Festival Alte Musik Zürich

 

Peter Hagmann

Neue Alte Musik

«Trauer und Trost» – in Klängen aus dem 16. Jahrhundert

 

Vor Mozart, vor Bach, selbst vor Monteverdi gab es schon kunstvoll gemachte Musik: alte Musik eben oder, wenn man will, Alte Musik (wobei ja schon Bach zur alten Musik gerechnet wird). Seit dem zweiten Aufbruch, an dessen Dynamik Nikolaus Harnoncourt entscheidenden Anteil hatte, also seit ungefähr 1950, hat sich diese alte Musik ein ungeheuer weites Feld geschaffen. Von den pionierhaften Anfängen, die an den schmalen Fluss kurz nach der Quelle erinnern, ist sie zu einem breiten Strom geworden; sie hat sich ihren eigenen Markt geschaffen mit spezialisierten Interpreten, CD-Labels, Festivals und, nicht zuletzt, einem gewaltig gewachsenen Publikum. Jedenfalls ausserhalb der musikalischen Weltstadt Zürich.

In der Stadt Zwinglis stösst alte Musik auf vergleichsweise geringe Beachtung. Während in den Anlässen der «Resonanzen», des gut einwöchigen Festivals im Wiener Konzerthaus, die Säle zum Bersten voll sind und die Interpreten so gefeiert werden wie andernorts die Pavarottis und die Domingos, findet sich zu den Konzerten des Forums Alte Musik Zürich ein seinerseits spezialisiertes, spürbar engagiertes, aber zahlenmässig ernüchternd kleines Publikum ein – ganz ähnlich wie dort, wo die Tonkunst unserer Tage im Zentrum steht. Es geht halt nichts über den guten Brahms. Und was man nicht kennt, mag man eben nicht.

Phantasievolle Programme für Spitzeninterpreten

Das ist nun allerdings ein Fehler. Denn was das von der Stadt und einer Reihe weiterer Institutionen unterstützte Forum Alte Musik Zürich unter der Leitung der Musikerin Martina Joos und des emeritierten Musikredaktors Roland Wächter realisiert, braucht keine Vergleiche zu scheuen. Seit 2002 gibt es bei der 1995 gegründeten Konzertreihe jedes Jahr ein Festival zu einem Thema aus dem Bereich der alten Musik, seit 2007 sind es sogar deren zwei. Sie erstrecken sich jeweils über zwei Wochenenden und bieten Veranstaltungen verschiedenster Art – vom wissenschaftlichen Symposion bis zum Apéro-Konzert. Und das an den unterschiedlichsten Orten: Im Frühjahr 2014 etwa gab es eine musikalische Stadtwanderung, die im Hotel Hirschen, im Zentrum Karl der Grosse, im Zunfthaus zur Waag und im Lavatersaal nächst St. Peter vier Stationen aus der älteren Musikgeschichte Zürichs veranschaulichte. Die Kirche St. Peter mit ihrem herrlichen, stuckverzierten Innenraum bildet in dieser Reihe der Lokalitäten gewiss einen Höhepunkt.

Ausserdem empfangen die Örtlichkeiten immer wieder hochkarätige Interpreten. Die Camerata Köln oder die Akademie für Alte Musik Berlin waren ebenso zu Gast wie Kristian Bezuidenhout am Fortepiano, der Geiger Daniel Sepec oder Hille Perl mit ihrer Gambenkunst – beim Forum Alte Musik Zürich bekommt man zu hören, wer in diesem inzwischen ganz eigenen Segment der Kunstmusik das Sagen hat. Nicht zuletzt geschieht das in anregend gebauten Programmen. Die Themen sind da nicht einfach Aufputz, sie bilden vielmehr den Kern, von dem das Gebotene ausgeht. Im Frühjahr 2015 gab es zum Beispiel eine veritable Karwoche, davor war der ansonsten wenig bemerkte 300. Geburtstag von Carl Philipp Emanuel Bach begangen worden, hatte eine Ausgabe auf alte Musik jenseits der bekannten Zentren aufmerksam gemacht oder war die Rede von Himmelsmusik und Höllenlärm.

König Davids Reue

Die Frühlingsausgabe dieses Jahres nun – die am kommenden Sonntag mit einer Aufführung von Bachs h-moll-Messe mit den Kräften der St. Galler Bachstiftung unter der Leitung von Rudolf Lutz endet – stellte ein Meisterwerk aus dem 16. Jahrhundert in den Mittelpunkt. Orlando di Lasso, 1530 oder 1532 geboren, 1594 gestorben, war einer der berühmtesten Musiker seiner Zeit: als Komponist und Kapellmeister am Hof des Herzogs Albrecht V. in München engagiert, aber weit über Bayern hinaus verehrt. Im Auftrag seines Dienstherrn komponierte er in den Jahren 1584 bis 1586 Motetten über die «Psalmi Davidis poenitentiales», die sieben zerknirschten, aber auch tröstlichen Busspsalmen Davids, die in zwei grosse, mit äusserster Pracht illuminierte Handschriften gebracht wurden. Und das ist nun das Spezialgebiet des Zürcher Musikhistorikers Andreas Wernli, der diese Handschriften präsentierte. Danach wurden die sieben Psalmen integral vorgetragen – nicht nur eine Rarität, sondern auch ein Grossunternehmen.

Der Anspruch ist hoch – an die Sängerinnen und Sänger wie an die Zuhörerschaft. Es handelt sich hier um a-cappella-Gesänge, um Musik ohne Instrumentalbegleitung, über lateinische Texte, und das in einem Stil, der in der Zeit vor dem Aufkommen der harmonischen Tonalität wurzelt, heutzutage also geradezu modern anmutet. Da muss man die Ohren spitzen. Und sich mit Geduld einlassen: Immer besser erschien im Verlauf der Darbietung jedenfalls die Verständlichkeit, immer mehr liessen sich – auch anhand der an die Wand projizierten Übersetzungen ins Deutsche – die Reaktionen der Musik auf die Inhalte der Texte erkennen, immer lebendiger wurde einem das musikalische Geschehen insgesamt. Ein musikalisches Geschehen, das aufs erste Hören hin einfach wirkt und seine kunstvolle Faktur erst bei näherem Hinhören offenbart.

Vokale und instrumentale Kunst

Dazwischen gestreut war Instrumentalmusik aus dem Umfeld der Busspsalmen. Zum Beispiel ein stupendes Ricercar zu vier Stimmen über die Tonfolge c-d-e-f-g-a und zurück von Hans Leo Hassler, das Polyphonie vom Feinsten bietet. Das Cellini Consort mit den vier Gambisten Brian Franklin, Thomas Goetschel, Tore Eketorp und Leonardo Bortolotto brachte den näselnden, ziehenden Ton seiner Instrumente zu blendender Wirkung. Für die Busspsalmen Lassos war das von Stephen Smith geleitete Ensemble Corund gerufen worden, eine hochstehende professionelle Vokalgruppe aus Luzern, die ihre Aufgabe ausgezeichnet meisterte und auch plötzlich auftretende Klippen gewandt zu umschiffen wusste. Ob Tempo und Dynamik tatsächlich so gleichförmig bleiben müssen, wie es der Dirigent wollte, bleibe dahingestellt; und wenn ein Wunsch offen wäre, dann der, dass die Anfänge gleich auf Anhieb so strahlend klängen wie das, was danach folgt. Dessen ungeachtet geriet dieser Auftritt zu St. Peter zu einem grossen Moment.

Das nächste Festival ist bereits in Sicht. «Mittelalter» nennt es sich, ganz lapidar. Und es präsentiert fünf musikalische Biographien; angekündigt sind Hildegard von Bingen, Francesco Landini, Eleonor von Aquitanien, Guillaume de Machaut und Oswald von Wolkenstein. An Entdeckungen wird es in einem halben Jahr nicht fehlen.