Licht und Duft des Südens

Lugano Musica im LAC – ein Besuch

 

Von Peter Hagmann

 

Der Ort hat etwas Magisches. Rechteckig ist der Platz, er öffnet sich auf den See hin und gibt den Blick frei auf ruhigen Wellenschlag und hohe Berge, auf Tiere am Wasser und blühende Magnolienbäume (leider auch auf tosenden Autoverkehr, das lässt sich nicht ändern). Die eine Seite Platzes, grün schimmernd, gehört dem Kunstmuseum; es zeigt temporäre Ausstellungen wie auch seine Sammlung, die aus der Zusammenführung kantonaler wie städtischer Bestände gebildet ist. Im rechten Winkel dazu als der rückseitige Abschluss des Platzes eine hohe, vielfach unterteilte Glaswand, die ein geräumiges Foyer mit einem ansprechenden Restaurant, mit Kassen und einer gut sortierten Buchhandlung sehen lässt. Von dort aus führen Treppen in die Sala Teatro, den zentralen Aufführungsraum mit seinen rund 1000 Plätzen.

Bald wird in diesem ganz in Holz gehaltenen, akustisch ausgezeichneten Saal etwas los sein, denn im LAC, so nennt sich das Zentrum «Lugano Arte e Cultura», gibt es ein grosses Angebot an Veranstaltungen aus den Bereichen von Schauspiel und Tanz, bisweilen sogar eine Oper, vor allem aber eine reiche Auswahl an Konzerten. Akteure auf diesem Feld sind das von Markus Poschner geleitete Orchestra della Svizzera italiana, die Studierenden der Tessiner Hochschule für Musik, die hier noch nach romanischem Sprachgebrauch «Conservatorio» heisst, ist in erster Linie jedoch die Reihe «Lugano Musica», die inzwischen zum achten Mal die Welt der klassischen Musik in ihrer ganzen Vielfalt nach Lugano bringt.

Einfach sei die Lage nicht, bemerkt Etienne Reymond, der Direktor von Lugano Musica. Die Leichtigkeit des Seins, die sich in den Jahren des Aufbaus eingestellt hat, ist verschwunden, die Pandemie hat Sicherheiten wie Gewohnheiten in Frage gestellt. Heute muss sich eine Einrichtung wie Lugano Musica wieder mehr um das Publikum kümmern – es suchen, einladen, motivieren. Getan wird das etwa mit Hilfe grossformatiger Plakate, deren man in der Stadt allenthalben ansichtig wird, aber auch im direkten Gespräch mit Besucherinnen und Besuchern. Nicht nur das Wegbrechen sei zu beobachten, sagt Etienne Reymond, es gebe auch Zugewandtheit, Treue und neuen Optimismus. In den schwierigen Phasen, in denen nur Kammermusik möglich gewesen sei, in denen Konzerte, wenn überhaupt, nur im Foyer des LAC vor sehr aufgelichteten Stuhlreihen hätten durchgeführt werden können, hätten die Künstler Solidarität gezeigt und seien die Zuhörer dabei geblieben.

Jetzt geht es wieder aufwärts, von der andernorts geraunten Weltuntergangsstimmung ist bei Lugano Musica nichts zu spüren. Es gibt wieder Gastspiele grosser Orchester; sie stehen diese Saison im Zeichen jüngerer Dirigenten, unter ihnen etwa der äusserst vielversprechende Finne Santtu-Matias Rouvali, der an der Spitze des Philharmonia Orchestra London nach Lugano kommt. Auch das Streichquartett-Wochenende fand wieder statt, etwa mit dem Diotima-Quartett, das zum 100. Geburtstag des Komponisten die beiden Streichquartette von György Ligeti vortrug – und nebenbei betont Etienne Reymond wieder einmal, für wie sinnvoll er die Ergänzung des LAC durch einen kleineren Saal mit maximal 300 Sitzplätzen hielte. Es ist der kreative Mix zwischen den grossen Namen und der «nuova generazione», zwischen dem repräsentativen Sinfoniekonzert und dem elektronischen Experiment, zwischen alter und neuer Musik, der dem Programm von Lugano Musica sein Profil verleiht.

Die Lebendigkeit ist jedenfalls ungebrochen. Zu spüren war sie auch beim Gastspiel des Budapest Festival Orchestra mit seinem Gründer und Leiter Iván Fischer. Ins Leben gerufen 1983, in der Spätzeit der ungarischen Volksrepublik, und gross geworden nach der Wende 1989, gehört die Formation heute zu den ersten Orchestern der Welt, daran liess der Auftritt im LAC keinen Zweifel. Gewiss, die «Symphonic Minutes» von Ernő Dohnányi wirkten nett, während beim G-dur-Klavierkonzert Ludwig van Beethovens Uneinigkeiten zwischen dem Solisten Rudolf Buchbinder und dem Dirigenten in Fragen der Tempi zutage traten. Danach aber drei Mal Richard Strauss – und drei Mal vom Feinsten.

«Don Juan» unerhört aufbrausend, klanglich vielleicht etwas grobkörnig, aber doch konsequent als virtuoses Muskelspiel eines selbstbewussten jungen Komponisten dargeboten. Und wie musikalisch durchdrungen der Beitrag des Solo-Oboisten gelang, liess erkennen, welche Qualität in diesem Orchester Standard ist. Meisterhaft gesteigert, jedenfalls spürbar von dramatischem Atem durchzogen dann der Schleiertanz aus «Salome», in dem sich die Soloflöte und das Englischhorn besonders vorteilhaft einbrachten. Zum Ereignis des Abends wurde aber «Till Eulenspiegel» als eine musikalische Erzählung von besonderer Fasslichkeit. Die deutsche Aufstellung des Orchesters mit den beiden Geigengruppen links und rechts vom Dirigenten wurde dahingehend modifiziert, dass die vier Hornisten als Vertreter der Philister rund ums Dirigentenpult platziert waren und die Klarinette als Verkörperung der Titelfigur gleich dahinter sass. In lichtem, farbenreichem Klang und hörbarer Empathie war dieses musikalische Porträt eines Unbotmässigen gezeichnet: ein Vergnügen der ersten Art. Enorm der Beifall. Und zum Schluss gab es, wie oft bei Iván Fischer, eine Überraschung.

Auf Erfolgskurs

Zu Besuch im LAC Lugano

 

Von Peter Hagmann

 

Lugano ist definitiv die Reise wert. Am Ende der Via Nassa findet sich die Kirche Santa Maria degli Angioli aus dem frühen 16. Jahrhundert; sie birgt ein grandioses Fresko mit der Passionsgeschichte von Bernardino Luini von 1529 – der Besuch drängt sich jedes Mal auf. Doch nur wenige Schritte weiter, und schon steht man auf der ausladenden Piazza, die zu dem 2015 eröffneten LAC, dem Kulturzentrum «Lugano Arte e Cultura» gehört. Der Blick von diesem Platz auf den Lago di Lugano raubt einem den Atem. Im Innern gibt es ein Museum mit einer permanent gezeigten Sammlung und temporären Ausstellungen sowie die akustisch vorzügliche Sala Teatro, in der nicht nur Schauspiel, sondern auch Musik geboten wird. Klassische Musik.

Und was für welche. Eben erst waren die Berliner Philharmoniker mit dem Gastdirigenten Daniel Harding da, vor ihnen gaben sich die Wiener Philharmoniker mit Michael Tilson Thomas die Ehre. Das Orchestre des Champs-Elysées trat mit seinem Dirigenten Philippe Herreweghe und der Geigerin Isabelle Faust auf, Claudio Abbados Orchestra Mozart kam mit Bernard Haitink, das Bayerische Staatsorchester mit Kirill Petrenko und Patricia Kopatchinskaja an der Violine. Der Altmeister Maurizio Pollini spielte Klavier, die Newcomers Daniil Trifonov und Igor Levit folgten ihm. In Residenz eingeladen ist der Schweizer Emmanuel Pahud, der wohl bekannteste Flötist unserer Tage; engagiert war er zum Beispiel mit dem mit dem glanzvoll auferstandenen Orchestre de la Suisse Romande und seinem Chefdirigenten Jonathan Nott. Als ein über die gesamt Spielzeit gespanntes Festival erscheint das Programm.

Verantwortlich dafür ist Etienne Reymond, der als Intendant von Lugano Musica nun in seiner vierten Saison steht und das Angebot mächtig erweitert hat. Sein Handwerk gelernt und sein Netzwerk aufgebaut hat er beim Tonhalle-Orchester Zürich, wo er lange Jahre das künstlerische Betriebsbüro geleitet hat. Im LAC schöpft er aus dem Vollen – und das dergestalt, dass Lugano inzwischen zu einem grossen Punkt auf der musikalischen Landkarte gekommen ist. Der akustisch hervorragende Saal, das reizvolle Ambiente und die künstlerische Linie – das das sind die Assets, die Reymond in die Waagschale werfen kann. Riccardo Muti war mit seinem Orchestra Cherubini da und auf Anhieb begeistert; er komme wieder, soll er gesagt haben, dann aber mit dem Chicago Symphony Orchestra. Reymond geht es aber nicht um eine Perlenkette grosser Namen; was ihm vorschwebt, ist eine umfassende, nach vielen Seiten offene künstlerische Idee.

Das zeichnet sich jetzt mehr und mehr ab. Inzwischen gibt es einen roten Faden, der durch die Programme führt. Die Zwanziger Jahre sind es in dieser Saison, wofür etwa ein «concert salade» mit Werken aus dem Umkreis des Groupe des Six mit Musikern aus dem Tessin stand. Ja, auch Kammermusik hat ihren Platz bei Lugano Musica, zum Beispiel das bereits gut etablierte Streichquartett-Wochenende im März, das einen Blick in eine sehr lebendige Szene wie auf den Reichtum des Repertoires werfen lässt. Und stark gewachsen ist das Angebot an Nebenveranstaltungen – eine Art der Bereicherung, welche die Musik in Verbindung bringt mit ihrer eigenen Geschichte, mit anderen Künsten, mit intellektuellen Strömungen. Einen solchen Ansatz verfolgt Etienne Reymond mit «Pasqua a Lugano», einem seit 2018 durchgeführten Festival. Es bietet nicht nur hochstehende Konzerte, sondern auch ein «Caffè degli Artisti», das im grosszügigen Foyer des LAC zusammen mit den Interpreten und auswärtigen Referenten die aufgeführten Werke in ihren zeitgeschichtlichen Kontext zu stellen sucht.

Quicklebendig erscheint die Atmosphäre in den Konzerten von Lugano Musica, das erwies auch das Gastspiel der Bamberger Symphoniker mit ihrem inzwischen in seiner dritten Saison stehenden Chefdirigenten Jakub Hrůša. «Mein Vaterland», die sechsteilige Folge Sinfonischer Dichtungen von Friedrich Smetana, die man selten als Ganzes hört, war angesagt. Das Orchester befindet sich in ausgezeichneter Verfassung. Allerdings klingt es nicht mehr so hell, beweglich und transparent wie unter Hrůšas Vorgänger Jonathan Nott; es weist wieder mehr Grundtönigkeit auf und operiert mit einem kompakten Gesamtklang, der von kräftigen, bisweilen scharfen Blechbläsern dominiert wird. Genau darin lag die Schwäche der Aufführung von «Mein Vaterland» in Lugano: Es gab zu viel von der immergleichen Wucht, zu wenig Differenzierung in der klanglichen Balance und damit zu wenig strukturelle Klarheit. Etwas extravertiertes, um nicht zu sagen: Amerikanisches lag über der Wiedergabe. Keine Frage jedoch, dass sich die Bamberger nach wie vor zu den besten Orchestern Europas zählen dürfen.

Beim Label Tudor sind Aufnahmen mit den Bamberger Symphonikern und ihrem Chefdirigenten Jakub Hrůša erhältlich. Unter ihnen Friedrich Smetana: Mein Vaterland, Johannes Brahms: Sinfonie Nr. 4 und Antonín Dvořák: Sinfonie Nr. 9 sowie Johannes Brahms: Sinfonie Nr. 3 und Antonín Dvořák: Sinfonie Nr. 8.

Höhenflug in Lugano

Das Orchestra Mozart mit Isabelle Faust und Bernard Haitink im LAC

 

Von Peter Hagmann

 

Wie wenn der Tod Claudio Abbados am 20. Januar 2014 nicht traurig genug gewesen wäre, wurde in unmittelbarem Zusammenhang damit bekannt, dass das Orchestra Mozart, die letzte Gründung des Dirigenten, aus finanziellen Gründen seine Aktivitäten einstellen müsse. Die Musiker waren freilich nicht gewillt, den administrativen Akt anzunehmen. Sie leiteten eine ganze Reihe von Initiativen ein, welche die Wiederbelebung des 2004 mit Abbado an der Spitze eingerichteten Orchesters ermöglichen sollten. Die Regia Accademia Filarmonica in Bologna, dem letzten Wohnsitz Abbados, hatte schon bei der Gründung Hand geboten; sie ist jetzt wieder im Boot. Gestartet wurde ausserdem eine Crowdfunding-Aktion, die bis heute bereits mehr als 90’000 Euro erbracht hat. Nun sind die Musiker wieder aufs Podium gegangen. Das Orchestra Mozart lebt, und wie.

Zu hören war es am vergangenen Wochenende in Lugano, im Konzertsaal des neuen Kulturzentrums LAC, und dort im Rahmen der von Etienne Reymond geleiteten Konzertreihe LuganoMusica. Zwei Tage zuvor hatte das Orchestra Mozart in Bologna sein erstes Konzert der Post-Abbado-Ära gegeben, danach ist es für sein erstes Konzert im Ausland nach Lugano gereist, wo es ein hingerissenes Publikum gefunden hat. Kraftvoll blickt das Orchester jetzt nach vorn, doch tut es das im Wissen um seine grosse Vergangenheit. So hat es denn den Faden, der vor drei Jahren niederfiel, wieder aufgenommen. Am Pult stand erneut Bernard Haitink; er hatte das letzte Konzert des Orchestra Mozart vor Abbados Tod dirigiert. Und mit von der Partie war die Geigerin Isabelle Faust, die in der späten Zeit Abbados oft mit dem Dirigenten zusammengearbeitet hat.

Auch das Programm stellte eine Hommage an den Gründer des Orchesters dar. Die «Egmont»-Ouvertüre Ludwig van Beethovens war das erste Stück, das in einem Konzert des Orchestra Mozart erklang. Beethovens Violinkonzert hat Isabelle Faust mit dem Orchestra Mozart unter Abbados Leitung 2010 aufgenommen, dies zusammen mit dem Violinkonzert Alban Bergs – die CD ist dann 2012 erschienen. Und die «Rheinische», die Sinfonie Nr. 3 in Es-dur von Robert Schumann, war das letzte Werk, an dem Abbado mit dem Orchester gearbeitet hat. So schliesst sich jener Kreis, zu dem auch Bernard Haitink gehört. Im Spätsommer 2000 ist er zum ersten Mal für den akut erkrankten Claudio Abbado eingesprungen, damals noch am Pult der Berliner Philharmoniker; 2014 dirigierte er an Abbados Stelle das Orchestra Mozart, ein knappes Jahr später das ebenfalls auf Initiative Abbados installierte Lucerne Festival Orchestra.

Indes, bei dem jüngsten Konzertprojekt des Orchestra Mozart ging es keineswegs um die Retrospektive allein. Zu spüren war vielmehr ein klarer Wille zum Aufbruch. Das Orchester klang ungemein frisch und zupackend, seine knapp 60 Mitglieder wirkten motiviert und engagiert bis in die hintersten Ränge. Sie wollen, was sie tun; sie tun es nicht, weil sie es müssen. Ihren Lebensunterhalt verdienen sie sich anderswo, im Orchestra Mozart finden sie zusammen für Projekte, für begrenzte Arbeitsphasen. An ausgedehnte Konzertreisen, wie sie die anderen von Abbado gegründeten Orchester pflegen, denken sie weniger; eher möchten sie sich in einigen Städten Europas als Residenzorchester verpflichtet sehen, um sich dort mit einer breiten Palette musikalischer Darbietungsformen vom Sinfoniekonzert zum Kammermusikprogramm und zu pädagogischen Projekten einzubringen. Auch in Lugano hat das Orchestra Mozart vor seinem abendlichen Auftritt Kammermusik präsentiert: im Foyer des LAC, wo sechzig Stühle aufgestellt und dreissig Kissen für Kinder ausgelegt wurden. Fünfhundert Zuhörer seien gekommen, berichtet Etienne Reymond; die meisten von ihnen hätten von den Treppen aus zugehört.

Der Geist, der hier zum Ausdruck kommt, ist nicht unbekannt. Es ist jener des Lucerne Festival Orchestra – und tatsächlich gibt es hörbare klangliche Verwandtschaften. Kein Wunder, fand sich unter den Musikern, die in Lugano auftraten, doch eine ganze Reihe von Mitgliedern des Luzerner Lucerne Festival Orchestra: vom Geiger Raphael Christ, der beim Orchestra Mozart als Konzertmeister wirkt, über Danusha Waskiewicz, die Stimmführerin der Bratschen, und dem Solo-Cellisten Gabriele Geminiani bis hin zum Solo-Oboisten Lucas Marcías Navarro und seinem Kollegen Carlos del Ser Guillén. Die Schnittmenge umfasst zwanzig Prozent der Mitglieder. Das ist nicht so viel, dass die Eigenständigkeit der beiden Klangkörper tangiert wäre, fällt aber doch ins Gewicht. Bedeutender sind freilich die Prämissen des Musizierens, die hier wie dort dieselben sind: die Exzellenz auf dem Instrument, Präsenz und Reaktionsvermögen im Geist der Kammermusik, das Engagement aus freien Stücken und die freundschaftliche Verbundenheit untereinander – das macht den sagenhaften Klang auch des Orchestra Mozart aus.

Es ist ein persönlicher Klang mit einem kompakten Kern und einer starken Leuchtkraft. In dem akustisch hervorragenden Saal des LAC – was vom Podium kommt, wirkt in der Höhe des Balkons genau so präsent wie im Parkett – kam er um so mehr zur Geltung, als Bernard Haitink die Eigenheiten der Orchester Abbados optimal zu nutzen und sie zur Geltung zu bringen versteht. Eindrucksvoll auch, wie die Energien zwischen dem Dirigenten und dem Orchester fliessen. Der Kopfsatz der «Rheinischen» mag im Tempo etwas behäbig geraten sein, jedenfalls lag er merklich unter der von Schumann stammenden Metronomzahl; in der vibrierenden Spannkraft, mit welcher der Pauker Robert Kendell das Orchester voranzog, gewann das Tempo jedoch seine eigene Plausibilität. Die «Egmont»-Ouvertüre wiederum geriet so wuchtig, dass man sie durchaus auch als Ausdruck der Orchesterbiographie hören konnte. Während das Violinkonzert Beethovens von Isabelle Faust und dem Orchester derart berührend nach innen gewandt vorgetragen wurde, dass auch der Zuhörer zu aktiver Partizipation eingeladen war. Meine Nachbarin im Saal scheint davon wenig bemerkt zu haben; unverdrossen beleuchtete sie ihre Umgebung und liess sie an den Eingebungen teilhaben, die sie in ihr iPad tippte.

Lugano, das LAC und die Musik

 

LAC Esterno ©LAC 2015 - Foto Studio Pagi
Bild Foto Studio Pagi, LAC

 

Peter Hagmann

Neues Haus, frischer Wind

Zu Besuch im neuen Konzertsaal von Lugano

 

Wer in Lugano am Ende der Via Nassa angekommen ist und den obligaten, um nicht zu sagen: obligatorischen Zwischenhalt in der Kirche der Santa Maria degli Angioli mit ihren eindrucksvollen Fresken hinter sich hat, darf sich erst einmal wundern. Zu seiner Rechten erblickt er nämlich die Fassade des 1855 eröffneten, 1994 abgebrannten und in der Folge zunehmend verwahrlosten Hotels Palace. Aufgefrischt und stolz, aber mit Fenstern, die toten Augen gleichen, verbirgt sie einen massiven Neubau mit Luxus-Appartements. Von hier aus noch einige Schritte – und schon steht der Besucher auf der Piazza Bernardino Luini. Zum See hin offen, wird der Platz an seiner rechten Seite vom «Palace», an der Stirnseite und zu seiner Linken von dem neuen, letzten Herbst eröffneten Kulturzentrum Luganos eingefasst: dem LAC. Der Ort hat durchaus seine Magie.

In dunklem Grün strahlt der Stein, der das MASI einkleidet, das Museo d’Arte della Svizzera italiana, das aus der Fusion der städtischen und der kantonalen Kunst-Sammlungen entstanden ist. Die Farbe schliesst an jene der Berghänge an, von denen Lugano umgeben ist, aber auch an jene des Sees. Auf den blickt man von dem zur Gänze verglasten Eingangsbereich des neuen Kulturzentrums aus: von einem Foyer aus, das durch diesen Blick, aber auch durch seine enorme Höhe eine Weite ganz eigener Art suggeriert. So präsent wie im KKL Luzern ist das Wasser zwar nicht, mittelbar gehört der See aber sehr wohl zu dem neuen Bau. Das lässt auch die Bezeichnung «LAC» anklingen – und rasch hat man dabei vergessen, dass «Lugano Arte e Cultura», so der Name hinter der Abkürzung, die Bildende Kunst aus der Kultur ausgegliedert hat.

LAC Hall ©LAC 2015 - Foto Studio Pagi
Bild Foto Studio Pagi, LAC

Inhaltlicher Neubeginn

Die «Cultura», die in der Bezeichnung «LAC» gemeint ist, das ist das Schauspiel zum einen, zum anderen die Musik. Beide Künste hatten in Lugano schon bisher ihre Orte – allerdings nicht wirklich geeignete. Mit dem über 200 Millionen Franken teuren Kulturzentrum, einer klaren Willensäusserung der Stadt Lugano mit ihren 65’000 Einwohnern, ist dieser Ort geschaffen. Dass er noch nicht ganz so belebt wirkt, hat mit seiner etwas peripheren Lage, aber auch der noch wenig ausgebauten Infrastruktur zu tun. Zwar gibt es ein Museums-Café im Eingangsbereich, doch wirkt es nicht nach aussen auf den Platz. In einem zweiten, im Komplex des «Palace» gelegenen Café herrschen vor und nach den Konzerten fröhliche Enge und quirlige Vitalität, wirklich funktional ist diese Miniatur von einer Gaststätte jedoch nicht. Und ein in den oberen Geschossen des Baus gelegenes Restaurant ist bisher nicht in Betrieb genommen worden. Dabei zeigt gerade eine Institution wie die Seebar im KKL Luzern, wie wichtig Einrichtungen dieser Art für die Identität einer Kulturinstitution sein können.

Aller Anfang ist schwer, auch hier. Das von dem Tessiner Architekten Ivano Gianola konzipierte Haus steht, jetzt muss es erst warmlaufen. Und auch in dieser Beziehung hat die Stadt Lugano klare Zeichen gesetzt. Die Stiftung Lugano Festival, die in der Vergangenheit nach der Art der italienischen Stagione zeitlich begrenzte Veranstaltungsreihen durchführte, hat von der Stadt den Auftrag erhalten, ein musikalisches Saisonprogramm auf die Beine zu stellen, also für ein kontinuierliches Angebot an Konzerten zu sorgen. Zu diesem Zweck ist ihr nicht nur eine Erhöhung der Subvention zugesprochen worden, sie hat auch ihren Namen in Lugano Musica verändert – und vor allen Dingen hat sie ein professionelles künstlerisches Management erhalten.

Mit dem aus Lausanne stammenden Pianisten, Dirigenten und Musikmanager Etienne Reymond ist ein Künstlerischer Direktor mit hervorragendem Leistungsausweis gefunden worden. Als langjähriger Leiter des Künstlerischen Betriebsbüros beim Tonhalle-Orchester Zürich hat er sich ein ganz ausgezeichnetes Netzwerk geschaffen – wovon er jetzt profitiert; manche seiner Freunde, Dirigenten wie Solisten, kommen seinetwegen nach Lugano und verhelfen dem Musikleben der Stadt auf einen Schlag zu internationalem Flair. Kommt dazu, dass Etienne Reymond, der im persönlichen Auftritt eher soigniert wirkt, seiner Tätigkeit nicht nur mit spürbarer Begeisterungsfähigkeit nachgeht, sondern auch die verschiedenen Aufgaben des Intendanten von der Geldbeschaffung über die Kommunikation mit den Künstlern bis hin zur Rolle als eine Art Gastgeber für das Publikum souverän miteinander verbindet.

So fügt er sich ganz selbstverständlich in die gewachsenen Strukturen ein, weshalb er mit dem Progetto Marta Argerich, dem alljährlichen Festival der grossen Pianistin, ebenso kooperiert wie mit dem Orchestra della Svizzera italiana, das aufgrund neuerlicher Rückzugsbestrebungen der SRG wieder einmal vor einer Existenzkrise steht, bei Lugano Musica nun aber in Residenz geladen ist. Für die von ihr durchgeführten Konzerte mietet sich die Stiftung Lugano Musica – ganz ähnlich, wie es das Lucerne Festival beim KKL Luzern tut – beim LAC ein. Sie bespielt dort die Sala Teatro, den grossen Saal mit rund 1000 Plätzen, der für Schauspiel, Musiktheater und Konzert gleichermassen nutzbar ist. Für Kammermusik steht ein kleiner Raum mit knapp 100 Sitzen zur Verfügung, das Teatrostudio. Und bisweilen, an einem Sonntagvormittag und für junge Interpreten, wird auch das Foyer zum Veranstaltungsort.

Ein Klang von haptischer Qualität

In diesem Foyer steigen wir nun die Treppen hoch, den Blick über die hereinströmenden Menschen hinweg auf den See gerichtet. Unser Ziel ist die Sala Teatro, wo das Royal Philharmonic Orchestra London mit seinem Schweizer Chefdirigenten Charles Dutoit angesagt ist. Der Saal selbst: eine Überraschung.

Saal klein
Bild Foto Studio Pagi, LAC

Ganz in warmes Holz gekleidet, steigt der nach dem Prinzip der Schuhschachtel konzipierte Raum so stark an, dass jeder Sitzplatz optimale Sicht garantiert. Das in grosser Besetzung angetretene Orchester wiederum findet auf der als Podium eingerichteten Bühne bequem Platz. Die deutlich in die Tiefe gezogene Aufstellung führt zu einer sehr direkten Abstrahlung des Schalls in den mit angenehmem Nachhall versehenen Raum (für die Akustik war das Büro Müller-BBM aus München zuständig). Dem Gesamtklang verleiht das geradezu haptische Qualität.

So sind denn die einzelnen Instrumente ausgezeichnet zu hören, kann das Fortissimo aber auch leicht ins Lärmige kippen, während das Pianissimo durch eine unanständig laut rauschende Klimaanlage beeinträchtigt wird. Bei den «Fontane di Roma», der ausladenden Tondichtung von Ottorino Respighi, ist beides zu bemerken, auch «Petruschka» von Igor Strawinsky, hier in der vollständigen Fassung  von 1911 gespielt, gerät bisweilen etwas grell. Dafür lassen sich die von Charles Dutoit subtil herausgearbeiteten Farbenspiele optimal verfolgen und erhält die rhythmische Energie, die der Dirigent zu erzeugen vermag, packende Wirkung. Nochmals überraschend dann der Klang des Flügels, eines ausnehmend warm klingenden Steinway. Riesenkraft entfaltet die zierliche Alice Sara Ott im Klavierkonzert von Edward Grieg, und Dutoit lässt das Orchester dementsprechend aufrauschen. Griegs Konzert zeigt deshalb seine Pranken, was es gewiss darf – die Kraftentfaltung hat ja auch ihre sinnliche Seite, und die kommt hier zu bester Geltung.

Gerade umgekehrt ist es bei der Kammermusik – leider einmal mehr. Wie im KKL Luzern ist auch im Luganeser LAC ein Saal für Kammermusik mit maximal 500 Plätzen im Raumprogramm schlicht vergessen gegangen. Etienne Reymond sollte und möchte ein vollumfängliches Konzertangebot internationaler Ausstrahlung bieten; dazu gehört selbstverständlich auch Kammermusik – die aufzuführen im grossen Saal wenig sinnvoll, im kleinen dagegen so gut wie unmöglich ist. Beim Teatrostudio handelt es sich um einen Proberaum, der weder Platz bietet fürs Publikum noch über die notwendige Infrastruktur verfügt. Angeblich soll es die Möglichkeit eines diskreten Anbaus geben, um einen Kammermusiksaal zu gewinnen, doch gesprochen ist darüber noch nichts. Das spanische Cuarteto Casals spielte daher hautnah an seinen Zuhörern, was für keine der beiden Seiten befriedigend war. So bewundernswert die Souveränität von Vera Martínez Mehner und Abel Tomàs (Violinen), Jonathan Brown (Viola) und Arnau Tomàs (Violoncello) war, so sehr waren bei der Primgeigerin Zeichen der Verkrampfung auszumachen.

Stars und Aufsteiger

Wichtiger ist aber, dass Lugano Musica auch unter den noch nicht optimalen Verhältnissen ein breit gefächertes, spannendes Angebot bietet. Der Auftritt des Cuarteto Casals erfolgte im Rahmen eines Schwerpunkts, das an drei Abenden eines verlängerten Wochenendes drei stilistisch ganz unterschiedlich gelagerte Streichquartette aufeinander folgen liess. Diplomatisch, wie er ist, fällt Etienne Reymond nicht mit der Tür ins Haus; er müsse, sagt er, sein Publikum erst heranziehen und heranführen, bevor er etwas wagen könne – darum wirkt das Programm der ersten Saison noch etwas zahm, darum sieht man da und dort auch seine Zürcher Wurzeln. Immerhin hat Reymond Formationen wie das Chamber Orchestra of Europe mit dem Dirigenten Bernard Haitink oder die Philharmoniker aus Rotterdam mit ihrem Chef Yannick Nézet-Séguin sowie Grössen wie András Schiff, Radu Lupu oder Maria João Pires für Lugano verpflichtet. Aber auch für jüngere Kräfte wie Daniil Trifonov, Melodie Zhao oder Beatrice Rana am Klavier steht das Haus offen. Der Start ist in beeindruckender Weise gelungen; nun hat auch die italienische Schweiz ihr musikalisches Zentrum.

LAC Aerea ©LAC 2015
Bild Pixaround, LAC