Der Geist lebt – und wie

Ertragreiche Wochen beim Lucerne Festival

 

Von Peter Hagmann

 

Diesen Sommer hat es das Lucerne Festival nicht nur mit dem Paradies und seinen Äpfeln, sondern auch mit den alten Instrumenten. Genauer: mit dem Instrumentarium, wie es den Komponisten zur Zeit der Niederschrift ihrer Werke vertraut war wie mit jenen Spielweisen, die sich den überlieferten Quellen entnehmen lassen. Mit der historisch informierten Aufführungspraxis also. Beim Lucerne Festival erhielt diese Spielart der musikalischen Interpretation, heute weit verbreitet und durch einen eigenen, bedeutenden Markt vertreten, bisher vergleichsweise wenig Raum. Sie wurde vielleicht auch nicht ihrer Bedeutung gemäss geschätzt. Nach einem Auftritt des Dirigenten Philippe Herreweghe mit einem seiner Orchester habe er, so verriet der Luzerner Intendant Michael Haefliger, aus dem Publikum eine Reihe deutlich ablehnender Zuschriften erhalten.

Nun also das: gleich drei Abende im Zeichen der historischen Praxis. Und Abende, die nicht nur von der Vielfalt in dieser Art des Musizierens zeugten, sondern auch kapital neue Sichtweisen auf vermeintlich altbekannte Werke eröffneten. So war es bei der konzertanten Aufführung von «Rheingold», dem Vorabend zu Richard Wagners «Ring des Nibelungen», von der vor Wochenfrist an dieser Stelle die Rede war (vgl. «Mittwochs um zwölf» vom 30.09.23). Und so war es vor wenigen Tagen bei der Begegnung mit Joseph Haydns «Jahreszeiten», einem für seine Natürlichkeit, seine Eingängigkeit, ja seine Volkstümlichkeit geschätzten Oratorium. So berührend, so erschütternd, jedenfalls so aufregend habe ich diesen Gang vom Frühling über Sommer und Herbst in den Winter nie gehört. Ermöglicht hat es Giovanni Antonini, der Haydn-Spezialist dieser Tage, der die Erfahrungen, die er im Rahmen der Gesamtaufnahme der Sinfonien Haydns sammelte und weiterhin sammelt, auf das grossangelegte, vierteilige Vokalwerk angewandt hat.

Mit einem schockierenden Schlag hob der Übergang vom Winter zum Frühling in der orchestralen Einleitung an; der Pauker benützte dafür die Griffseite seiner Schlägel und hieb mit aller Kraft aufs Fell. Deutlicher hätte nicht markiert werden können, dass es in den nun folgenden gut zwei Stunden ernsthaft zur Sache gehen würde. Antonini setzt durchwegs auf explizites, ja zugespitztes Musizieren – im Dynamischen, in der Akzentuierung, in der Ausformung des Rhythmischen, auch in der Gestaltung der teilweise atemberaubenden Tempi; nichts gerät hier beiläufig, jeder Ton, jede Geste wird beim Wort genommen. Möglich wird das, weil das in Mailand domizilierte Orchester Il Giardino Armonico, Antoninis Gründung 1985 und seither sein Erfolgsmodell, mit Instrumenten arbeitet, die den Klang der Jahre um 1800 evozieren. Die Streicher verwenden Darmsaiten, die duftige Beweglichkeit ermöglichen, die Bläser mit ihren Instrumenten nach der Bauart jener Zeit steuern äusserst pointierte Farben bei – zumal die hochvirtuosen Naturhörner, die in der herbstlichen Jagdszene durch schallende Jagdhörner ersetzt wurden. Krass klingt das bisweilen und dann wieder flüsterzart, jederzeit aber ausdrucksvoll und packend. Dabei kommt alles aus einem einzigen Guss, die Musik scheint den Fingern des ungeheuer temperamentvoll agierenden Dirigenten zu entspringen.

Dazu kamen der aus dem polnischen Wroclaw angereiste, dort von Lionel Sow betreute NFM-Chor, der Transparenz mit Homogenität verbindet und überwältigende Klangpracht entfaltet, sowie ein hochstehendes Solistenterzett. Florian Boesch (Simon) hielt seinen opulenten Bass perfekt im Zaum; mit natürlicher Frische versah er den Landmann, der in der Frühlingssonne über sein Feld schreitet, mit Augenzwinkern berichtete er im Herbst von den auf der Lauer liegenden Jägern. Der Tenor Maximilian Schmitt (Lukas) liess anfangs noch etwas viel Vibrato hören, fand in seiner sommerlichen Cavatine, in der sich sehr konkret die Hitzewelle 2023 spiegelte, eindrucksvoll zu schaurig ermattetem Ton – spätestens da konnte jedermann bewusst werden, was uns Haydns «Jahreszeiten» bedeuten könnten. Verschmitzt und mit sorgsam eingesetztem Vibrato trug danach die Sopranistin Annett Fritsch (Hanne) die Geschichte von der jungen Bauerntochter vor, die dem Edelmann, der sie mit Geld und Schmuck um den Finger zu wickeln sucht, ein Schnippchen schlägt. Was Interpretation vermag, wie die Kunst der Verlebendigung die Gestalt eines Werks prägen kann, hier war es zu erleben.

Ähnliches gilt für den Auftritt des 1979 eingerichteten, bis heute von seinem Gründer William Christie geleiteten Ensemble Les Arts Florissants. Auch hier gelten die Prinzipien der historisch informierten Aufführungspraxis – dies aber doch in der ganz persönlichen Handschrift Christies. Der ursprünglich aus Amerika stammende, heute hochdekorierte Franzose strahlt eine auf Anhieb erkennbare Fröhlichkeit aus, er steht auch für eine elegante, geschmeidige Helligkeit des Klangs. Ausgezeichnet zu hören war das bei «The Fairy Queen», der von 1692 stammenden Semi-Opera Henry Purcells, die auf dem Konzertpodium des KKL in halbszenischer Wiedergabe dargeboten wurde. Die vielen Passacaglien, Variationen über einen gleichbleibenden Bass, die in Halbtönen absteigenden Klagelaute, der reich besetzte Basso continuo, das diskret, aber effektvoll eingesetzte Schlagwerk – all das zeugte auch an diesem Abend von der ungebrochenen Vitalität der jahrhundertealten Musik.

Zu erleben war zudem, wie im Kreis rund um William Christie nicht nur instrumental, sondern auch vokal der stilistisch adäquate Zugang gepflegt – und weitergegeben wird. Le Jardin des voix nennt sich die von Les Arts Florissants betriebene Werkstatt, in der junge Sängerinnen und Sänger ihr Handwerk in Sachen alter Musik perfektionieren können. Das ist darum sinnvoll, weil sich bei manchen Aufführungen mit alten Instrumenten die vokale Seite an der heute üblichen Ausprägung des Belcanto orientiert; Willliam Christie hielt das schon in früher Zeit anders. Bei «The Fairy Queen» war ein Ensemble von vier Sängerinnen und vier Sängern mit von der Partie – auf durchwegs respektablem Niveau. Nur war es leider nicht in ausreichendem Masse wahrzunehmen. Denn vor den Instrumentalisten im Hintergrund mischte sich unter die Vokalisten im Vordergrund eine Gruppe von Tänzerinnen und Tänzern, die das musikalische Geschehen sehr heftig und sehr lautstark begleiteten. Der Versuch zu zeigen, dass in der Semi-Opera die Musik nicht die Hauptsache, sondern Teil eines vielfältigen Ganzen darstellte, und das mit heutigen Formen der Körpersprache zu tun, mag zu ehren sein. Im Endeffekt ging er jedoch daneben, denn die von Mourad Merzouki organisierte Körperarbeit hat die zarte Musik Purcells regelrecht zertrampelt.

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Neben der alten gehört auch diesen Sommer die neue Musik zur DNA des Lucerne Festival, und das in Verbindung mit der Förderung nachrückender Generationen. Das war und ist die Aufgabe der von Michael Haefliger zusammen mit Pierre Boulez begründeten und heute von Wolfgang Rihm geleiteten Lucerne Festival Academy. Jahr für Jahr wird seit 2004 eine gute Hundertschaft an jungen Leuten, Komponistinnen, Instrumentalisten, Dirigentinnen, nach Luzern eingeladen, um dort unter kundiger Anleitung die Welt der neuen und neusten Musik zu erkunden. Den Höhepunkt des Unternehmens bildet jeweils der Auftritt des Lucerne Festival Contemporary Orchestra auf dem Podium des KKL: mit einem Programm, das es in sich hat, und mit einem Dirigenten, der auch bei neuster Musik seiner Sache sicher ist. Dieses Jahr war die Finnin Susanna Mälkki dafür auserkoren – das war die denkbar beste Wahl.

Gewiss, «Fett» für Orchester (2018/19) des Deutschen Enno Poppe, seines Zeichens «composer in residence» dieses Sommers, ist ein gewiss leicht zu durchschauendes, wenn auch vielleicht nicht leicht zu spielendes Stück. Es operiert mit klanglichen Blöcken, die sich, nun ja, bekämpfen, wie es in Gesellschaft und Politik unserer Tage die Regel geworden ist. In den Vordergrund tritt dabei eine fein austarierte Mikrotonalität, Augenblicke des Gleitens, des Rutschen, des Jaulens, was beim Zuhören nicht ungerührt lässt. Allein, in dieser Hinsicht gibt es von Poppe bessere Stücke, zum Beispiel «Salz» für Ensemble von 2005. Auch nicht gerade vom Sessel geworfen hat mich «Šu», ein einsätziges Konzert für die chinesische Mundorgel Sheng und Orchester von Unsuk Chin. Unvergessen die 2010 in Genf uraufgeführte Oper «Alice in Wonderland», mit der die Koreanerin einen unerfüllt gebliebenen Wunsch ihres Lehrers György Ligeti in die Tat umgesetzt hat. Im Vergleich dazu wirkte das Mundorgelkonzert etwas trivial – aber vielleicht war diese Wahrnehmung auch die Folge des Auftritts von Wu Wei, des Virtuosen an der Sheng. Amüsant war der, aber nicht mehr.

Mit reinem Sachbezug, untadelig ausgebildetem Handwerk und einer formidablen Präsenz auf dem Podium – damit punktete dagegen Susanna Mälkki. Die von ihr geleitete Wiedergabe von Igor Strawinskys «Sacre du printemps» geriet zu einem grossen Moment des Festivals. Mit energischer, klarer Zeichengebung, souverän in der Bewältigung der komplexen Taktwechsel, aus spürbarer Übersicht über den musikalischen Verlauf heraus führte sie das Lucerne Festival Contemporary Orchestra durch die Klippen der Partitur, und die jungen Leute gaben ihr Letztes. Nicht dass sich sagen liesse, das Orchester habe sich gut entwickelt, es wird ja jedes Jahr neu zusammengesetzt. Aber der Eindruck eines Ritts über den Bodensee, der frühere Aufführungen von Strawinskys Meisterwerk zum «Sacré Sacre» hatten werden lassen, stellte sich an dem heftig bejubelten Abend nicht ein. Im Gegenteil, es war auch hier zu beobachten, was Interpretation bewirken kann. Jedenfalls trat die rituelle Anlage des Stücks klar heraus, ohne dass der Brutalismus die Oberhand über die sehr wohl vorhandene Schönheit der Partitur gewonnen hätte.

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Herzstück und Rückgrat des Lucerne Festival bildet jedoch nach wie vor die dichte Folge an Gastspielen grosser Orchester und ihrer Dirigenten. Das ist auch richtig so; wo in aller Welt lässt sich das in dieser Weise haben? Dabei geht es keineswegs um einen sportlich getönten Wettkampf – um die Frage, welches Orchester nun besser als das andere sei oder gar das beste von allen. Äpfel können nicht gegen Birnen ausgespielt werden, jedes Orchester trägt seine durch vielerlei Faktoren bestimmte Individualität in sich. Hier im engen Zeitraum von vier Wochen Höhen und Tiefen zu erkunden, Entwicklungen zu verfolgen – das bietet Reize von nicht nachlassender Kraft. Jedenfalls für Menschen, die zuzuhören bereit sind.

Vielleicht, ich wiederhole mich, dürfte der Horizont in der Auswahl der gastierenden Klangkörper um ein Weniges erweitert werden. Dass von den Schweizer Orchestern nur das auf bemerkenswerten Pfaden wandelnde Luzerner Sinfonieorchester, nicht aber das ebenso gut aufgestellte Orchestre de la Suisse Romande auftritt, ist kaum nachzuvollziehen. Warum nicht wieder einmal die Tschechische Philharmonie, die mit Semyon Bychkov hervorragende Arbeit an Mahler leistet? Oder das Orchestre philharmonique de Radio France mit Mikko Franck? Ob das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks wieder nach Luzern kommt, wenn Simon Rattle dort sein Amt als Chefdirigent angetreten hat? Es dürfte als ausgemacht gelten.

Dass der Dirigent – über dessen Funktion wird nicht erst heute, inzwischen aber besonders kritisch nachgedacht –, dass der Dirigent die entscheidende Rolle spielt, trat in den zurückliegenden Luzerner Wochen wieder in aller Deutlichkeit heraus. Besonders beim Royal Concertgebouw Orchestra, das, seit es 2018 als Folge einer #MeToo-Affäre seinen damaligen Chefdirigenten Daniele Gatti in die Wüste geschickt hat, ohne musikalischen Leiter auszukommen hat. Ebenso geschätzt wie das Orchester aus Amsterdam ist der Dirigent Iván Fischer, zumal wenn er an der Spitze des von ihm gegründeten Budapest Festival Orchestra steht. Was das Concertgebouworkest mit Fischer am Pult diesen Sommer in Luzern bot, war freilich unter beider Seiten Niveau. Das Vorspiel zu Wagners «Meistersingern» geriet grob und pompös, ja pathetisch, während die Siebte Sinfonie Gustav Mahlers manche technische Schwäche im Zusammenspiel offenbarte – als ob der Dirigent das komplexe Stück aus dem Ärmel hätte schütteln wollen. Mehr Glück hatte Klaus Mäkelä, der 2027 die Position des Chefdirigenten beim Concertgebouworkest antreten wird. Allerdings nicht mit Mahler. Dessen Sinfonie Nr. 4 in G-dur, die der junge Finne mit dem von ihm seit 2020 geleiteten Oslo Philharmonic im KKL darbot, zeugte gerade im Finale mit der lieblichen Sopranistin Johanna Wallroth vom Paradies, liess aber wenig von jener Gebrochenheit erkennen, die das Werk Mahlers trägt. Aber Mäkelä ist ja erst siebenundzwanzig. Und die siebte Sinfonie von Jean Sibelius, bei der Mäkelä das rhapsodische Fortschreiten optimal im Griff behielt und das Orchester zu aller Pracht führte, sprach vom Potential dieses genuin wirkenden Dirigenten.

Die Zusammenarbeit zwischen einem Orchester und einem Dirigenten erfordert einen langen Atem, das ist bekannt. Wohin die Reise im besten Fall führen kann, machte der erste der beiden traditionellen Auftritte der Berliner Philharmoniker ohrenfällig. Seit 2019 steht Kirill Petrenko an deren Spitze, und nun war zu erkennen, was hier grossartig gewachsen ist. Mit Max Regers Variationen und Fuge über ein Thema von Mozart boten die Berliner ein deutliches Plädoyer für einen zu Unrecht vergessenen Komponisten. Dann allerdings «Ein Heldenleben» von Richard Strauss: ein Musterbeispiel an orchestraler Kunst wie an kluger Interpretation. Die Berliner gaben sich der gerade auch in ihrer Ironie meisterlichen Tondichtung mit ihrer ganzen Klangpalette hin (und die Konzertmeisterin Vineta Sareika-Völkner liess des Komponisten Gattin munter singen), während Petrenko das dichte Geflecht der Partitur auflichtete und wie ein zartes Spinnengewebe erscheinen liess. Nichts war da aufgesetzt, nichts süsslich, es herrschten Gelassenheit und Ruhe – und so blieb der Saal auch in den nirgends verkürzten Pausen mucksmäuschenstill. Allein, das war noch nicht das Nonplusultra, dafür sorgten das Gewandhausorchester Leipzig und der inzwischen nicht weniger als 96 Jahre alte Meister Herbert Blomstedt mit einer Auslegung von Anton Bruckners Sinfonie Nr. 7, die einen sprachlos zurückliess. Selbstverständlich lag auf des Dirigenten Pult die neue Ausgabe der Sinfonie von Paul Hawkshaw, sie blieb aber geschlossen, denn Blomstedt gab das Werk ganz aus seinem Inneren, aus einer lebenslang gewachsenen und zugleich uneingeschränkt gegenwärtigen Einfühlung heraus. Und in einer Demut vor der Grösse des Kunstwerks, die zu unbeschreiblicher interpretatorischer Eindringlichkeit führte. Da stimmte einfach, was stimmen muss. Das Gewandhausorchester stellte sich ganz nah an seinen früheren Chefdirigenten heran und wuchs über sich heraus.

Wenn der Geist über den Körper triumphiert: Herbert Blomstedt vor dem Gewandhausorchester / Bild Patrick Hürlimann, Lucerne Festival

Reiz und Sinn der Exzellenz

Lucerne Festival (2):
die Berliner Philharmoniker
zwischen Höhenflug und Diensterfüllung

 

Von Peter Hagmann

 

Nach wie vor, und trotz all der wahrhaft aufwühlenden Diskussionen um Hautfarbe und Geschlecht in der sogenannten klassischen Musik, gilt beim Lucerne Festival das Primat der Kunst. Unbarmherzig, wie der Stand der besetzten Sitze im Saal des KKL Luzern erweisen. Und unbeirrbar, was die künstlerische Qualität betrifft. Beispiel dafür war das Klavierrezital des 38-jährigen Isländers Vikingur Ólafsson: neunzig Minuten unterbrechungslose Konzentration, die das Publikum am Ende sogleich von den Sitzen aufspringen liess. Wie er es auf seiner 2021 bei der Deutsche Grammophon vorgelegten CD tat, schuf er ein klingendes Porträt Wolfgang Amadeus Mozarts in seinen späteren Jahren, dies aber nicht nur mit Werken des Komponisten, sondern auch und vor allem mit Stücken aus dessen künstlerischer Umgebung.

Namen wie die von Carl Philipp Emanuel Bach, Domenico Cimarosa, Baldassare Galuppi tauchten da auf – Namen, die nie auf Konzertprogrammen erscheinen. Und Stücke erklangen, die von auffallender Originalität waren, die gleichzeitig aber auch das Genie Mozarts nur umso deutlicher aufscheinen liessen. Und das in einem wunderbar geschlossenen, im Inneren jedoch vielfältig bewegten Bogen. Der Grund für diese Geschlossenheit lag in dem Umstand, dass das Programm streng nach den Regeln des Quintenzirkels gebaut war, dass die Werke also in verwandten Tonarten zueinandergestellt waren. Nur zweimal gab es Rückungen, anfangs einmal von a-Moll nach h-Moll, am Ende einmal von c-Moll nach h-Moll – das fuhr in dieser wohltemperierten Anordnung überraschend ein.

So erzeugte die Werkfolge nach allen Regeln der Kunst einen Bann sondergleichen – auch und gerade nach den Kriterien der Interpretation. Vikingur Ólafsson kann nicht nur unerhört schnell spielen; das kann er selbstverständlich auch. Und er kann nicht nur unerhört grossen Ton hervorbringen, auch das kann er natürlich. Noch beeindruckender ist aber sein dynamisches Spektrum im Leisen: Was kann der Mann flüstern auf dem Konzertflügel, und welche Ruhe herrscht dann im Saal – es entstehen da Momente der Introspektion, die es im Kosmos des Klavierspiels selten genug gibt. Nicht weniger hinreissend des Pianisten Vermögen, die Verläufe beim Wort zu nehmen, sie gegebenenfalls bis fast in zum Zerreissen zu dehnen und dabei dem Einzelnen nachzuhorchen, nachzuspüren. Das führte in Mozarts d-Moll-Fantasie KV 397 oder seiner Sonate in c-Moll KV 457 zu unglaublicher Vertiefung und stellte auch ein Werk wie die sattsam bekannte Sonata facile in C-dur KV 545 in ganz neues Licht. Joseph Haydns h-Moll-Sonate Hob. XVI:32 ging Ólafsson an, wie es auf einem Steinway möglich und erlaubt ist, nämlich jenseits jeder Annäherung an den Klang des Hammerklaviers. So wie es Franz Liszt in seiner Adaption des «Ave verum» aus Mozarts Requiem getan hat; zu Bergen wohlklingender Kraft erhob sich hier die Musik Mozarts, um schliesslich im Verstummen zu enden. Das ist Exzellenz, wie sie für das Lucerne Festival steht.

Das Nämliche ereignete sich einige Tage später, am ersten der beiden Gastspiele der Berliner Philharmoniker, die wie stets den Höhepunkt des Festivals darstellten. Damit verbunden war freilich einiges Pech. Kirill Petrenko, der Chefdirigent der Berliner, hatte sich am rechten Fuss verletzt, wurde erfolgreich operiert und muss sich nun im Interesse der vollständigen Wiederherstellung Schonung auferlegen. So konnte er nur eines der beiden Konzerte dirigieren. Im zweiten Auftritt glänzte Tabea Zimmermann mit einer intensiven, auch wohlklingenden Auslegung des Bratschenkonzerts von Alfred Schnittke, worauf die vierte Sinfonie Anton Bruckners erklang. Die Berliner gaben das Stück auf ihrem Niveau, am Pult stand Daniel Harding, der dazu den Takt schlug, ohne Nennenswertes zu erzielen. Harding zeigte Dinge an, die im Orchester nicht geschahen, dort wiederum geschahen Dinge, denen er beflissen folgte. Das Tutti war eine Katastrophe; weder am Schluss des Kopfsatzes noch am Ende der Sinfonie war der kennzeichnende Hornruf zu vernehmen, er ging im Getöse unter. Genug; mit Exzellenz hatte das nichts zu tun, mit Dienst allerdings schon.

Gerade umgekehrt war es bei Gustav Mahlers Sinfonie Nr. 7 am Abend zuvor, einem zerklüfteten, dementsprechend selten gespielten Stück (in Luzern stand es, wie das einmal mehr sehr informative Programmheft mitteilt, erst 85 Jahre nach seiner Prager Uraufführung von 1908 auf dem Programm). Wie es Vikingur Ólafsson gelang, band Kirilll Petrenko die fünf Viertelstunden in einen schlüssigen Verlauf, ohne die Individualität der fünf Sätze zu unterspielen oder ihre Diskontinuitäten auszuebnen. Im Gegenteil, er stellte die Schärfe der Partitur, ihre Gebrochenheit, auch ihren Zeitbezug in aller Unerbittlichkeit heraus und blieb, auf der anderen Seite, der sehrenden Melancholie und ihrer fast schon gläsernen Schönheit nichts schuldig.

Die Eröffnung des Kopfsatzes breitete gleich die grandiose Farbpalette der Berliner Philharmoniker aus. Das zweite Thema nahm Petrenko langsam, und schon da war zu hören, welche Flexibilität der Tempogestaltung er anstrebt und ihm das Orchester verwirklicht. In bewundernswerter Übersicht zog er durch den Satz, Drängen stellte sich neben das Schwelgen, scharfe Blitze fuhren in die gelöste Ruhe. Den Marsch am Ende des Satzes nahm Petrenko so schneidend, dass mit Händen zu greifen war, was der Komponist im Augenblick der Niederschrift ahnte. Darauf der Mittelteil mit den beiden Nachtmusiken und dem schattenhaft dahinhuschenden Scherzo. Grossartig in der ersten Nachtmusik das eröffnende Hornsolo und sein Echo, atmosphärisch treffend die Herdenglocken, ungeheuer die diskrete, untergründige  Spannung, die nicht zuletzt durch die explizite Körpersprache des Dirigenten erzeugt wie unterstützt wurde. Freundlicher Serenadenton und ausgefeilte Kammermusik prägten die zweite Nachtmusik, in der die Gitarre und die Mandoline, rechts aussen platziert, einmal nicht nur als Geräusch, sondern mitsamt ihren Tonhöhen zu hören waren. Dies auch darum, weil die Berliner Philharmoniker nicht nur über ein glänzendes Forte verfügen, sondern auch über eine Kultur des Leisen, deren Wurzeln im Wirken Claudio Abbados liegen. Im Rondo-Finale schliesslich brach der selbstbewusste Lärm der Jahrhundertwende von 1900 aus, freilich jederzeit kontrolliert durch vorzügliche Balance, so dass auch Nebensachen zu gebührender Wirkung kamen. Höchste Orchesterkultur und sinnreiche Imagination des Interpreten am Pult kamen da in bezwingender Weise zusammen.

Vom Orchesterfest zum Zukunftslabor?

Glanzlichter und Gefahren am Lucerne Festival

 

Von Peter Hagmann

 

Während die Salzburger Festspiele explizit den Willen zur Bewahrung ihrer künstlerischen Leitlinien verkünden (vgl. «Mittwochs um zwölf» vom 18.08.21) und damit auch in diesen schwierigen Zeiten auf hohe Resonanz stiessen, scheinen beim Lucerne Festival die Zeichen auf Wandel zu stehen. Hauptsache waren bisher die Auftritte berühmter Orchester mit bedeutenden Dirigenten, was dem Luzerner Sommerfestival sein spezifisches Profil als weltweit wichtigster Marktplatz orchestraler Kunst verlieh. Rund um diese Hauptsache ist in den gut zwanzig Jahren der Intendanz von Michael Haefliger jedoch ein reich bestückter Garten von Nebensachen entstanden. Neue Musik und die Förderung des musikalischen Nachwuchses stehen da im Vordergrund – zwei Spezialgebiete, die Michael Haefliger seit seinen Anfängen als Intendant beim Davos Festival mit besonderer Aufmerksamkeit verfolgt. Ein Jahr nach der auf eine Anregung Claudio Abbados zurückgehenden Gründung des Lucerne Festival Orchestra wurde im Sommer 2004 die Lucerne Festival Academy eröffnet, die ehedem von Pierre Boulez, heute von Wolfgang Rihm künstlerisch geleitete Meisterschule für neue Musik, deren Angebot sich an junge Musikerinnen und Musiker richtet. Parallel dazu – und neben der von Mark Sattler kompetent und phantasievoll betreuten Reihe «Moderne» mit dem «Composer in Residence» – wurden neue Konzertformate erprobt; die prominentesten unter ihnen sind die kommentierten Kurzkonzerte, die unter dem Titel «40Min» ein grosses Publikum anziehen.

Dieses Jahr nun hat dieser Garten merklich an Aufmerksamkeit gewonnen. Mit der Bestellung von Felix Heri als neuem Manager der Academy wurde auch eine neue Strukturierung des Angebots vorgenommen (und die offizielle Festivalsprache durchgehend aufs Englische umgestellt…). Neben den Orchesterkonzerten, die inzwischen «Symphony» heissen, gibt es den grossen Bereich «Contemporary» und einen Sektor «Music for Future», welch letzterer auch alle Aktivitäten der Publikumsbildung und -bindung umfasst – von den Auftritten der Jugendorchester vor dem eigentlichen Beginn des Festivals über die mittägliche Reihe «Debut» und die verschiedenen Förderpreise bis hin zu den Sitzkissenkonzerten. Die bedeutendste Veränderung besteht darin, dass es das Lucerne Festival Academy Orchestra, das sich aus den jeweils an der Akademie eingeschriebenen Mitgliedern zusammengesetzt hat, nicht mehr gibt. An seine Stelle ist das Lucerne Festival Contemporary Orchestra getreten, das sich aus dem globalen, inzwischen auf über zwölfhundert Absolventen der Akademie angewachsenen Netzwerk nährt. Netzwerkdenken führt aber auch weiter in die Programmgestaltung. Statt dem liquidierten, flugs vom Luzerner Sinfonieorchester übernommenen Klavierfestival im Herbst soll es im kommenden November eine neue, kleine Veranstaltungsreihe mit dem Titel «Lucerne Festival Forward» geben, das verschiedene innovative Ansätze verfolgt. Unter anderem soll dort keine durch eine einzelne Person verkörperte künstlerische Leitung mehr wirksam werden; stattdessen sollen die Programme aus dem Contemporary-Netzwerk heraus, in einer partizipativen, auf digitaler Kommunikation beruhenden Art entwickelt werden. Mal sehen, was daraus wird.

Im Vergleich zu diesem Energieschub sehen die Orchesterkonzerte alt aus. Und leider war es, zumindest teilweise, auch zu hören – selbst bei den Berliner Philharmonikern. Auch diesen Sommer präsentierten sie sich als ein technisch höchststehendes, klanglich unverkennbares, auch sehr selbstbewusstes Orchester. Das trat schon in Carl Maria von Webers «Oberon»-Ouvertüre heraus, nur blieb hier der gestalterische Zugriff des Chefdirigenten Kirill Petrenko noch unbestimmt, zögerlich. Schön war das, aber nicht mehr. Anders die darauffolgende Wiedergabe von Franz Schuberts «Grosser» C-Dur-Sinfonie D 944, die durchaus kontroverse Reaktionen auszulösen vermochte. Petrenko hatte sich dazu entschieden, die Wiederholungen, die gerade im dritten Satz zu den berühmten «himmlischen Längen» führen, anders als viele Dirigenten durchgehend zu berücksichtigen. Er konnte es sich erlauben, basierte seine Interpretation doch auf frischen Tempi. Schon die langsame Einleitung deutete es an, das vom Komponisten vorgegebene Alla breve war jedenfalls klar zu spüren. In subtilen Schritten erreichte Petrenko dann das Allegro des Hauptteils – und da manifestierte sich des Dirigenten Sinn für Arbeit an den Zeitmassen. Immer wieder stattete er einzelne Gesten mit kleinen Beschleunigungen oder Verzögerungen aus, so wie es zu Schuberts Zeit und noch bis hin zu den Interpreten der Spätromantik üblich war. Indes blieb es in diesem Bemühen bei Ansätzen, die nicht konstitutiv wirkten.

Vor allen Dingen aber trieb Petrenko das Finale in einen förmlichen Geschwindigkeitsrausch hinein, was zur Folge hatte, dass die kleinen Tonbewegungen des Satzes nicht mehr wahrzunehmen waren. Hier wurde auch der Klang so kompakt und massiv, dass das spezifische Kolorit Schuberts auf der Strecke blieb. Vielleicht ist die bisweilen melancholische, auch fragile Klangwelt Schuberts nicht das, was Kirill Petrenko naheliegt. So gedacht am zweiten Abend, der mit einem Feuerwerk anhob: mit dem frechen, wild himmelstürmerischen Klavierkonzert Nr. 1 in Des-Dur von Sergej Prokofjew. Was Anna Vinnitskaya da an Fingerfertigkeit und metallener Kraft, auch an Klangsinnlichkeit aufbot, war stupend – und die Berliner gingen mit, hellwach und ohne je mit der Wimper zu zucken. Er recht bei sich war Kirill Petrenko in der Sinfonischen Dichtung «Ein Sommermärchen» von Josef Suk. Beredt, schwerblütig schildert der Komponist einen Tag in seinem traurigen Leben nach dem Tod des Schwiegervaters Antonín Dvořák und jenem seiner Gattin. Er tut das in Geist und Ton der Spätromantik, wenn auch mit gelegentlichen Anklängen an modernere Strömungen, etwa den Impressionismus. Leicht zu hören ist das Werk nicht, es fügt sich nicht von selbst ins Ohr. Allein, die fabelhafte Auslegung durch die Berliner Philharmoniker und Kirill Petrenko verhalf dem Werk zu pulsierendem Leben. Die Farben in enormer Pracht entfaltet, die Bögen von weitem Atem getragen, die Verlaufskurven so griffig geformt, dass Suks Schöpfung förmlich zu erzählen begann.

Ganz und gar konkret wurden auch die Bamberger Symphoniker mit ihrem Chefdirigenten Jakub Hrůša – und das bei Musik aus den letzten sechs Jahren, nämlich im «Räsonanz»-Konzert der Ernst von Siemens-Musikstiftung. Auch dieses Orchester ist hervorragend aufgestellt, seit langem übrigens: Hrůša hat ja das erstklassige Erbe von Jonathan Nott angetreten und steht im Begriff, es in einer sehr persönlichen Weise weiterzuentwickeln. Wie wörtlich das zu verstehen ist, erwies der Abend im KKL Luzern. Wo andere Dirigenten bei neuer Musik, weil sie eben neue Musik ist, die Emphase scheuen, bringt sich Hrůša als Interpret ebenso kraftvoll ein wie bei Werken von Dvořák oder Smetana. Das in Uraufführung erklingende «Offertorium» von Iris Szeghi, Teil eines gross besetzten Requiems, offenbarte seine feinnervige Faktur in aller Subtilität – auch dank der Mitwirkung der Sopranistin Juliane Banse. Im Violinkonzert von Beat Furrer, in dem Ilja Gringolts den Solopart versah, waren die klanglichen Reize und der klare Bogen von einem leisen Beginn über einen eruptiven Mittelteil zurück zum Leisen packend herausgearbeitet. Von besonderer Haptik war jedoch das Orchesterwerk «Move 01-04» von Miroslav Srnka. Der vielbeachtete Komponist aus Prag arbeitet mit Tonschwärmen, die zeichnerisch entworfenen Modellen folgen, und bringt auf dieser Basis das in grosser Besetzung angetretene Orchester zu betörend üppigem, gleichzeitig unerhört beweglichen Klang. Die Bamberger und Hrůša waren mit vollem Einsatz bei der Sache und erspielten sich einen rauschenden Grosserfolg.

Dasselbe gilt für den ersten der beiden Auftritte der Wiener Philharmoniker. Am Pult stand diesmal Herbert Blomstedt – unverwüstlich mit seinen 94 Jahren. Und angesagt war die vierte Sinfonie Anton Bruckners. Was für ein Fest. Da stimmte einfach alles. Das Orchester schenkte dem Dirigenten, was es zu schenken vermag: den kräftigen, aber doch offenen Ton, Glanz und Strahlkraft im Lauten wie flüsternde Zartheit im Leisen, restlos stimmige Übergänge, ja überhaupt ein orchestrales Zusammenwirken vom Feinsten. In einem einzigen, unglaublich geschlossenen Bogen zogen die vier Sätze von Bruckners «Romantischer» durch Raum und Zeit, und zugleich gab es in jedem Moment zu hören, was die Partitur nahelegt. Dass die Interpretation einen Zug ins Altväterische trug, dass Herbert Blomstedt bei Bruckner nicht die Schritte tut, die er bei Beethoven wagt (vgl. «Mittwochs um zwölf» vom 19.08.20), wer wollte es ihm verdenken? Im späten 20. Jahrhundert wurden neue Zugänge zu Bruckners Musik entwickelt, wurde das Geschmeidige neben dem Parataktischen, das Fragile neben dem Festgefügten entdeckt. Mit Herbert Blomstedt kehrte ein Bruckner-Bild früherer Zeiten zurück: die Sinfonie als ein in die Weite der klanglichen Flexibilität geführtes Orgelwerk, die Musik im Zeichen gründerzeitlicher Selbstgewissheit. Das geschah allerdings in einem Geist, der in seiner Konsequenz, seiner Achtsamkeit und seiner Präzision das Signum des Einzigartigen trug. Jubel und Stehapplaus.

Gefeiert wurde auch Mirga Gražinytė-Tyla – sehr zu Recht. Im Zyklus der Sinfonien Robert Schumanns, den das Luzerner Sinfonieorchester und das Tonhalle-Orchester Zürich eröffnet hatten (vgl. «Mittwochs um zwölf» vom 01.09.21), dirigierte sie die Nr. 1 in B-Dur, die «Frühlingssinfonie», und die Nr. 2 in C-Dur. Sie tat das mit einer derartigen Energie, mit einem solchen Schwung, dass man ein Mal übers andere ins Staunen geriet. Das doch sehr unterschiedliche Klima in den beiden Sinfonien traf sie überzeugend, und die vom Klavier her gedachte, aber orchestral meisterlich ausgefächerte Faktur liess sie von innen her prachtvoll leuchten. Gewiss, nicht alles gelang. In der C-Dur-Sinfonie blieb das wunderschöne Adagio espressivo des dritten Satzes seltsam unbeteiligt. Obwohl die Dirigentin meist die Achtel schlug, wurde der Zwei-Viertel-Takt doch spürbar, nur kamen die geteilten Bratschen, die sich synkopisch zwischen die Ober- und die Unterstimme legen, nicht wirklich zur Geltung. Und die beiden grossartigen Aufschwünge in der Mitte dieses Satzes entbehrten der Spannkraft. Mag sein, dass das auch auf das Mozarteum-Orchester Salzburg zurückging, eine in jeder Hinsicht mittelmässige, schläfrig wirkende Formation, die sich auch durch den unerhörten Körpereinsatz der zierlichen Frau am Pult nicht aufrütteln liess. Warum ein solches Orchester beim Lucerne Festival auftritt, ist ein Rätsel; es dient weder der charismatischen jungen Dirigentin noch dem Festival und seinem Publikum.

Nicht nur das, es ist auch Symptom: Das Herzstück des Lucerne Festival schwächelt. Es hat an Bedeutung wie an Ausstrahlung eingebüsst; unter den «Essentials» des Festivals wird es im Generalprogramm nicht einmal erwähnt. Keine Frage, in diesen Zeiten der Pandemie mit ihren Einschränkungen und Planungsunsicherheiten ein Orchesterfest durchzuführen, ist alles andere als einfach. Das Lucerne Festival liess sich nicht unterkriegen und hat Erstaunliches zustande gebracht. Die Zeichen der Ermüdung, die merklich kontrastieren mit dem Aufbruch in anderen Bereichen des Programms, sind freilich nicht auf die Pandemie zurückzuführen, sie haben ästhetische, wenn nicht systemische Gründe. Neben den Höhepunkten, von denen hier die Rede war, gibt es einen Überhang an Immergleichem und leider auch an Gewöhnlichem. Dreimal Barenboim, zweimal mit dem Diwan-Orchester, einmal mit der Staatskapelle Berlin, das ist entschieden zu viel. Und am Pult kommen Dirigenten zu Wort, die den Betrieb aufrechterhalten, aber wenig zu sagen haben, während künstlerisch aufsehenerregende Vertreter, zumal solche jüngerer Generation, ausgeschlossen bleiben. Wo ist das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks, wo die Dresdener Staatskapelle oder das Gewandhausorchester? Und wo ist ein Dirigent wie François-Xavier Roth, der im Kölner Gürzenich hervorragende Arbeit leistet und ausserdem mit Les Siècles ein aufregendes Orchester mit Instrumenten aus der Entstehungszeit der gespielten Kompositionen betreut? Das SWR-Sinfonieorchester Stuttgart mit seinem Chefdirigenten Teodor Currentzis kommt zwar ins KKL, aber nicht im Rahmen des Lucerne Festival – warum? Und warum tritt das Concertgebouworkest nicht einmal mit Krzysztof Urbánski oder Santtu-Matias Rouvali statt mit einem der Entbehrlichen auf? Erneuerung tut not. Auf dass das Orchesterfest das bleibe, was es für das Lucerne Festival sein soll: «Das Gipfeltreffen der Besten».

Neue Horizonte

Lucerne Festival (II): Das Gastspiel der Berliner Philharmoniker

 

Von Peter Hagmann

 

Im Goldenen Dreieck der deutschen Orchesterkultur gibt es Wellenschlag. Nicht bei der Staatskapelle Dresden, die mit ihrem als Dirigent bewunderten, als Interpret jedoch umstrittenen Chef Christian Thielemann ihr ausserordentliches Niveau zu halten versteht. Aber beim Gewandhausorchester Leipzig, wo seit 2018 Andris Nelsons am Wirken ist. Der vierzigjährige Lette ist in Leipzig mit offenen Armen empfangen worden und hat mit bemerkenswerten Bruckner-Aufnahmen bei der Deutschen Grammophon (vgl. Mittwochs um zwölf vom 20.06.18) auf sich aufmerksam gemacht. Der erstmalige Auftritt des Orchesters mit seinem neuen Chef in den Konzerten des Lucerne Festival vermochte jedoch nur in Teilen zu überzeugen; Nelsons, der neben seinen Aufgaben in Leipzig auch das Boston Symphony Orchestra leitet, wirkte verkrampft, was deutlich zu hören war (vgl. NZZ vom 28.08.19). Zeichen des Aufbruchs sind freilich bei den Berliner Philharmonikern zu beobachten. Sie kamen nicht zum ersten Mal mit Kirill Petrenko nach Luzern (vgl. Republik vom 14.09.18), debütierten aber mit ihm als inzwischen voll installiertem Chefdirigenten.

Zur Sensation geriet dabei die Wiedergabe von Peter Tschaikowskys Sinfonie Nr. 5. Was einen da erwarten würde, liess schon die im Frühsommer erschienene Aufnahme von Tschaikowskys Sechster im orchestereigenen Label der Berliner Philharmoniker erahnen. Dazu kam für mich das Zurückdenken an denkwürdige Tschaikowsky-Trilogie mit «Mazeppa», «Eugen Onegin» und «Pique Dame», die Petrenko gemeinsam mit Peter Stein in den Jahren 2006 bis 2008 für die Oper von Lyon erarbeitet hat – ein Projekt, das die genuine Nähe des Dirigenten zur Musik Tschaikowskys ans Licht brachte. Genau das zeichnete auch die Luzerner Aufführung von Tschaikowskys Fünfter aus. Der Klang schien direkt aus dem Inneren Petrenkos herauszufliessen, er war von einer vibrierenden Intensität und einer glühenden Wärme erfüllt, ohne dass sich je ein Zug ins Pathetische eingestellt hätte.

Wie es sein Vorvorgänger Claudio Abbado bei dieser Musik tat, liess Petrenko dem emotionalen Fluss freien Lauf. Zugleich aber hielt er das Geschehen fest in der Hand und sorgte er für die scharfe Zeichnung der Einzelheiten. Zu Beginn des zweiten Satzes etwa fand die Einleitung der Streicher sorgfältigste Ausformung in der Dynamik, während Stefan Dohr und Andreas Ottensamer an Horn und Klarinette nicht nur überirdische Schönheit des Leisen erzeugten, sondern auch die Artikulation, die Unterscheidung zwischen dem Gebundenen und dem Gestossenen, äusserst nuanciert verwirklichten. Überhaupt schienen sich an diesem Abend die Berliner und ihr neuer Chefdirigent in denkbar vielversprechender Weise gefunden zu haben; das Orchester agiert auf ganzer Höhe, gerade auch in den Momenten der vollen Kraftentfaltung.

Und ohne Scheu präsentierte Petrenko vor dem bewegenden zweiten Teil mit Tschaikowsky das Violinkonzert von Arnold Schönberg – ein Stück, an dem man sich achtzig Jahre nach seiner Uraufführung durchaus noch die Zähne ausbeissen kann. Zumal dann, wenn eine kompromisslose Künstlerin wie Patricia Kopatchinskaja den Solopart übernimmt. Mit ihrem unerhört impetuosen Zugriff stellte die Geigerin das seine Orientierung an klassischen Modellen nicht verbergende Konzert als ein Stück avancierter Moderne dar. Unglaublich die Spannung, die sie schon nach wenigen Takten zu erzielen wusste, hinreissend die Kontraste in ihrer ersten Kadenz, zauberhaft die Flächen des Leisen am Schluss, aus  denen immer wieder Fontänen letzter Intensität herausschossen.

Gastorchester am Lucerne Festival

Zwischen Aufbruchsstimmung und Katzenjammer

 

Von Peter Hagmann

 

Vgl. www.republik.ch vom 14.09.18

Lucerne Festival (5) – Orchester und Dirigenten

 

Peter Hagmann

Was zählt, ist noch immer die Qualität

Erkundungen in Sachen Orchesterkultur

 

Ist das nun der befürchtete Scherbenhaufen? Nach der Abstimmung im Luzerner Kantonsparlament, das am 12. September, am Montag nach Abschluss der erfolgreichen Sommerausgabe des Lucerne Festival, den von der Kantonsregierung begehrten Projektierungskredit für die Salle Modulable in der Höhe von 7 Millionen Franken mit 62 gegen 51 Stimmen (bei 2 Enthaltungen und 5 Abwesenden) verworfen hat, steht diese Frage absolut im Raum. Wie wird sich die Stadt, deren Parlament sich demnächst ebenfalls zu dem Projekt äussern soll, jetzt verhalten? Was werden die Initianten dem fatalen Votum entgegensetzen? Ist das Projekt, das für die Entwicklung der darstellenden Kunst und die Ausstrahlung der Kulturstadt Luzern so einzigartige Perspektiven böte, definitiv beerdigt? Noch ist nicht aller Tage Abend, in der Politik gilt das ganz besonders. Aber der Rückschlag ist bitter.

Zumal die diesjährige Sommerausgabe des Lucerne Festival über ein ganz besonderes Profil verfügte. «PrimaDonna», das Thema dieses Jahres, das die Rolle der Frau in der klassischen Musik, insbesondere in der führenden Position am Dirigentenpult in den Blick nahm, hat Fragen aufgeworfen, die nah an den gesellschaftlichen Verhältnissen unserer Zeit stehen. Gleichzeitig, und Besseres hätte wohl nicht geschehen können, hat sich das Thema selber ausser Kraft gesetzt. Durch den bewussten Einbezug von Frauen ins sommerliche Geschehen – ein thematisch zentrierter «Erlebnistag» öffnete Dirigentinnen den Weg ans Pult, Olga Neuwirth trat als «composer in residence» in Erscheinung – wurde offenkundig, dass die klassische Musik weiter ist, als es den Anschein hat; jedenfalls betreten Frauen heute die Bühnen ohne lauten Ton, aber unmissverständlich. Bei einem ausserordentlichen Talent wie Mirga Gražinytė-Tyla, der 30jährigen Dirigentin aus Litauen, die soeben die Leitung des City of Birmingham Symphony Orchestra übernommen hat, wurde deutlich, dass es in der Tonkunst zuallererst noch immer um die Qualität, keineswegs aber um das Geschlecht geht. Die Frau, die etwas bietet, setzt sich nicht weniger durch als der entsprechende Mann.

Der Blick zurück

Dass sich die Qualität keineswegs von selbst versteht, das war bei den 28 Orchesterkonzerten, die nach wie vor das Rückgrat des Lucerne Festival bilden, mit Händen zu greifen. Als vielversprechend darf der Einstand von Riccardo Chailly an der Spitze des Lucerne Festival Orchestra gelten. Die achte Sinfonie von Gustav Mahler wurde – mit allen Einschränkungen, die das Ende des ersten Teils betreffen – zu einem Ereignis der besonderen ersten Art. Genauso die Sinfonie Nr. 8 von Anton Bruckner, die der 87jährige Bernard Haitink im zweiten Auftritt des Festivalorchesters magistral auslegte. Es geht doch nichts über alte Meister – das bestätigte Herbert Blomstedt am Pult des Leipziger Gewandhausorchesters. Knapp zwei Jahre älter als Haitink, eilte er behende zum Podium; dort stand er seine neunzig Minuten aufrecht durch – denn Blomstedt dirigierte, auswendig notabene, Bruckners Fünfte. Dabei schöpfte er aus der Fülle seiner Erfahrung, was ihm erlaubte, die Energien effizient zu bündeln und die klanglichen Gewichte optimal in Balance zu halten. Zugleich zeigte er sich ganz auf der Höhe der Zeit: stand er für eine aktuelle Sicht auf Bruckner ein – logischerweise, hat er sie doch selbst mitgestaltet hat. Schlank und durchhörbar blieb darum der Klang, zügig waren die Tempi angelegt, für Pathos blieb keine Zeit. Umzog mehr Aufmerksamkeit galt den Strukturen; trennscharf und bis weit ins Innere des Geschehens hinein erkennbar erklang etwa das Finale mit seinen ausgedehnten fugierten Teilen.

Bei Daniele Gatti, den sich das Koninklijk Concertgebouworkest Amsterdam als Chefdirigenten ans Pult geholt hat, war es gerade umgekehrt. Fast 35 Jahre jünger als Blomstedt, wirkte er als Interpret um Jahrzehnte älter als sein Kollege. Er hatte sich Bruckners Vierte vorgenommen, die lyrisch singende «Romantische», die bei ihm dick und fett, klanglich massiv und mit schwerer Emotion beladen daherkam. Unglaublich gedrosselt die Tempi. Gewiss, das Orchester wusste diese Verläufe zu tragen, da Mariss Jansons seinem Nachfolger einen Klangkörper in ausgezeichneter Verfassung hinterlassen hat, und der Dirigent verstand sie mit Spannung zu erfüllen. Dennoch wirkte Gattis Ansatz im Ganzen unangenehm mystifizierend, bisweilen führte er gar zu Anflügen von Kitsch. Dass Bruckners Musik nicht reines Gefühl verströmt, vielmehr hochgradig strukturiert ist und lebendig atmet, das haben in der jüngeren Vergangenheit Dirigenten wie Günter Wand oder Nikolaus Harnoncourt vorgeführt; Daniele Gatti scheint davon nichts zu Kenntnis nehmen zu wollen. So war nicht weiter verwunderlich, dass auch die Ouvertüre zu Carl Maria von Webers leichtfüssiger Zauberoper «Oberon» ausgesprochen zähflüssig geriet. Dem wunderbaren Concertgebouworkest könnten schwierige Jahre bevorstehen.

Das dürfte auch für die Münchner Philharmoniker gelten, die sich für Valery Gergiev als neuen Chefdirigenten entschieden und sich damit im Vorfeld des Amtsantritts erhebliche Turbulenzen eingehandelt haben. Sie sind – das ist nun mal so Sitte und macht eine der Besonderheiten des Luzerner Festivals aus – in dieser neuen Konstellation gleich ins KKL gekommen und haben dort denkbar unglückliche Figur gemacht. Das Orchester erschien als mau und klang unidentifiziert, ohne Persönlichkeit und Ausstrahlung – in der Luzerner Konkurrenzsituation nicht gerade von Vorteil. Allerdings war das auch kein Wunder angesichts eines Programms, das mit Auszügen aus «Romeo und Julia» von Sergej Prokofjew, mit der Fantasie über «Die Frau ohne Schatten» und der Tondichtung «Don Juan» von Richard Strauss sowie dem «Poème de l’extase» von Alexander Skrjabin lauter Reisser enthielt. Valery Gergiev, der wieder mit seinem Zahnstocher in der Hand agierte und genialisch in die Musik hineinbrüllte, gelang es nicht, den vier Werken je eigenes interpretatorisches Profil zu schaffen, es klang alles ähnlich laut und schwarzweiss. Wenn im «Poème de l’extase» die Wellenbewegungen den Zuhörer nicht mitreissen, wenn im «Don Juan» kein jugendfrischer Enthusiasmus aufschiesst, dann stimmt etwas nicht. Auffallend mässiger Beifall und betretene Gesichter.

Auch nicht gerade prickelnd geriet der Auftritt des Cleveland Orchestra, mit dem es in den nächsten vielleicht einmal eine Pause geben könnte. Seinem langjährigen Chefdirigenten Franz Welser-Möst ist es gelungen, die «Musik für Saiteninstrumente, Schlagzeug und Celesta» trotz korrekter Aufstellung des Orchesters mit dem Klavier in der Mitte (und einer fulminanten Pianistin) so spannungsarm und farblos erscheinen zu lassen, dass die Köpfe bald nach vorne fielen. Beethovens «Eroica» lud er dafür derart auf, dass die Wände wackelten, denn das Orchester war stark besetzt und klanglich auf  mächtige Kompaktheit getrimmt. Das erlaubte dem Dirigenten, in der Wahl der Tempi den Wünschen des Komponisten zu folgen, was neueren Erkenntnissen entspricht; die Wiederholung der Exposition liess er nach alter Väter Sitte dann aber wieder aus. Laut, aber unerhört klangschön fuhren auch die Berliner Philharmoniker ein; fast hatte es den Anschein, als habe sich Simon Rattle mehr von der Pracht des Orchesters verführen zu lassen, als dass er sie gestaltet hätte. Bei den acht Slawischen Tänzen von Antonín Dvořák wurde das zum Problem. So verdienstvoll die Idee war, sie einmal nicht als Zugaben zu verwenden, sondern sie als Sammlung in ihrer Gesamtheit erklingen zu lassen, so rasch verflog der Reiz, weil sich die einzelnen Stücke – auch und gerade in der orchestralen Ausführung – zu ähnlich waren. Und die Sinfonie Nr. 2 von Johannes Brahms, das lichte, sommerliche Werk in D-dur, fand an diesem Abend der Berliner einen Ton, dessen unerhörte Kompaktheit der Partitur doch merklich widersprach.

Ein Debüt

Unter dem Strich sorgten diesen Sommer die etablierten Grössen weder für An- noch für Aufregung. Besorgniserregend ist das noch nicht, es bildet eher den courant normal ab, der beim Lucerne Festival (und nur dort in dieser Breite wie dieser Dichte) sehr genau beobachtet und bemessen werden kann. Für Aufsehen ausserhalb des Gewohnten sorgte ein Newcomer. Es war der Russe Kirill Petrenko, der in absehbarer Zukunft als Chefdirigent der Berliner Philharmoniker nach Luzern kommen wird. Sein Luzerner Debüt absolvierte er aber noch mit dem Bayerischen Staatsorchester München, dem Orchester der Bayerischen Staatsoper, bei der er als Generalmusikdirektor zum Rechten schaut – und er schuf eine Sensation, wie sie vor zwei Jahren dem Schweizer Philippe Jordan und dem von ihm geleiteten Orchester der Oper Paris gelungen ist. Welch glühende Verbindung zwischen Orchester und Dirigent, welch feuriges Musizieren auf der Stuhlkante – und was für ein Effekt beim jubelnden Publikum. Das Vorspiel zum ersten Aufzug von Wagners «Meistersingern» feingliedrig und äusserst ziseliert, die Vier letzten Lieder von Richard Strauss mit Diana Damrau in einer Innigkeit sondergleichen – und zum Abschluss doch tatsächlich dessen «Sinfonia domestica», das nicht gerade von ironischer Distanz lebende Selbstporträt des jungen Komponisten als Hausvater mit zickiger Gattin und süssem Kleinkind. Nur wer diese überladene Partitur bis ins Innerste zu zügeln vermag und sie dennoch wie ein Feuerwerk explodieren lassen kann, darf es wagen, sie aufs Programm zu setzen. Kirill Petrenko ist es gelungen – ein Sieg der Qualität.