Ein Blick zurück – mit Gewinn

Wagners «Rheingold» in historischer Praxis,
nun beim Lucerne Festival

 

Von Peter Hagmann

 

Fricka (Annika Schlicht), Wotan (Simon Balley), Freia (Nadja Mchantaf), dazwischen der Dirigent Kent Nagano / Bild Peter Fischli, Lucerne Festival

Knapp zwei Jahre sind vergangen seit jenem aufregenden Abend in der Kölner Philharmonie, der «Das Rheingold», den Vorabend zu Richard Wagners «Ring des Nibelungen», in ungewohntem Gewand vorstellte. In jenem Gewand nämlich, das dem Komponisten zur Verfügung stand – ja mehr noch: das er sich zum Teil selbst erschaffen hatte. Nicht ein Orchester heute üblicher Art war da am Tun, sondern das Concerto Köln, ein auf Musik des 18. und frühen 19. Jahrhunderts sowie auf die historisch informierte Aufführungspraxis spezialisiertes Ensemble, das sich um ein Mehrfaches seiner achtzehn Mitglieder umfassenden Stammbesetzung erweitert hatte. Mit von der Partie war ein anderer Novize, denn der Dirigent Kent Nagano war bisher als pointierter Vertreter der neuen Musik und als luzider Interpret des klassisch-romantischen Repertoires bekannt, nicht aber als Leuchtturm im Bereich der historischen Praxis. Ein Wagnis erster Güte war das. Geworden ist daraus ein Coup, dessen Folgen sich noch in keiner Weise absehen lassen (vgl. «Mittwochs um zwölf» vom 08.12.21).

Mir nichts, dir nichts wird ein solches Projekt nicht möglich. So sehr sich die historisch informierte Aufführungspraxis entwickelt hat, so gut es auch schon erste Annäherungen, etwa mit Roger Norrington und Simon Rattle im Konzert, mit Hartmut Haenchen und Thomas Hengelbrock in Bayreuth, gegeben hat – grundsätzlich und umfassend hat sich an Wagner bisher niemand aus dem Bereich der historischen Praxis herangewagt. Vier Jahre der Vorbereitung gingen der konzertanten Aufführung von «Rheingold» in Köln voraus; «Wagner-Lesarten» nannte sich die Forschungseinrichtung, in deren Rahmen Aspekte des Instrumentenbaus im späten 19. Jahrhundert, Fragen der Spielweise und des Gesangsstils, auch solche der Gestik erörtert wurden. Die wissenschaftlichen Erkenntnisse wurden breit diskutiert und mit Hilfe spezialisierter Workshops in die Praxis übergeführt.

Das alles war mit enormem Aufwand verbunden und führte zu einem Katalog an Aufgaben, der die Möglichkeiten des Concerto Köln bei weitem überstieg. Um den «Ring» als Ganzes in dieser Form zu bewältigen, bedurfte es eines leistungsstarken Partners; gefunden wurde er in den Dresdner Musikfestspielen. Dort gibt es die notwendige Infrastruktur, dort steht mit dem Dresdner Festspielorchester sogar ein historisch informiert arbeitender Klangkörper bereit, und von dort aus konnten auch die erforderlichen finanziellen Mittel beschafft werden. So kam es zu einem Neustart auf erweiterter Basis. Ab 2023 soll jedes Jahr ein Teil der Tetralogie im Geist der historisch informierten Aufführungspraxis erarbeitet werden. Das Resultat soll jeweils zuerst bei den Dresdner Musikfestspielen vorgestellt werden und danach auf Tournee gehen. So ist dieses buchstäblich unerhörte «Rheingold» diesen Sommer zum Lucerne Festival gekommen – mit überwältigendem Erfolg. Und natürlich besteht die Hoffnung, dass die Luzerner Begegnungen mit diesem einzigartigen Unternehmen in den kommenden Jahren (und auch über den Luzerner Direktionswechsel hinaus) weitergeführt werden. Dies auch gleichsam als Fortsetzung der unvergesslichen Luzerner «Ring»-Abende mit Jonathan Nott und den Bamberger Symphonikern im Wagner-Jahr 2013.

Wer in Köln dabei war, dem bot die Begegnung mit der nun aus Dresden hergekommenen Luzerner Wiederaufnahme von «Rheingold» Erfahrungen ganz eigener Art. Der Ansatz war derselbe, die Konkretisierung unterschied sich aber doch merklich. Schon allein darum, weil neben dem Concerto Köln mit dem von Ivor Bolton betreuten Dresdner Festspielorchester ein zwar schon vor gut zehn Jahren gegründeter, jedoch noch weitgehend unbekannter Klangkörper mit dabei war. Die Farbigkeit des Orchesters, der mit Darmsaiten bezogenen Streicher, der zum Teil eigens rekonstruierten Blasinstrumente, sie schuf auch in Luzern ungeheure Wirksamkeit, zumal im Bereich der Bläser, die ein Spektrum zwischen abgrundtiefer Schwärze und leuchtender Helligkeit ausbreiteten. Als Preis dafür war – besonders ausgeprägt in jenem Moment am Ende, da die von Wotan angeführte Götterschar die Brücke überquert und Walhall in Besitz nimmt – eine befremdende Heterogenität im starken Gesamtklang des Orchesters in Kauf zu nehmen. Scharf, ja grell klang dieses Tutti, und das in stärkerem Ausmass als in Köln. Vielleicht muss es so sein; Instrumente von starker Individualität bilden gerne einen attraktiv wirkenden Spaltklang, fügen sich aber weniger leicht in einen Mischklang. Das kann auch andernorts, etwa bei Les Siècles mit François-Xavier Roth oder beim Orchestre Révolutionnaire et Romantique von John Eliot Gardiner, zu hören sein.

Auch was die klangliche Transparenz betrifft, blieben in Luzern, anders als in Köln, einige Wünsche offen – übrigens auch für Kent Nagano, der gestisch Schwerarbeit leistete, der da dämpfte und dort ermunterte. Mag sein, dass das nicht nur auf die Saalakustik und die Tücke des Moments, sondern auch auf die veränderte Aufstellung des Orchesters zurückzuführen ist. In Köln nämlich waren auch die Streicher doppelchörig aufgestellt – wobei zwei Geigen- und zwei Bratschengruppen durch einen in einem Halbkreis von links nach rechts durchs Orchester reichenden Halbkreis von Celli verbunden waren. Das schuf eigenartig und auffallend viel Raum für die Mittelstimmen und die dort versteckten Bereicherungen, die in gewöhnlichen Aufführungen kaum je so deutlich wahrzunehmen sind. In Luzern dagegen war das Orchester nach der Art der traditionellen deutschen Aufstellung konfiguriert; hier sassen nur die Geigen einander gegenüber, während die Bratschen und die Celli die üblichen Blöcke in der Mitte formten. Das wird gewiss seine Gründe haben, muss aber nicht der Weisheit letzter Schluss sein.

Von all dem abgesehen bot der Abend Reiz und Anregung in Hülle und Fülle. Kent Nagano sorgte für meist frisch, vielfältig abgestufte und logisch aufeinander bezogene Tempi, die sich nicht an der Schönheit des vokalen Lauts, sondern vielmehr am Duktus der gesprochenen Sprache orientierten – so wie es sich Wagner gewünscht hat. Und Kraft gab es reichlich, wenn auch frei von Bombast und ohne Druck auf die Singstimmen; geprägt durch seine jahrzehntelangen Erfahrungen in den Orchestergräben weiss Nagano ganz genau, wie er das Orchester einen Akzent setzen und dann sogleich wieder zurücktreten lassen kann. Das gegenüber Köln weitgehend veränderte Ensemble der Sängerinnen und Sängern dankte es ihm ebenso wie das Publikum, das die ungewohnte, eben nicht auf dem Schrei basierende Singkunst bei Wagner entdecken konnte. Ania Vegry (Woglinde), Ida Aldrian (Wellgunde) und Eva Vogel (Flosshilde), die drei schon in Köln beteiligten Rheintöchter, gaben es gleich am Anfang zu erkennen: mit nuanciertem Vibrato und, vor allem, mit dem Einsatz der Sprechstimme, wie ihn Wagner bei der von ihm verehrten Wilhelmine Schröder-Devrient gehört haben soll.

Mit Daniel Schmutzhard, ebenfalls aus Köln übernommen, stand den Rheintöchtern ein ungeheuer energiegeladener Alberich gegenüber. Simon Bailey gab demgegenüber einen ganz und gar gelassenen Wotan, an dem sich die argwöhnische Fricka von Annika Schlicht, ebenfalls mit sorgfältigem Einsatz des Vibratos, nach Massen abarbeiten durfte. Als Luzerner stand Mauro Peter am richtigen Platz, für die Partie des Loge ist er aber alles andere als der Richtige; sein warmer, fülliger Tenor erreicht keineswegs jene Agilität im Parlando, die dem einer Flamme gleichenden Halbgott auf den Leib geschrieben ist. Da ging es Gerhild Romberger, die wie schon in Köln die Erda sang, wesentlich besser, konnte sie doch ihrem dunklen Mezzosopran freien Lauf lassen. Kleinere Aufgaben übernahmen Dominik Köninger und Tansel Akzeybek als Donner und Froh, Nadja Mchantaf als Freia und Thomas Ebenstein als Mime sowie Christian Immler und Tilmann Rönnebeck als die Riesen Fasolt und Fafner. Bewundernswert, in wie hohem Mass und mit welcher Zielsicherheit das gesamte Ensemble aus Musik und Sprache heraus agierte, den Text verständlich werden liess und den Klang mit einer neuen Art Emphase versah. Szenisches wurde nur angedeutet, mehr braucht es nicht. Liegt im historisch informierten Ansatz die Zukunft? Als eine gewinnbringende Alternative in jedem Fall – erst recht vielleicht dann, wenn das Modell im verdeckten Graben des Bayreuther Festspielhauses ausprobiert wird.

Wahrheiten der Musik

Mozarts «Così fan tutte»
mit dem Kammerorchester Basel

 

Von Peter Hagmann

 

«Ausverkauft» – so heisst es auch an diesem Abend des Kammerorchesters Basel. Kein Wunder, im wunderschön renovierten Musiksaal des Basler Stadtcasinos wird «Così fan tutte» gegeben, das Dramma giocoso Lorenzo Da Pontes, mit dem Wolfgang Amadeus Mozart im Jahre 1 nach der Französischen Revolution für Wellenschlag gesorgt hat. Was es bis heute tut. Selbst in unseren Tagen gibt es Opernfreunde, die dem von Don Alfonso arrangierten Partnertausch mit Vorbehalten begegnen – trotz der Genialität von Mozarts Musik. Und kommt das Stück auf die Bühne, tritt nicht selten heraus, wie hilflos die Regisseure mit der krassen Absurdität von «Così fan tutte» umgehen. Kann es tatsächlich sein, dass die beiden Frauen ihre Geliebten, die ihnen in notdürftiger Kostümierung übers Kreuz die Aufwartung machen, nicht erkennen und auf das Spiel hineinfallen? Und ist effektiv denkbar, dass, wenn der ganze Schwindel aufgeflogen ist, die Frauen düpiert dastehen und die Männer ihre Wunden lecken, doch wieder Friede Freude Eierkuchen eintritt?

An Fragen fehlt es nicht. Unter der Leitung seines Ersten Gastdirigenten Giovanni Antonini – einen Chefdirigenten kennt das sich selbst verwaltende Ensemble nicht – hat das Kammerorchester Basel eine starke, wenn nicht gar die einzige plausible Antwort gegeben. Es hat auf die Musik Mozarts gehört und ihre Expressivität in aller Eindringlichkeit herausgestellt. Schon in der, was das Tempo betrifft, mässig genommenen Ouvertüre liess das historisch informiert, aber nicht durchwegs auf alten Instrumenten spielende Orchester hören, welches Qualitätsniveau es pflegt. Klangschönheit und Expressivität in den Bläsern, Agilität und Vitalität in den Streichern liessen keinen Wunsch offen – ohne Zweifel hat die dem Basler Abend vorangegangene Tournee nach Luxemburg, Paris und Hamburg die Formation zusammengeschweisst und die Interpretation geschärft. Wenn die Emotionen hochgingen, nahmen die Musikerinnen und Musiker, angefeuert durch ihren bisweilen arg schnaubenden Dirigenten, kein Blatt vor den Mund. Während sie in den Momenten des Innehaltens, der Unsicherheit, des Fragens offen waren für jedes Mitfühlen, für jede Zärtlichkeit. Das alles in dem von ebenso eleganten wie präsenten Tiefen getragenen Gesamtklang wie in den teils stupenden solistischen Einlagen.

Glänzenden Reflex fand dieses musikalische Bild im Auftritt von Julia Lezhneva als Fiordiligi. In den letzten Jahren grossartig aufgeblüht, bewältigt die junge Sopranistin die enormen Anforderungen dieser Partie absolut hinreissend. Der besonders weite Stimmumfang, den ihr Mozart abverlangt, bereitet ihr keinerlei Schwierigkeit; ohne Mühe springt sie aus höchster Höhe zwei Oktaven in die Tiefe, und dass dafür ganz unterschiedliche stimmliche Ansätze vonnöten sind, tritt nicht in Erscheinung, so perfekt sind die Register aufeinander abgestimmt und miteinander verschmolzen. Dazu kommen Stilbewusstsein, Phantasie und Mut im Umgang mit Verzierungen, die staunen machen; mit den reichhaltigen, niemals aufgesetzt wirkenden, vielmehr jederzeit emotional unterfütterten Verzierungen, welche die Sängerin einzusetzen wusste, geriet «Per Pietà», ihre grosse Arie im zweiten Akt, zum Höhepunkt des Abends. Allerdings blieb dieses vokale Niveau die Ausnahme. Als Dorabella hielt Susan Zarrabi, eingesprungen für die erkrankte Emőke Baráth, zuverlässig stand, bildete jedoch nicht das hier geforderte Gleichgewicht. Dafür sorgte eher Sandrine Piau, eine hocherfahrene Expertin für die Partie der vorlauten Dienerin Despina. Die Herren dagegen, sie blieben deutlich zurück, weil sie durchs Band zu viel Druck gaben und immer wieder die Balance zwischen vokalem und instrumentalem Ausdruck bedrohten. Als Ferrando zeigte Alasdair Kent schöne Höhe, die er auch im Pianissimo zu nutzen verstand, geriet aber gern in eine unbefriedigende Schärfe, während Tommaso Barrea als Guglielmo mehr Stimmkraft als Gestaltungsvermögen erkennen liess. Konstantin Wolff schliesslich, auch hier mit leicht belegtem Timbre, zeichnete Don Alfonso weniger als gelassenen Aufgeklärten denn als herb fordernden Intriganten.

Mag sein, dass Mängel dieser Art auch auf die szenische Einrichtung des Abends zurückgingen. Salomé Im Hof versah das Geschehen auf dem Konzertpodium dergestalt mit Aktion und Kostüm, dass Mozarts Oper zu veritabler halbszenischer Aufführung kam. Dabei setzte sie ganz auf die komische Seite, womit sie manchen Lacher im Publikum generierte, die Ambivalenz des Stücks aber völlig ausser Acht liess. Das war zu viel des Guten, zudem echt hausbacken, jedenfalls nicht auf dem Niveau des Kammerorchesters Basel.

Musik als Theater

Lucerne Festival IV: Mozarts Da Ponte-Zyklus mit Currentzis

 

Von Peter Hagmann

 

Christina Gansch (Zerlina) mit dem Solo-Cellisten von MusicAeterna und Ruben Drole (Masetto) in Mozarts «Don Giovanni» / Bild Peter Fischli, Lucerne Festival

Das Lucerne Festival als ein Ort der Oper? Gewiss – wenn auch nicht so, wie es für die Salzburger Festspiele gilt, wo als Schwerpunkt des Programms vier bis fünf Neuinszenierungen herausgebracht und in einer Mischung zwischen Stagione- und Repertoirebetrieb über Wochen hinweg gezeigt werden. In Luzern dagegen liegt der Akzent nach wie vor bei dem einzigartigen Gipfeltreffen der grossen Orchester der Welt, doch haben unter der Leitung von Michael Haefliger andere Schauplätze an Gewicht erhalten. Zum Beispiel die neue Musik mit der von Mark Sattler betreuten Reihe «Moderne» und der Lucerne Festival Academy, die mit Wolfgang Rihm über eine prominente Galionsfigur verfügt, die im Bereich der Interpretation seit dem abrupten (und bis heute unerklärten) Abgang des Dirigenten und Komponisten Matthias Pintscher jedoch eine spürbare Vakanz aufweist. Einen anderen Schauplatz dieser Art stellt das Musiktheater dar. Seit Haefligers Amtsantritt 1999 findet in Luzern Jahr für Jahr auch Oper statt. Nicht als konventionelle Inszenierung auf der Guckkastenbühne, sondern in den verschiedensten Formen konzertanter und halbszenischer Darbietung. Das mag als Notlösung erscheinen in einem Raum wie dem Konzertsaal im KKL, der sich nicht wirklich zur Bühne umbauen lässt, ist aber weit mehr als das (vgl. dazu NZZ vom 20.07.19).

Oper ohne Bühne

Oper am Lucerne Festival stellt vielmehr den kontinuierlich und phantasievoll vorangetriebenen Versuch dar, dem Musiktheater andere Formen der Existenz zu erschliessen – Formen jenseits des Szenischen. Sie verzichten auf Bühnenbild und Kostüm, auf Bebilderung und optisch wahrnehmbare Interpretation, sie fokussieren auf das rein Musikalische. Dabei tritt zutage, dass der Verzicht auf das Gesamtheitliche von Wort, Musik, Bild und Körpersprache nur auf den ersten Blick einen Verlust mit sich bringt. Bei näherem Zusehen erweist sich nämlich, in welch hohem Mass das Theatrale der Oper allein in der vom Text getragenen Musik lebt. Eine Darbietung, die das Szenische nur andeutet, das Musikalische dafür schärft und in den Vordergrund stellt, führt – so paradox das erscheinen mag – näher an den Gehalt des Kunstwerks heran.

Das hat sich in den konzertanten oder halbszenischen Opernaufführungen beim Lucerne Festival vielfach bestätigt – nicht zuletzt bei der epochalen Wiedergabe von Richard Wagners «Ring des Nibelungen» unter der Leitung von Jonathan Nott im Sommer 2013 oder bei der unvergesslichen Monteverdi-Trilogie mit John Eliot Gardiner von 2017. In dem von Teodor Currentzis geleiteten Zyklus der drei Opern, die Wolfgang Amadeus Mozart und sein Textdichter Lorenzo Da Ponte in den Jahren rund um die Französische Revolution geschaffen haben, ist es erneut und in überwältigender Weise zur Geltung gekommen. Ein fulminanter Schlusspunkt und eine denkbar starke Konkretisierung des Leitgedankens «Macht», unter dem das Luzerner Festival diesen Sommer stand.

Halbszenisch in unterschiedlicher Schattierung

Natürlich gab es an diesen drei restlos ausverkauften Abenden im KKL auch etwas zu sehen – und dies in durchaus unterschiedlichem Mass. Bei «Le nozze di Figaro» – die drei Opern wurden in der Reihenfolge ihrer Entstehung aufgeführt – lag der optische Akzent auf den Kostümen, die diskret, aber unmissverständlich die gesellschaftliche Schichtung und den Verlauf des Geschehen unterstrichen. Der Graf im Smoking, sein Figaro in grobem Tuch – so weit, so klar. Anders die Gräfin und ihre Kammerdienerin Susanna, die als heimlich Verbündete Kleid und Jupe in ähnlicher Farbe trugen, sich mehr noch durch ihre Schuhe unterschieden, die hier hohe, dort tiefe Absätze aufwiesen – was in der Verkleidungsszene zu einem fast unmerklichen Rollentausch genutzt werden konnte.

Bei «Don Giovanni» fehlten solche Elemente. Der Herr und der Diener trugen beide Smoking, eine Art Konzertkleidung, Don Giovanni allerdings einen mit rotem Innenfutter und mit ebenfalls rotem Einstecktuch – dies als Hinweis auf jene gesellschaftlichen Unterschiede, die durch Leporello entschieden relativiert werden. Beim nächtlichen Mittelstück der Trilogie wurde dafür mehr mit Lichtwirkungen gearbeitet – bis hin zu jener vollständigen Dunkelheit, in welcher der Auftritt des Dirigenten erfolgte. Der steinerne Komtur im weissen Dinner Jacket vor den leer gelassenen Sitzreihen der Orgelempore verfehlte seine Wirkung nicht.

«Così fan tutte» schliesslich erschien am stärksten den Konventionen verpflichtet. Dort wurde gestisch doch ziemlich auf den Putz gehauen und durften für die beiden Verkleidungsszenen, für die Auftritte Despinas als Doktor und als Notar, weder das Erste-Hilfe-Köfferchen noch das allgemeine Zittern, weder der Talar noch das näselnde Singen fehlen – leider, muss man sagen. An allen drei Abenden aber nutzten die Regisseurin Nina Vorobyova, die Kostümbildnerin Svetlana Grischenkova und der Lichtdesigner Alexey Koroshev, die sich dem Publikum nicht zeigten, den engen Raum zwischen dem Orchester und dem Podiumsrand geschickt aus. Und sorgten in allen drei komischen Opern für erheiternde Momente – etwa dort, wo Figaro als scheinbar verspäteter Konzertbesucher bei schon laufender Ouvertüre seinen Platz sucht, um dann singend das Podium zu erklimmen.

Historische Praxis 3.0

Wie in all den Luzerner Opernabenden halbszenischer Art blieb mächtig Raum für die Musik, für ihre hochgradig intensivierte Darbietung und ihre dementsprechend gesteigerte Wahrnehmung. Teodor Currentzis, kompromisslos und umstritten, war hier genau der Richtige. Seine Prämisse ist unüberhörbar die historisch informierte Aufführungspraxis, wie sie durch Nikolaus Harnoncourt vor einem guten halben Jahrhundert neu angestossen worden und wie sie heute, beträchtlich weiterentwickelt, so etwas wie Allgemeingut geworden ist. Anders als bei Mozarts «Idomeneo» an den Salzburger Festspielen dieses Jahres (vgl. «Mittwochs um zwölf» vom 14.08.19), bei dem das Freiburger Barockorchester einen sagenhaften Auftritt hatte, stand Currentzis in Luzern vor Chor und Orchester der von ihm begründeten, inzwischen nicht mehr mit der Oper Perm verbundenen, sondern selbständigen, privat finanzierten Formation MusicAeterna.

Mit seinen 33 Mitgliedern verbreitet der Chor dank klar zeichnender, nicht durch übermässiges Vibrato beeinträchtigter Linienführung bemerkenswerte Leuchtkraft. Das klein besetzte Orchester wiederum verwendet auf dem tiefen Stimmton von 430 Hertz Instrumente nach der Art des ausgehenden 18. Jahrhunderts und die dazu gehörigen Spielweisen: Streicher mit Darmsaiten (aber nicht Barockbögen), Bläser in enger Mensur und ohne die heute üblichen Ventile, Pauken mit reinen Holzschlägeln. Was die historisch informierte Aufführungspraxis hervorgebracht hat, versteht sich hier von selbst und gilt als Basis. Die Streicher spielen nicht immer, aber in der Regel ohne Vibrato, was die Dissonanzen schärft und deren Auflösung in die Konsonanz stärker als gewöhnlich empfinden lässt. Ebenso hörbar wird die Belebung, die von der nuancierten Artikulation und der kleinteiligen, klar am Sprachverlauf orientierten Phrasierung ausgeht. Das alles auf technisch höchstem Niveau: Was dieses Orchester an Agilität und Präzision im hochgetriebenen Prestissimo zu leisten vermag, lässt immer wieder staunen.

Es erlaubt Teodor Currentzis, dem Akrobaten auf dem Dirigentenpodium, den musikalischen Ausdruck ganz unerhört zuzuspitzen: im Leisen wie im Lauten, im Schnellen wie im Langsamen. Er gehört damit zu den (mehr oder weniger) Jungen Wilden der klassischen Musik, wie sie von der Geigerin Patricia Kopatchinskaja prominent vertreten werden. Mit seiner zum Teil erschreckend harschen Attacke, dem reinen Gegenteil der apollinischen Verklärung Mozarts in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg, schliesst Currentzis durchaus an Harnoncourt an. Zugleich nutzt er aber auch die vielen Freiheiten, die noch von Harnoncourt selbst, besonders aber von seinen Nachfolgern entdeckt und verbreitet wurden. Die Tempi werden nicht einfach im Gleichschlag durchgezogen, sondern vielmehr reichaltig und ganz dem expressiven Moment entsprechend nuanciert – was durchaus neueren Erkenntnissen der Interpretationsforschung entspricht. Und wie es René Jacobs tut, setzt Currentzis auf einen sehr vitalen, sehr präsenten Basso continuo – nicht nur in den Rezitativen, sondern überall. Was Marija Shabashova am Hammerklavier mit ihren witzigen Anspielungen, was der Lautenist Israel Golani und der Cellist Alexander Prozorov in Luzern hören liessen, war von hohem Reiz.

Dazu kommt, dass in der Mozart-Da Ponte-Trilogie des Lucerne Festival nicht nur das Instrumentale, sondern auch das Vokale dem aktuellen Stand des Wissen entsprach – nicht bei allen Mitgliedern der drei Ensembles, aber doch bei vielen. Dass bei zwei gleich hoch liegenden Tönen Appogiaturen gemacht, dass in wiederholten Teilen Verzierungen angebracht und unter den grossen Fermaten Kadenzen eingefügt werden können, war ebenso selbstverständlich wie das unterschiedlich gestaltete Vibrato und die vokale Formung aus dem Text heraus, also mit Hebung und Senkung sprechend und nicht, wie zu Karajans und Böhms Zeiten, auf die weit gespannte Linie und das durchgehende Legato hin ausgerichtet. Mit einigen Sängerinnen und Sängern scheint Currentzis intensiv gearbeitet zu haben, andere animierte er durch seine ungewöhnliche, durchaus gewöhnungsbedürftige körperliche Präsenz auf dem Podium. Wie überhaupt durch jene Nähe zwischen den Akteuren, die der Konzertsaal bietet, eine Verzahnung von Vokalem und Instrumentalem entstand, wie sie selten genug zu erleben ist.

Glanzpunkte, Schwachstellen

Der langen Vorrede kurzer Sinn: Die drei Luzerner Abende mit Mozart und Da Ponte waren ein hinreissendes Erlebnis. Sie zeigten, dass Oper auch jenseits der Bühne Oper sein kann. Und wie Musik allein zu Theater werden kann – dann nämlich, wenn das Ausdruckspotential der Partituren so explizit genutzt wird, wie es Teodor Currentzis tat. Vor allem aber waren die Darbietungen von glanzvollen vokalen Leistungen getragen; sie liessen nicht zuletzt erkennen, wie sehr die drei unerhört aufmüpfigen Opern Mozarts in ein und dieselbe Richtung weisen und wie individuelle Züge sie zugleich tragen. Im «Figaro» von 1786, dessen Ouvertüre nicht elegant tänzelnd, sondern vorrevolutionär rasselnd erklang, gab es neben dem souveränen, wenn auch etwas routinierten Figaro von Alex Esposito die herrlich schillernde Susanna von Olga Kulchynska sowie neben dem etwas unverbindlichen Grafen von Andrei Bondarenko die sehr innige, in ihrer Weise ehrliche Gräfin von Ekaterina Scherbachenko mit ihrem üppigen Vibrato und ihrem reichen Portamento. Vor allem kamen in diesem Stück die kleineren Rollen ans Licht: der Cherubino von Paula Murrihy und die zarte Barbarina von Fanie Antonelou, die auf der CD-Einspielung mit Currentzis die Susanna singt. Schade nur, dass hier die Übertitel pauschal blieben – zu pauschal für eine Interpretation, die so ausgeprägt aus dem Text hervorwuchs.

Auch in dem nächtlichen «Don Giovanni» von 1787 traten zwei Partien heraus, die gewöhnlich etwas im Schatten bleiben. In der Stimme quirlig, aber auf Distanz zum Soubrettenton, und in der Körpersprache geschmeidig, bot Christina Gansch einen sehr differenzierten Blick auf die junge Bäuerin Zerlina, im Geist eine Schwester der Susanna. Als ein besonders starrköpfiger Masetto hatte Ruben Drole einen prächtigen Auftritt; sein kraftvoller Bass liess das Vorhaben Masettos, den ihn bedrängenden Lüstling um die Ecke zu bringen, als durchaus glaubhaft erscheinen. Auffallend, dass Kyle Ketelsen als aufbegehrender Diener Leporello ähnlich unscharfes Profil gewann wie Figaro am Abend zuvor. Umso ansprechender dafür Dimitris Tiliakos als ein nicht mit metallener Virilität agierender, sondern ausgesprochen lyrisch angelegter Don Giovanni. In «La ci darem la mano» liess er gegenüber Zerlina seine ganzen Verführungskünste spielen, während die Champagner-Arie erwartungsgemäss überschäumend geriet. Vor allem aber schlug hier die Stunde von Nadezhda Pavlova, die mit ihrer grossartigen Singkunst die Figur der Donna Anna zu einem geradezu expressionistisch zugespitzten Charakter machte. Witzig, dass die Oper, wie es Mozart für die Wiener Zweitaufführung von 1788 vorgesehen hatte, mit dem Untergang des Protagonisten zu enden schien, was verunsicherten Beifall auslöste – dass das finale Sextett dann aber doch noch nachgereicht wurde, freilich als Oktett unter tatkräftiger Mitwirkung der beiden Toten.

Weniger überzeugend «Così fan tutte» von Anfang 1790. Zum einen der halbszenischen Einrichtung wegen, die doch etwas grobkörnig geraten war. Zum anderen darum, weil Cecilia Bartoli in der Partie der Despina als Star vorgeführt wurde und sich auch so gab – beides wollte nicht so recht ins Konzept passen. Zumal ihr halsbrecherisches Parlando nach wie vor stupend wirkte, die stimmliche Kontrolle an diesem Abend aber nicht restlos gegeben war. Auch nicht ganz auf der Höhe Konstantin Wolff als Don Alfonso; der philosophierende Strippenzieher war hier ein junger Mensch wie seine vier Opfer, er litt unter einem etwas bedeckten Timbre und blieb gerne auf den Schlusssilben sitzen, was im Umfeld dieser Produktion besonders als altmodisch auffiel. Neben Paul Murrihy (Dorabella), die das im «Figaro» erreichte Niveau würdig hielt, fiel noch einmal Nadezhda Pavlova auf, die als Fiordiligi fabelhafte Sicherheit in den Sprüngen, wunderschöne Rubato-Kunst, spannende Verzierungen und grandiose Koloraturen zum Besten gab. Und von dem etwas röhrenden Guglielmo von Konstantin Suchkov hob sich der Ferrando von Mingjie Lei angenehm ab; seine Arie «Un’ aura amorosa» aus dem ersten Akt geriet zu einem Meisterstück vokal-instrumentalen Konzertierens.

Eine gewaltige Reise war das, eine von erschöpfender Kraft und nachhaltiger Denkwürdigkeit. Einmal mehr erwies sich, dass das Lucerne Festival auch für Anhänger des Musiktheaters eine Destination sein kann.