaus auch packende Expansion einschliesst, erlaubte es Behle, ganz aus der Sprache heraus zu einer musikalischen Griffigkeit zu finden, die den Zuhörer restlos in Bann schlug. Nicht weniger anziehend Markus Butter, der mit seinem kernigen Bariton die Worte Jesu in eine Atmosphäre geradezu herrscherlicher Selbstgewissheit kleidete.

Das passte ganz ausgezeichnet – zunächst zur Johannes-Passion, die den Gekreuzigten weniger als ein Empathie auslösendes Opfer denn als Überwinder zeigt. Vor allem aber passte es zur zweiten Fassung der Passion, die Bach ein Jahr nach der Uraufführung 1725 in Leipzig vorgestellt hat. Dass das Werk in nicht weniger als vier Versionen existiert, ist kaum jemandem bewusst, weil für Aufführungen gewöhnlich ungefragt auf die Neue Bach-Ausgabe zurückgegriffen wird. Anders Thomas Hengelbrock, in Sachen Quellenforschung nicht weniger akribisch als Nikolaus Harnoncourt; er entschied sich für eine von Bach selbst stammende Ausfertigung. Anstelle des Eingangschors steht in der zweiten Fassung der Passion eine grosse Choralbearbeitung, während diverse neu eingefügte Arien von der hohen Kunstfertigkeit des Komponisten zeugen. Die im Ton zurückhaltende, in Ausdruck wie Wirkung aber ausserordentlich starke Aufführung hob diese Seite der Passion exzellent heraus. Mit dem prominenten Konzertmeister Daniel Sepec als Energiezentrum spielte das Orchester ungemein beweglich, in den konzertierenden Beiträgen zudem glanzvoll virtuos. Und der Chor, dessen Mitglieder im Solistischen nicht allesamt gleichermassen überzeugten, liess an Deutlichkeit der Textgestaltung wie an klanglicher Homogenität keinerlei Wunsch offen.

Wurde an diesem Abend ein bekanntes Werk in ein neues Licht gerückt, so präsentierte das erstmals durchgeführte Stifterkonzert der Ernst von Siemens-Musikstiftung, für das der Chor und das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks München mit dem Chefdirigenten Mariss Jansons nach Luzern gekommen waren, eine neue Komposition. Und ein Werk in grosser Besetzung. «Requiem-Strophen» heisst es, und es stammt von Wolfgang Rihm, der hier sehr persönlich und musikalisch ausserordentlich berührend spricht. Die 2015/16 im Auftrag der Reihe «musica viva» des Bayerischen Rundfunks entstandene Partitur orientiert sich nur vage an der katholischen Totenmesse. Näher steht sie dem «Deutschen Requiem» von Johannes Brahms, das mit einer vom Komponisten selbst zusammengestellten Abfolge von Texten arbeitet. Rihm hält es ähnlich; die Verbindung zu Brahms wird gleich zu Beginn deutlich, wo Rihm den Propheten Jesaja sprechen lässt. Alles Sterbliche sei wie das Gras, das verdorrt – wie Brahms, der den Apostel Petrus herbeiruft und in seinem Requiem darauf hinweist, dass am Ende das Gras «verdorret und die Blume abgefallen» sei. Rihms Textwahl kreist einerseits um die «Missa pro defunctis», andererseits um Rainer Maria Rilke, der mit Versen aus «Das Buch der Bilder», aber auch mit Übersetzungen von Sonetten Michelangelos vertreten ist. Die in vierzehn Schritte gegliederte, äusserst stimmige Textwahl ist geprägt durch Wiederholungen, die dazu führen, dass einzelne Textpassagen in immer wieder anders geartete Kontexte geraten und dergestalt eine Art Kommentierung erhalten. In seiner subtilen Vielschichtigkeit ist allein schon das Textbuch ein Kunstwerk höchsten Anspruchs.

Aber es ist ja in Klang gebracht, und was die Musik Wolfgang Rihms vermag, zeigt sich besonders frappierend im überraschenden letzten, dem vierzehnten Schritt seiner «Requiem-Strophen». Hier greift der Komponist nach dem Gedicht «Strophen» von Hans Sahl, einem Autor der Weimarer Republik. Der Moment des Todes ist in diesen zwei sich gleichenden und sich ebenso voneinander abhebenden Strophen in zart gelassene Worte gefasst. Die Musik nimmt da einen sequenzierenden Charakter an, und wenn es am Schluss heisst «…als wär ich nie gewesen oder kaum», zieht sie sich in allerleiseste Sphären zurück – unglaublich, wie der Chor das meisterte – und verstummt dann auf dem zweitletzten Wort, dem unversehens zur Frage gewordenen «oder». Für die Einleitung zu diesem Finalteil sorgen zwei Bratschen, deren Linien sich eng verschlingen – so wie es die beiden Soprane (grossartig Mojca Erdmann und Anna Prohaska) im Lauf des Stückes immer wieder tun. Ihnen gegenüber steht ein Bariton, dem die drei Sonette Michelangelos übertragen sind; Hanno Müller-Brachmann versah diese Aufgabe mit Strahlkraft und Sicherheit in jedem Bereich seines weiten Ambitus, ausserdem mit einer Diktion, die hörend erleben liess, wie bei Wolfgang Rihm Sprache zu Musik werden kann. Hier zu einer sich organisch ausfaltenden, geschmeidig fliessenden, selten eruptiven, ihren Reichtum viel eher im Leisen findenden Musik. Dass sich Mariss Jansons diesem wunderbaren Stück mit der ihm eigenen Einlässlichkeit widmete und dass er damit bei der «musica viva» debütierte, kann dem Dirigenten nicht hoch genug angerechnet werden.