Das Don-Giovanni-Prinzip

Mozarts Oper als hinreissendes Gesamtkunstwerk bei den Salzburger Festspielen

 

Von Peter Hagmann

 

Die Friedhofs-Szene im Salzburger «Don Giovanni». Links am Rand Davide Luciano als Don Giovanni (Bild Monika Rittershaus / Salzburger Festspiele)

Los geht es, bevor es losgeht. Vor dem schwarzen d-Moll der Ouvertüre wird ein frisch renovierter, hochweiss gehaltener Kirchenraum seiner Attribute entledigt und zur neutralen Spielweise gemacht, so will es Romeo Castellucci, der «Don Giovanni» für die Salzburger Festspiele dieses Sommers auf die weite Bühne des Grossen Festspielhauses gebracht hat. Bei dem italienischen Theaterkünstler, einem phantasievoll assoziierenden Denker, der die Bühne als Ganzes in der Hand hat – bei Castellucci ist der Titelheld nicht ein Mann mit besonderem Fluidum, nicht einmal ein Mensch, er verkörpert vielmehr ein Prinzip. Begehren heisst es. Wirken kann es nur, solange es unerfüllt bleibt. Wenn es aber zur Wirkung kommt, kann es, wie «Don Giovanni» in der Lesart Castelluccis zeigt, durchaus an die Fundamente gehen. Kann ein heiliger Raum seine Funktion verlieren, kann eine Gesellschaft, wie es das erste Finale mit seinem musikalischen Durcheinander erleben lässt, in totalem Chaos versinken, kann selbst die Zeit versteinern. So führt es das Ende der Oper vor, wo sich Don Giovanni die Kleider vom Leibe reisst, sich splitternackt in weisser Farbe wälzt und zu einem jener Gipsabgüsse wird, wie sie aus den Hohlräumen gewonnen wurden, welche die Opfer des Vulkanausbruchs von Pompeji kurz nach der christlichen Zeitenwende hinterlassen haben.

Seine Wurzel hat das Begehren im Narzissmus. Der Salzburger «Don Giovanni» von 2021 zeigt denn auch wenig Aktion und schon gar keine Interaktion. Die Figuren stehen als Chiffren da, die das Zentralgestirn Don Giovanni umkreisen. Ein makellos funktionierendes Räderwerk wird da sichtbar gemacht – in einem klinischen Weiss, das durch subtile, in ihrer Weise sprechende Farbakzente gegliedert wird. Und das durch die ruhige, kongenial auf die Grösse der Bühne reagierende Choreographie von Cindy Van Acker belebt wird. Tatsächlich erhält der szenische Raum seine Modellierung durch einen Bewegungschor, durch Tänzerinnen, vor allem aber durch eine gute Hundertschaft an Frauen aus Salzburg, die vielleicht, möglicherweise, alle ihrem Don Giovanni begegnet sind. Darüber hinaus fehlt es nicht an szenischen Metaphern, die auch gezielt mit Effekt eingesetzt werden. Bevor Leporello – Vito Priante tut das ebenso vornehm wie gekonnt – davon singt, wie genug er von seiner Funktion als Schildwache bei den Abenteuern seines Arbeitgebers hat, fällt eine luxuriöse Limousine mit Getöse aus dem Schnürboden auf die Bühne. Später folgen ihr der zerbeulte Rollstuhl des Commendatore (Mika Kares gibt ihn mit enorm klangvollem Bass) und ein veritabler Flügel, auf dessen Bruchstücken sich Don Giovanni bisweilen selbst begleitet.

Bildertheater ist das. Ganz von ferne erinnert es an die szenische Handschrift Robert Wilsons, aber auch ihr Gegenteil, an die rein illustrierende Bühnentradition italienischer Provenienz. In seiner Abstraktheit, in die scharf konturierte szenische Zeichen einfahren, schafft das Gesamtkunstwerk Romeo Castelluccis Raum für das Mitdenken des Zuschauers, der Zuschauerin. Zugleich aber auch jenes freie Feld, auf dem sich die musikalische Ebene zu entfalten vermag. Sie tut das in einer Intensität und einer Schönheit ganz eigener Art – denn am Pult von musicAeterna und einem durchwegs erstklassig besetzten Ensemble steht Teodor Currentzis, der hier in Salzburg auf den Punkt bringt, was er 2016 mit einer CD-Aufnahme von «Don Giovanni» angelegt und was er 2019 beim Lucerne Festival in der unvergesslichen halbszenischen Aufführung weiterentwickelt hat. Dass der Dirigent in der dritten von insgesamt sechs Vorstellungen am Schluss einige Buhrufe einstecken musste, lässt erahnen, dass die neuen Wege, welche die Mozart-Interpretation in jüngerer Zeit eingeschlagen hat, beim Salzburger Publikum noch nicht angekommen sind. Das ist verständlich, denn wenn es bei Currentzis mit etwas gründlich vorbei ist, dann ist es der apollinisch gelöste Mozart-Ton Karl Böhms.

Currentzis geht kompromisslos zur Sache. Das Orchester ist klein besetzt, klingt jedoch in keinem Moment zu leise oder gar entfernt. Für die unerhörte Präsenz des Musikalischen sorgt der enorm animierende Zugriff des Dirigenten, der seinen Mitstreitern im Graben wie auf der Bühne ein Höchstmass an Expressivität entlockt. Und zwar im Leisen wie im Lauten, im Impulsiven wie im Zärtlichen. Überdies geschieht das ganz selbstverständlich auf der Basis der Erkenntnisse der historisch informierten Aufführungspraxis, die weitherum längst approbiert sind, im grossen Business aber nur zögerlich angenommen werden. So wird hier mit reicher Imagination und durchwegs dem Sprachverlauf entlang phrasiert. Wird nicht auf das Legato als oberstes Prinzip gesetzt, sondern vielgestaltig zwischen Gebundenem und Gestossenem unterschieden. Und wird das Vibrato – nicht von allen Sängerinnen und Sängern, aber von vielen – bewusst als Verzierung verstanden, nicht als Grundlage des sogenannt schönen Tons. Vor allem wird, wenigstens scheint es so, nach Massen extemporiert, werden die wiederholten Teile in den Da-capo-Arien virtuos verziert und die Kadenzen lustvoll ausgekostet. Hervorstechend, wie schon in Luzern, das von der grandiosen Maria Shabashova am Hammerklavier angeführte Continuo, das auch für so manche Überraschung gut ist. Nicht zu vergessen die frischen, wohlgeformt aufeinander bezogenen Tempi und die knackigen Rhythmen. So beginnt die herrliche Musik Mozarts zu sprechen, nimmt sie in ihrer klanglichen Verlebendigung neue Horizonte in den Blick und vermag sie in ungewöhnlicher Intensität zu berühren. Wer Ohren hat zu hören, verlässt den Abend tief bewegt.

Die Friedhofs-Szene gegen Ende des zweiten Akts zum Beispiel. Da verzichtet Romeo Castellucci, wie er es an mancher Stelle des Werks tut, auf das Hergebrachte, auf die Grabmale und die nickende Statue, er zeigt den Friedhof durch ein Tableau an, in dem die schwarz verhüllten Frauen der Bewegungschöre streng geordnete Rechtecke bilden, und überlässt den Raum der Musik. In diesem Augenblick steuern erst das Continuo und später die Stimmführer des Orchesters einen Ausschnitt aus dem Dissonanzen-Quartett Mozarts bei – und schon ist die Atmosphäre da, kann das Finale eingeleitet werden. Das macht staunen. In gleichem Masse übrigens, wie die Kunst von Nadezhda Pavlova bewundert werden kann, die in Salzburg wie damals in Luzern die Donna Anna gibt: als eine grosse Heroin, wenn auch ohne aufgesetztes Pathos. Blendend beherrscht sie die Partie, mit perlenden Läufen, mit perfekter Intonation auch im geraden Ton, mit einem sagenhaften Appell ans Publikum bis hin zu einem expressionistisch zugespitzten Schrei in dem Moment, da sie Don Giovanni als Mörder ihres Vaters erkennt. Angeführt vom Dirigenten, der die Verbindung zwischen dem Vokalen und dem Instrumentalen ebenso emphatisch besorgt wie im Luzerner Konzertsaal, steht das Orchester mit seiner geradezu solistischen Transparenz der Sängerin mit vitaler Zugewandtheit zur Seite.

Erstaunlich auch Michael Spyres. Natürlich erscheint sein Don Ottavio auch hier als der Vertreter der alten, ständischen Ordnung, der sich, letztlich handlungsunfähig, in seine Phantasiewelt verzieht, aber das Weichei, als das er in mancher Produktion von «Don Giovanni» auftritt, ist er nicht. Den grossen Tonumfang der Partie bewältigt er mühelos, jedenfalls besser als die Koloraturen; und wie er seinem Timbre auch heldischen Glanz beizumischen vermag, stellt einen echten Gewinn dar. Als Donna Elvira bringt Federica Lombardi Betroffenheit, aber auch etwas viel Vibrato auf die Bühne. Und alles andere als im Abseits der Nebenrollen der selbstbewusste Masetto von David Steffens und die keineswegs soubrettenhafte, schön konturierte Zerlina von Anna Lucia Richter. Davide Luciano schliesslich als Don Giovanni: ein Energiebündel sondergleichen. Glanz und Metall in der Stimme, Virilität und Agilität im körperlichen Ausdruck lassen keine Wünsche offen. Die Champagnerarie gelingt fabelhaft, auch weil das Orchester hochgefahren und durch Blitzlichtgewitter aus dem Club illuminiert wird. Noch eindrücklicher aber die Verführung Zerlinas, die von hingebungsvoller Zartheit lebt. Dass der Zerlina ein bühnennacktes Double assistiert, das die Beine streckt und anzieht, hat seine Logik, singt die junge Bäuerin doch deutlich genug von ihrem Dilemma – Romeo Castellucci lässt es ebenso unzweideutig wie diskret sehen.

Musik als Theater

Lucerne Festival IV: Mozarts Da Ponte-Zyklus mit Currentzis

 

Von Peter Hagmann

 

Christina Gansch (Zerlina) mit dem Solo-Cellisten von MusicAeterna und Ruben Drole (Masetto) in Mozarts «Don Giovanni» / Bild Peter Fischli, Lucerne Festival

Das Lucerne Festival als ein Ort der Oper? Gewiss – wenn auch nicht so, wie es für die Salzburger Festspiele gilt, wo als Schwerpunkt des Programms vier bis fünf Neuinszenierungen herausgebracht und in einer Mischung zwischen Stagione- und Repertoirebetrieb über Wochen hinweg gezeigt werden. In Luzern dagegen liegt der Akzent nach wie vor bei dem einzigartigen Gipfeltreffen der grossen Orchester der Welt, doch haben unter der Leitung von Michael Haefliger andere Schauplätze an Gewicht erhalten. Zum Beispiel die neue Musik mit der von Mark Sattler betreuten Reihe «Moderne» und der Lucerne Festival Academy, die mit Wolfgang Rihm über eine prominente Galionsfigur verfügt, die im Bereich der Interpretation seit dem abrupten (und bis heute unerklärten) Abgang des Dirigenten und Komponisten Matthias Pintscher jedoch eine spürbare Vakanz aufweist. Einen anderen Schauplatz dieser Art stellt das Musiktheater dar. Seit Haefligers Amtsantritt 1999 findet in Luzern Jahr für Jahr auch Oper statt. Nicht als konventionelle Inszenierung auf der Guckkastenbühne, sondern in den verschiedensten Formen konzertanter und halbszenischer Darbietung. Das mag als Notlösung erscheinen in einem Raum wie dem Konzertsaal im KKL, der sich nicht wirklich zur Bühne umbauen lässt, ist aber weit mehr als das (vgl. dazu NZZ vom 20.07.19).

Oper ohne Bühne

Oper am Lucerne Festival stellt vielmehr den kontinuierlich und phantasievoll vorangetriebenen Versuch dar, dem Musiktheater andere Formen der Existenz zu erschliessen – Formen jenseits des Szenischen. Sie verzichten auf Bühnenbild und Kostüm, auf Bebilderung und optisch wahrnehmbare Interpretation, sie fokussieren auf das rein Musikalische. Dabei tritt zutage, dass der Verzicht auf das Gesamtheitliche von Wort, Musik, Bild und Körpersprache nur auf den ersten Blick einen Verlust mit sich bringt. Bei näherem Zusehen erweist sich nämlich, in welch hohem Mass das Theatrale der Oper allein in der vom Text getragenen Musik lebt. Eine Darbietung, die das Szenische nur andeutet, das Musikalische dafür schärft und in den Vordergrund stellt, führt – so paradox das erscheinen mag – näher an den Gehalt des Kunstwerks heran.

Das hat sich in den konzertanten oder halbszenischen Opernaufführungen beim Lucerne Festival vielfach bestätigt – nicht zuletzt bei der epochalen Wiedergabe von Richard Wagners «Ring des Nibelungen» unter der Leitung von Jonathan Nott im Sommer 2013 oder bei der unvergesslichen Monteverdi-Trilogie mit John Eliot Gardiner von 2017. In dem von Teodor Currentzis geleiteten Zyklus der drei Opern, die Wolfgang Amadeus Mozart und sein Textdichter Lorenzo Da Ponte in den Jahren rund um die Französische Revolution geschaffen haben, ist es erneut und in überwältigender Weise zur Geltung gekommen. Ein fulminanter Schlusspunkt und eine denkbar starke Konkretisierung des Leitgedankens «Macht», unter dem das Luzerner Festival diesen Sommer stand.

Halbszenisch in unterschiedlicher Schattierung

Natürlich gab es an diesen drei restlos ausverkauften Abenden im KKL auch etwas zu sehen – und dies in durchaus unterschiedlichem Mass. Bei «Le nozze di Figaro» – die drei Opern wurden in der Reihenfolge ihrer Entstehung aufgeführt – lag der optische Akzent auf den Kostümen, die diskret, aber unmissverständlich die gesellschaftliche Schichtung und den Verlauf des Geschehen unterstrichen. Der Graf im Smoking, sein Figaro in grobem Tuch – so weit, so klar. Anders die Gräfin und ihre Kammerdienerin Susanna, die als heimlich Verbündete Kleid und Jupe in ähnlicher Farbe trugen, sich mehr noch durch ihre Schuhe unterschieden, die hier hohe, dort tiefe Absätze aufwiesen – was in der Verkleidungsszene zu einem fast unmerklichen Rollentausch genutzt werden konnte.

Bei «Don Giovanni» fehlten solche Elemente. Der Herr und der Diener trugen beide Smoking, eine Art Konzertkleidung, Don Giovanni allerdings einen mit rotem Innenfutter und mit ebenfalls rotem Einstecktuch – dies als Hinweis auf jene gesellschaftlichen Unterschiede, die durch Leporello entschieden relativiert werden. Beim nächtlichen Mittelstück der Trilogie wurde dafür mehr mit Lichtwirkungen gearbeitet – bis hin zu jener vollständigen Dunkelheit, in welcher der Auftritt des Dirigenten erfolgte. Der steinerne Komtur im weissen Dinner Jacket vor den leer gelassenen Sitzreihen der Orgelempore verfehlte seine Wirkung nicht.

«Così fan tutte» schliesslich erschien am stärksten den Konventionen verpflichtet. Dort wurde gestisch doch ziemlich auf den Putz gehauen und durften für die beiden Verkleidungsszenen, für die Auftritte Despinas als Doktor und als Notar, weder das Erste-Hilfe-Köfferchen noch das allgemeine Zittern, weder der Talar noch das näselnde Singen fehlen – leider, muss man sagen. An allen drei Abenden aber nutzten die Regisseurin Nina Vorobyova, die Kostümbildnerin Svetlana Grischenkova und der Lichtdesigner Alexey Koroshev, die sich dem Publikum nicht zeigten, den engen Raum zwischen dem Orchester und dem Podiumsrand geschickt aus. Und sorgten in allen drei komischen Opern für erheiternde Momente – etwa dort, wo Figaro als scheinbar verspäteter Konzertbesucher bei schon laufender Ouvertüre seinen Platz sucht, um dann singend das Podium zu erklimmen.

Historische Praxis 3.0

Wie in all den Luzerner Opernabenden halbszenischer Art blieb mächtig Raum für die Musik, für ihre hochgradig intensivierte Darbietung und ihre dementsprechend gesteigerte Wahrnehmung. Teodor Currentzis, kompromisslos und umstritten, war hier genau der Richtige. Seine Prämisse ist unüberhörbar die historisch informierte Aufführungspraxis, wie sie durch Nikolaus Harnoncourt vor einem guten halben Jahrhundert neu angestossen worden und wie sie heute, beträchtlich weiterentwickelt, so etwas wie Allgemeingut geworden ist. Anders als bei Mozarts «Idomeneo» an den Salzburger Festspielen dieses Jahres (vgl. «Mittwochs um zwölf» vom 14.08.19), bei dem das Freiburger Barockorchester einen sagenhaften Auftritt hatte, stand Currentzis in Luzern vor Chor und Orchester der von ihm begründeten, inzwischen nicht mehr mit der Oper Perm verbundenen, sondern selbständigen, privat finanzierten Formation MusicAeterna.

Mit seinen 33 Mitgliedern verbreitet der Chor dank klar zeichnender, nicht durch übermässiges Vibrato beeinträchtigter Linienführung bemerkenswerte Leuchtkraft. Das klein besetzte Orchester wiederum verwendet auf dem tiefen Stimmton von 430 Hertz Instrumente nach der Art des ausgehenden 18. Jahrhunderts und die dazu gehörigen Spielweisen: Streicher mit Darmsaiten (aber nicht Barockbögen), Bläser in enger Mensur und ohne die heute üblichen Ventile, Pauken mit reinen Holzschlägeln. Was die historisch informierte Aufführungspraxis hervorgebracht hat, versteht sich hier von selbst und gilt als Basis. Die Streicher spielen nicht immer, aber in der Regel ohne Vibrato, was die Dissonanzen schärft und deren Auflösung in die Konsonanz stärker als gewöhnlich empfinden lässt. Ebenso hörbar wird die Belebung, die von der nuancierten Artikulation und der kleinteiligen, klar am Sprachverlauf orientierten Phrasierung ausgeht. Das alles auf technisch höchstem Niveau: Was dieses Orchester an Agilität und Präzision im hochgetriebenen Prestissimo zu leisten vermag, lässt immer wieder staunen.

Es erlaubt Teodor Currentzis, dem Akrobaten auf dem Dirigentenpodium, den musikalischen Ausdruck ganz unerhört zuzuspitzen: im Leisen wie im Lauten, im Schnellen wie im Langsamen. Er gehört damit zu den (mehr oder weniger) Jungen Wilden der klassischen Musik, wie sie von der Geigerin Patricia Kopatchinskaja prominent vertreten werden. Mit seiner zum Teil erschreckend harschen Attacke, dem reinen Gegenteil der apollinischen Verklärung Mozarts in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg, schliesst Currentzis durchaus an Harnoncourt an. Zugleich nutzt er aber auch die vielen Freiheiten, die noch von Harnoncourt selbst, besonders aber von seinen Nachfolgern entdeckt und verbreitet wurden. Die Tempi werden nicht einfach im Gleichschlag durchgezogen, sondern vielmehr reichaltig und ganz dem expressiven Moment entsprechend nuanciert – was durchaus neueren Erkenntnissen der Interpretationsforschung entspricht. Und wie es René Jacobs tut, setzt Currentzis auf einen sehr vitalen, sehr präsenten Basso continuo – nicht nur in den Rezitativen, sondern überall. Was Marija Shabashova am Hammerklavier mit ihren witzigen Anspielungen, was der Lautenist Israel Golani und der Cellist Alexander Prozorov in Luzern hören liessen, war von hohem Reiz.

Dazu kommt, dass in der Mozart-Da Ponte-Trilogie des Lucerne Festival nicht nur das Instrumentale, sondern auch das Vokale dem aktuellen Stand des Wissen entsprach – nicht bei allen Mitgliedern der drei Ensembles, aber doch bei vielen. Dass bei zwei gleich hoch liegenden Tönen Appogiaturen gemacht, dass in wiederholten Teilen Verzierungen angebracht und unter den grossen Fermaten Kadenzen eingefügt werden können, war ebenso selbstverständlich wie das unterschiedlich gestaltete Vibrato und die vokale Formung aus dem Text heraus, also mit Hebung und Senkung sprechend und nicht, wie zu Karajans und Böhms Zeiten, auf die weit gespannte Linie und das durchgehende Legato hin ausgerichtet. Mit einigen Sängerinnen und Sängern scheint Currentzis intensiv gearbeitet zu haben, andere animierte er durch seine ungewöhnliche, durchaus gewöhnungsbedürftige körperliche Präsenz auf dem Podium. Wie überhaupt durch jene Nähe zwischen den Akteuren, die der Konzertsaal bietet, eine Verzahnung von Vokalem und Instrumentalem entstand, wie sie selten genug zu erleben ist.

Glanzpunkte, Schwachstellen

Der langen Vorrede kurzer Sinn: Die drei Luzerner Abende mit Mozart und Da Ponte waren ein hinreissendes Erlebnis. Sie zeigten, dass Oper auch jenseits der Bühne Oper sein kann. Und wie Musik allein zu Theater werden kann – dann nämlich, wenn das Ausdruckspotential der Partituren so explizit genutzt wird, wie es Teodor Currentzis tat. Vor allem aber waren die Darbietungen von glanzvollen vokalen Leistungen getragen; sie liessen nicht zuletzt erkennen, wie sehr die drei unerhört aufmüpfigen Opern Mozarts in ein und dieselbe Richtung weisen und wie individuelle Züge sie zugleich tragen. Im «Figaro» von 1786, dessen Ouvertüre nicht elegant tänzelnd, sondern vorrevolutionär rasselnd erklang, gab es neben dem souveränen, wenn auch etwas routinierten Figaro von Alex Esposito die herrlich schillernde Susanna von Olga Kulchynska sowie neben dem etwas unverbindlichen Grafen von Andrei Bondarenko die sehr innige, in ihrer Weise ehrliche Gräfin von Ekaterina Scherbachenko mit ihrem üppigen Vibrato und ihrem reichen Portamento. Vor allem kamen in diesem Stück die kleineren Rollen ans Licht: der Cherubino von Paula Murrihy und die zarte Barbarina von Fanie Antonelou, die auf der CD-Einspielung mit Currentzis die Susanna singt. Schade nur, dass hier die Übertitel pauschal blieben – zu pauschal für eine Interpretation, die so ausgeprägt aus dem Text hervorwuchs.

Auch in dem nächtlichen «Don Giovanni» von 1787 traten zwei Partien heraus, die gewöhnlich etwas im Schatten bleiben. In der Stimme quirlig, aber auf Distanz zum Soubrettenton, und in der Körpersprache geschmeidig, bot Christina Gansch einen sehr differenzierten Blick auf die junge Bäuerin Zerlina, im Geist eine Schwester der Susanna. Als ein besonders starrköpfiger Masetto hatte Ruben Drole einen prächtigen Auftritt; sein kraftvoller Bass liess das Vorhaben Masettos, den ihn bedrängenden Lüstling um die Ecke zu bringen, als durchaus glaubhaft erscheinen. Auffallend, dass Kyle Ketelsen als aufbegehrender Diener Leporello ähnlich unscharfes Profil gewann wie Figaro am Abend zuvor. Umso ansprechender dafür Dimitris Tiliakos als ein nicht mit metallener Virilität agierender, sondern ausgesprochen lyrisch angelegter Don Giovanni. In «La ci darem la mano» liess er gegenüber Zerlina seine ganzen Verführungskünste spielen, während die Champagner-Arie erwartungsgemäss überschäumend geriet. Vor allem aber schlug hier die Stunde von Nadezhda Pavlova, die mit ihrer grossartigen Singkunst die Figur der Donna Anna zu einem geradezu expressionistisch zugespitzten Charakter machte. Witzig, dass die Oper, wie es Mozart für die Wiener Zweitaufführung von 1788 vorgesehen hatte, mit dem Untergang des Protagonisten zu enden schien, was verunsicherten Beifall auslöste – dass das finale Sextett dann aber doch noch nachgereicht wurde, freilich als Oktett unter tatkräftiger Mitwirkung der beiden Toten.

Weniger überzeugend «Così fan tutte» von Anfang 1790. Zum einen der halbszenischen Einrichtung wegen, die doch etwas grobkörnig geraten war. Zum anderen darum, weil Cecilia Bartoli in der Partie der Despina als Star vorgeführt wurde und sich auch so gab – beides wollte nicht so recht ins Konzept passen. Zumal ihr halsbrecherisches Parlando nach wie vor stupend wirkte, die stimmliche Kontrolle an diesem Abend aber nicht restlos gegeben war. Auch nicht ganz auf der Höhe Konstantin Wolff als Don Alfonso; der philosophierende Strippenzieher war hier ein junger Mensch wie seine vier Opfer, er litt unter einem etwas bedeckten Timbre und blieb gerne auf den Schlusssilben sitzen, was im Umfeld dieser Produktion besonders als altmodisch auffiel. Neben Paul Murrihy (Dorabella), die das im «Figaro» erreichte Niveau würdig hielt, fiel noch einmal Nadezhda Pavlova auf, die als Fiordiligi fabelhafte Sicherheit in den Sprüngen, wunderschöne Rubato-Kunst, spannende Verzierungen und grandiose Koloraturen zum Besten gab. Und von dem etwas röhrenden Guglielmo von Konstantin Suchkov hob sich der Ferrando von Mingjie Lei angenehm ab; seine Arie «Un’ aura amorosa» aus dem ersten Akt geriet zu einem Meisterstück vokal-instrumentalen Konzertierens.

Eine gewaltige Reise war das, eine von erschöpfender Kraft und nachhaltiger Denkwürdigkeit. Einmal mehr erwies sich, dass das Lucerne Festival auch für Anhänger des Musiktheaters eine Destination sein kann.