Seiltanz am Abgrund

György Kurtágs «Kafka-Fragmente»
mit Anna Prohaska und Isabelle Faust

 

Von Peter Hagmann

 

Da haben sich zwei gefunden; wiewohl in unterschiedlichen Tätigkeitsfeldern wirksam, stehen sie sich nah. Anna Prohaska ist eine Sopranistin, die neue Musik mit derselben Leidenschaft pflegt wie alte und darum im hergebrachten Repertoire besondere Akzente setzt. Dasselbe tut die Geigerin Isabelle Faust mit ihrer Stradivari «Sleeping beauty» von 1704; sie arbeitet mit zielgerichteter Sorgfalt und stellt die kritischen Fragen, ohne die im Bereich der musikalischen Interpretation keine Kreativität entsteht. Jetzt haben sich die beiden in Berlin ansässigen Künstlerinnen zusammengetan, um für das Label Harmonia mundi die «Kafka-Fragmente» György Kurtágs aufzunehmen. In wenigen Tagen wird die CD greifbar sein, und dann dürfte sie auch auf den einschlägigen Webseiten erscheinen.

Das Stück ist Kult, wie es der Komponist selbst ist. Kurtág, inzwischen 96 Jahre alt, ist spät in der musikalischen Öffentlichkeit erschienen; der Dirigent Claudio Abbado hat ihm bei Wien Modern, der Konzertdirektor Hans Landesmann bei den Salzburger Festspielen die Türen geöffnet. Sein Œuvre ist überschaubar, enthält aber doch auch eine Oper. Seine musikalische Handschrift lebt von der verknappten Geste, welche die Dinge in einer ganz und gar persönlichen Weise auf den Punkt bringt. Mit vielen seiner Werke hat er regelrecht Geschichte geschrieben. Als «…quasi una fantasia…» op. 27., Nr. 1, für Klavier und Orchestergruppen 1990 beim Grazer Musikprotokoll unter der Leitung von Hans Zender aus der Taufe gehoben wurde, musste das Stück auf der Stelle wiederholt werden, ein einzigartiger Vorgang.

Auch die «Kafka-Fragmente» haben breite Beachtung gefunden – trotz (oder gerade wegen) der eigenartigen Besetzung für Singstimme und Violine. Textliche Basis der vierzig zum Teil ultrakurzen Nummern, deren Aufführung eine Stunde dichtester Konzentration auf dem Podium wie im Auditorium verlangt, bilden verstreute Sätze aus Briefen und Tagebüchern Franz Kafkas – teils undurchdringlich, teils unschlagbar treffend. Dass das zu frappanter Intensität führen kann, macht die formidable Auslegung durch Anna Prohaska und Isabelle Faust deutlich.

Die Sopranistin verfügt über ein Ausdrucksspektrum, das weit über den schönen Ton und das ausgebaute Legato hinausgeht; sie kann wispern und flüstern, kreischen und schreien, sie setzt sich schonungslos dem Singen ohne jedes Vibrato aus und wird handkehrum zur grossen Operndiva – fast alles im Rahmen von ein bis zwei Minuten. Die Geigerin steht ihr in nichts nach. Im lapidaren Beginn der Nummer 1, «Die Guten gehen im gleichen Schritt», spielt sie die unerhörte Schönheit ihres Instruments voll aus, um wenig später mit Kratzgeräuschen, gehauchten Flageolets, erschütternden Glissandi und raffinierten Doppelgriffen aufzuwarten. Den Höhepunkt bietet zweifelsohne die mit sieben Minuten längste Nummer 20, die, Pierre Boulez gewidmet, einen eigenen der vier Abschnitte ausmacht. Die Rede ist dort von einem Seil, das zum artistischen Akt einlädt, das in Wirklichkeit aber nur wenige Zentimeter über dem Boden verläuft und somit eher stolpern macht. Auch in einer solchen Situation kann sich existenzieller Seiltanz aufdrängen, György Kurtág, Anna Prohaska und Isabelle Faust lassen es erfahren.

György Kurtág: Kafka-Fragmente. Anna Prohaska (Sopran), Isabelle Faust (Violine). Harmonia mundi 902359 (CD, Aufnahme 2020, Publikation 2022).

«Paradise lost», ein Liederabend mit Anna Prohaska und Julius Drake

 

Von Peter Hagmann

 

Das Kulturleben ist stillgelegt, Oper und Konzert sind ausgesetzt – versteht sich: Die Öffentlichkeit, welche die Musik braucht wie wir die Luft zum Atmen, ist derzeit besonders gefährlich. Musikkritik muss daher ausfallen. Indes, stimmt das? Oder stimmt es vielleicht nur bedingt? In unseren multimedial durchzogenen Tagen kennt die Musik ja auch andere Formen des Daseins, mediale eben. Darum bleibt «Mittwochs um zwölf» fürs erste in Betrieb: mit Home Music, nämlich mit Hinweisen auf empfehlenswerte Neuerscheinungen oder Schätze aus dem Archiv.

 

Wie ein Komet stieg sie auf, begleitet von Granden wie Claudio Abbado, Pierre Boulez oder Nikolaus Harnoncourt. Heute gehört Anna Prohaska zu den hell leuchtenden Fixsternen – und mehr noch: In ausgeprägter Weise verkörpert die 1983 geborene Sopranistin jenes neue Selbstverständnis, das unsere Tage für die Kunst der musikalischen Interpretation hervorgebracht hat. Ihr Tätigkeitsfeld reicht von der alten über die klassisch-romantische hin zur neuen Musik. Begrenzungen des Interesses gibt es bei ihr ebenso wenig wie solche der stilistischen Versatilität; ebenso kundig, ebenso leidenschaftlich wie Jean-Philippe Rameau widmet sie sich Luigi Nono – das ist in Zeiten, da sich viele Musiker spezialisieren, da grosse Dirigenten mit Bruckner und Mahler brillieren, zu Mozart aber nichts zu sagen wissen, von nicht zu unterschätzender Bedeutung.

Zum weiten Horizont tritt bei Anna Prohaska die künstlerisch intellektuelle Regsamkeit. Ein Liederabend darf bei ihr mehr sein als ein Liederabend, er kann zu einem ganz bewusst und durchaus raffiniert komponierten Kunstwerk werden. Das erwies etwa 2014 das bei der Deutschen Grammophon erschienene Konzeptalbum, das unter dem Titel «Behind the lines» an den Ausbruch der Ersten Weltkriegs vor hundert Jahren erinnerte. Inzwischen ist, nun bei dem innovativen französischen Label Alpha, mit «Paradise lost» ein neues Projekt dieser Art erschienen. Es gilt  dem Mythos von Adam und Eva, vom Paradies und dem Biss in den Apfel, von der Vertreibung ins irdische Leben und dessen weniger beschaulichen Seiten.

Die Dramaturgie, zu der das Booklet leider nur eine schwammige Heranführung beisteuert, geht klar von den Liedtexten aus, spart aber nicht mit musikalischen Reizen. Es fehlt nicht an selten gehörten, hinreissend schönen Stücken, auch nicht mit überraschenden Querverbindungen wie etwa zwischen dem «Irdischen Leben» aus Gustav Mahlers Zyklus «Des Knaben Wunderhorn» (1892) und der «Wind Elegy» aus den Three Early Songs (1947) von George Crumb, mit der das als CD wie im Streaming verfügbare Programm ausklingt. Wenigstens fast ausklingt, denn auf Crumb folgt nach längerer Pause und ohne eigenen Track als Encore ein Volkslied mit dem Titel «I will give my love an apple».

Den Beginn macht ein Morgen im Paradies mit drei dort lebenden Vögeln, denen Maurice Ravel im Dezember 1914 ein liebevoll einfaches und zugleich schreckliches Lied gedichtet und komponiert hat. Schrecklich darum, weil in jeder Strophe die zweite Zeile verkündet, dass sich der Freund des lyrischen Ich im Krieg befindet. Blau ist der erste Vogel, er bringt einen azurblauen Blick, weiss der zweite, der auf die weisse Stirn einen reinen Kuss setzt. Der dritte aber ist, wie es die französischen Nationalfarben verlangen, so rot wie das scharlachrote Herz des fürs Vaterland gefallenen Freundes. Eindrücklich, wie Anna Prohaska mit ihrer schlanken, klar zeichnenden Stimme den Ton dieses Kleinods trifft – geistreich begleitet von Julius Drake am Klavier, der dort, wo der Tod benannt wird, den in Halbtönen absteigenden «Passus duriusculus» heraushebt.

Noch deutlicher ins Licht treten die Verdienste des Pianisten in der ebenfalls berückenden Huldigung von Olivier Messiaen «Bonjour toi, colombe verte» von 1945. Ausführliche, farbenreiche Zwischenspiele im unverkennbaren Vogelstimmen-Duktus gliedern den Verlauf. Und Anna Prohaska zeigt hier, wie sie bei Sprüngen in die höchsten Lagen das Vibrato lange, lange hinauszögert, um es dann umso wirkungsvoller zur Geltung zu bringen – die Sängerin lebt eben auch in der alten Musik, wo das manchenorts noch als unabdingbar empfundene Dauervibrato längst ausser Kraft ist. Dann aber erwacht Eva, aufgeweckt von Gabriel Fauré mit «Paradis» aus dem Zyklus «La Chanson d’Eve» von 1910 und der süchtigmachenden Chromatik seiner Handschrift.

Doch schon ziehen Wolken auf, kommt der Apfel ins Spiel und damit das Böse. «Salamander» aus den späten Fünf Liedern op. 107 von Johannes Brahms lässt drastisch spüren, was das heisst. Julius Drake greift hier mächtig in die Tasten, und Anna Prohaska gibt zu verstehen, dass sie durchaus auch dramatisch werden kann – die Vielfalt der Töne, die sie in diesem Liederprojekt pflegt, macht staunen. Tatsächlich folgt darauf nämlich «Gib mir den Apfel», ein süsses Kinderlied von Aribert Reimann aus dem Jahre 1961: Es ist genau dieser stilistische Abwechslungsreichtum, der den Reiz des Albums ausmacht. Nach Reimann geht es denn weiter mit Benjamin Britten und seinem wütenden Lied «A Poison Tree» aus den Songs and Proverbs of William Blake von 1965 (der Zyklus wird von dem nicht mit letzter Sorgfalt gemachten Booklet verschwiegen).

So sind Adam und Eva nun draussen, ist die Verbannung vollzogen, bleibt allein die Erinnerung an goldene Tage. In «A-U», der letzten der Sechs Romanzen op. 38 (1916) von Sergej Rachmaninow, führt Anna Prohaska vor, dass sie nicht nur über Feinschliff der Lineatur verfügt, sondern auch beträchtliches Expansionsvermögen einbringen und damit weite, ziehende Sehnsuchtsbögen spannen kann. Reizend «Evening» (1921) von Charles Ives auf einen Text aus «Paradise lost» von John Milton – womit das Zentrum des Themas erreicht ist. Zart bereitet Ives die Vertriebenen auf die Nacht vor, gleich und doch ganz anders als es 250 Jahre zuvor Henry Purcell «Sleep, Adam, sleep» getan hat, und in dieser barocken Musik besticht Anna Prohaska mit phantasievollen, stilsicheren Verzierungen.

Es folgen Lieder von Franz Schubert und Robert Schumann, in denen die Partnerschaft zwischen der Sängerin und dem Pianisten besonders greifbar wird. Julius Drake macht vor, was Liedbegleitung heute heisst: bewusster Umgang mit Binnenstimmen, aktive Vorwegnahme von Motiven, eigenständiges Zu-Ende-Bringen wie im Nachspiel zum «Wilden Schiffmann» Schumanns. Und dann der Umschlag ins irdische Leben – mit zwei Beispielen aus dem «Hollywooder Liederbuch», das Hanns Eisler 1942 bis 1947 auf Texte Bertolt Brechts geschaffen hat. Ganz rau wird da die Stimme von Anna Prohaska, sie wird zur Diseuse, auch das kann sie. Und wenn sie dann herausschreit, dass für die Mittellosen das Paradies in der Hölle liege, fährt es einem förmlich durch Mark und Bein.

Eine weite Reise bietet diese gute Stunde Musik für Singstimme und Klavier. Mehr Anregung lässt sich kaum denken.

Paradise lost. Anna Prohaska (Sopran), Julius Drake (Klavier). Alpha 581 (CD, Aufnahme 2019).