«Berio To Sing» – mit Lucile Richardot und den Cris de Paris

 

Von Peter Hagmann

 

Unter den Avantgardisten des 20. Jahrhunderts war Luciano Berio (1925-2003) keineswegs der bissigste; was die mit Donnerstimme vorgetragenen Wortmeldungen und die Komplexität der Ideen zur Weiterentwicklung des musikalischen Materials betrifft, waren ihm Kollegen wie Karlheinz Stockhausen und Pierre Boulez deutlich voraus. Aber in Sachen Nonkonformität, in Sachen Verspieltheit, in Sachen Witz war Berio einzigartig. Früh schon, als das noch verpönt, wenn nicht verboten war, wandte sich der Italiener, der zwischen der Alten und der Neuen Welt pendelte, bereits existierender, von anderer Seite geschaffener Musik zu, die er aufnahm, betrachtete, weiterdachte und verwandelte. In seinem Orchesterstück «Rendering» von 1989 verwendete er Skizzen Franz Schuberts zu einer Fragment gebliebenen Symphonie, zu Giacomo Puccinis unvollendeter Oper «Turandot» schrieb er 2002 ein Finale. Weitgespannt war dabei der Horizont. Er schweifte durch Märkte, erkundete Volksmusik und stand offen zu seiner Begeisterung für die Beatles.

Viel von dem spiegelt sich in Berios Vokalmusik – das Ensemble Les Cris de Paris, das aus Sängern und Instrumentalistinnen (das Gendersternchen darf mitgedacht werden) besteht, und sein musikalischer Leiter Geoffroy Jourdain zeigen es auf ihrer neuen CD. Packend an dieser Neuerscheinung ist zunächst die Agilität, mit der sich die Beteiligten in den doch ganz unterschiedlichen Gewässern der Musik Berios bewegen. Die eigentliche Überraschung stellt jedoch die Mitwirkung der Mezzosopranistin Lucile Richardot dar – einer Sängerin, die in der alten Musik bekannt geworden ist, die sich aber ebenso selbstverständlich mit neuer und neuster Musik auseinandersetzt. Ihre Stimme zeichnet sich durch einen ungeheuer weiten Tonumfang, durch ein kerniges, enorm wandelfähiges Timbre und, vor allem, durch eine Art des Singens ohne Vibrato, die im Bereich des Kunstgesangs absolut einzigartig ist.

Der gerade Ton, der von vielen Sängerinnen, übrigens auch von Sängern, als unschön abgelehnt wird, er bildet die Grundlage und zugleich die Besonderheit, die Lucile Richardot in ihrer Interpretation der «Sequenza III» herausschält. Ja, tatsächlich, Lucile Richardot singt die «Sequenza III». In seinen insgesamt vierzehn «Sequenze», Solostücken für diverse Instrumente und eben auch für eine Frauenstimme, versucht Berio, die Möglichkeiten und Grenzen der Tonerzeugung wie der klanglichen Gestaltung zu erkunden – und sie zum Teil radikal zu erweitern. Die «Sequenza III» versammelt in einem Verlauf von knapp zehn Minuten so gut wie alles, was die Stimme zu leisten vermag: Ton und Geräusch, Höhe und Tiefe, Beweglichkeit und Effekt. Im Raum steht hier natürlich die legendäre Aufnahme des Werks mit der Amerikanerin Cathy Berberian, der ersten Frau Berios, für die das Stück geschrieben ist. Was das technische Können und Spannkraft betrifft, steht Lucile Richardot ihrer grossartigen Vorgängerin jedoch in nichts nach, mit ihrer Kunst des geraden Tons bringt sie zudem eine Spezialität ein, die das verrückte Stück Berios in ganz anderem Licht erscheinen lässt.

Mit ihrem stimmlichen Profil bereichert Lucile Richardot auch Berios «Folk Songs» für Mezzosopran und Instrumentalensemble, deren Quellen in Italien und Frankreich, in Amerika und Aserbeidschan liegen, sie bringt aber auch eine alternative Einrichtung von «Michelle», dem berühmten Song der Beatles, für dieselbe Besetzung zum Leuchten – und den geneigten Zuhörer zum Schmunzeln. Wie überhaupt «Berio To Sing», so nennt sich die CD, die ehrwürdige Avantgarde von ihrer frisch-fröhlichen, erheiternden Seite zeigt. Was Les Cris de Paris unter der Leitung von Geoffroy Jourdain, einem phantasievollen, kreativen Musiker, als reines Vokalensemble zu bieten vermögen, erweisen die «Cries of London». Berio nimmt hier die im Rahmen einer Forschungsreise aufgezeichneten Rufe sizilianischer Händler auf Märkten zum Ausgangspunkt einer witzigen, dem Folklorismus gekonnt aus dem Weg gehenden Verarbeitung. Auch bei diesen Sängern gibt es nicht selten gerade Töne – und es sind genau die, welche einem Schauer über den Rücken jagen.

«Berio To Sing». Luciano Berio: Sequenza III (1966), Folk Songs (1964), Cries of London (1976), Michelle II (1965-76), O King (1968), There Is No Tune (1994). Lucile Richardot (Mezzosopran), Les Cris de Paris, Geoffroy Jourdain (Leitung). Harmonia mundi 902647 (CD, Aufnahme 2020, Publikation 2021).

Trauer und Trost – und was für eine Stimme

Eine CD mit der Mezzosopranistin Lucile Richardot

 

Von Peter Hagmann

 

Vorn auf dem Podium herrschen die denkbar fröhlichsten Hochzeitsvorbereitungen. Der Bräutigam tummelt sich mit seinen Freunden, in Chören wird das glückliche junge Paar gefeiert – da dringen mit einem Mal von weit hinten Klagelaute durch Mark und Bein. Sie stammen von einer Botin, die langsam, langsam, nur von einem Lautenisten begleitet, der Parkettgalerie entlang nach vorn schreitet – hin zum Podium, wo ihr Erscheinen alsbald lähmendes Entsetzen verbreitet. Euridice sei tot, berichtet die Botin, von einer Schlange gebissen und auf der Stelle verschieden. Orfeo, der Bräutigam, bricht zusammen, die Freudengesänge wandeln sich in Trauerchöre.

Was für ein Moment. Und was für eine Stimme. Es war im Sommer 2017 im KKL Luzern, wo der Dirigent John Eliot Gardiner und sein Team im Rahmen eines auf drei Abende verteilten Projekts des Lucerne Festival «L’Orfeo», die Oper Claudio Monteverdis, zu halbszenischer Aufführung brachten. Und es war die Stimme von Lucile Richardot, einer Sängerin mit einem aufsehenerregenden Stimmumfang und einem unerhört wandelbaren Timbre, einer Darstellerin zudem von schwindelerregender Expressivität. Hatte sie im «Orfeo» diesen kurzen Auftritt zu einem Höhepunkt gemacht, so sang sie später im «Ritorno d’Ulisse in patria» bezwingend die im Warten auf ihren Odysseus erstarrte, am Ende wieder zur Frau werdende Penelope, während sie in der «Incoronazione di Poppea» als Amme der ehrgeizigen Thronanwärterin mit ihrem nicht weniger ausgeprägten komischen Talent erheiterte.

Nun ist eine CD mit Lucile Richardot erschienen – natürlich bei Harmonia mundi, dem französischen Label, das heute an der Spitze der angeblich darniederliegenden CD-Branche steht und genau mit solchen Produktionen das Feld beherrscht. Die CD ist ein Muss für alle jene, die alte Musik lieben und wissen wollen, wie sie auf neue Art gesungen werden kann. Das Programm enthält Stücke aus dem England des  17. Jahrhunderts – Werke von Komponisten, die abgesehen von Henry Purcell und John Blow hierzulande nicht einmal dem Namen nach bekannt sind. Sie stehen allesamt im Zeichen des Nächtlichen, des Melancholischen. Zugleich aber bringen sie enorme Vielfalt ein – Vielfalt im musikalischen Satz, in der Realisierung des Generalbasses, in den Besetzungen. Getragen wird die Abfolge der zumeist vokalen Stücke durch das von Sébastien Daucé geleitete Ensemble Correspondances, das im Instrumentalen keinen Wunsch offen lässt, in den mehrstimmigen vokalen Beiträgen jedoch etwas unausgeglichen klingt.

Im Zentrum aber: Lucile Richardot. Wenn sie in ihr Brustregister absteigt, glaubt man einen Countertenor zu hören, allerdings einen der aussergewöhnlichen Art. Die Stimme wird da ungeheuer kräftig und fest, sie entwickelt eine Wandelbarkeit in Formung und Farbe, dass es einem förmlich den Atem raubt. Dabei bleibt der feminine Grundzug unangetastet, denn ebenso souverän setzt Lucile Richardot ihr Kopfregister ein – steigt sie in die Höhe, wird dort locker und leicht. Auf dieser Basis wendet sie die Prinzipien der historisch informierten Aufführungspraxis an, wie sie heute angesagt sind. Grundlage des Singens bildet hier der reine, gerade Ton, wie ihn ein Instrument hervorbringt. Das erlaubt der Sängerin, die harmonischen Verläufe zu schärfen, Dissonanzen etwa dergestalt zuzuspitzen, dass die Auflösung in die Konsonanz zu einem Naturereignis wird. Überhaupt erhält das Harmonische dank der immer wieder grossartig getroffenen Intonation eine Würzung, die man so nicht für möglich gehalten hätte. Dazu kommt nun, als höchst effektvoll eingesetzte Verzierung, das Vibrato, das im Rahmen dieser vokalen Ästhetik zu seiner ursprünglichen Funktion zurückfindet – ungemein packend ist das.

So stellt sich in den ebenso vertraut wie fremd klingenden Stücken, die auf der CD versammelt sind, ein Panoptikum an Stimmungen zwischen Trauer und Trost ein. Doch genug der Worte, ich will die CD gleich noch einmal einlegen.

Perpetual Night. 17th Century Ayres and Songs. Lucile Richardot, Ensemble Correspondances, Sébastien Daucé (Leitung). Harmonia mundi 902269, 1 CD, Aufnahme 2017, Publikation 2018).