Ohne Live kein Life

Lucerne Festival (3):
Die Wiener Philharmoniker
als Verkörperung neuer Diversität

 

Von Peter Hagmann

 

Die Saxophonistin Valentine Michaud und der Dirigent Esa-Pekka Salonen am Werk / Bild Peter Fischli, Lucerne Festival

Keine Frage: Als das Lucerne Festival 2016 den Sommer der Frau, nicht zuletzt der Frau am Dirigentenpult, ausrief, ergab sich ein Wellenschlag von nachhaltiger Wirkung. Nicht dass das damals lebhaft verfolgte Festival-Motto der eigentliche Katalysator gewesen wäre, dafür lag das Thema zu sehr in der Luft. Doch ist ebenso wenig zu übersehen, dass die Frau in leitenden musikalischen Funktionen inzwischen eine viel weiter verbreitete, auch selbstverständlicher akzeptierte Erscheinung darstellt als noch vor fünf, sechs Jahren. Dass Joana Mallwitz, ab 2023 Chefdirigentin des Konzerthausorchesters Berlin, bei den Salzburger Festspielen Mozarts «Così fan tutte» leitet, notabene mit den Wiener Philharmonikern, dass bei den Wagner-Festspielen in Bayreuth Oksana Lyniv aus Lemberg, Generalmusikdirektorin am Teatro Comunale in Bologna, den «Fliegenden Holländer» dirigiert und ihr im kommenden Jahr Nathalie Stutzmann mit «Tannhäuser» folgt, dass die Sopranistin Barbara Hannigan nicht nur singt, sondern auch das sie begleitende Orchester anführt – all das gehört heute zum courant normal. Dass das Gleichgewicht hier wie in vielen gesellschaftlichen Bereichen noch keineswegs erreicht ist, steht auf einem anderen Blatt.

Diesen Sommer lautet das Schlagwort nun «Diversity» – englisch, wie es beim Lucerne Festival üblich ist und wie es in diesem Fall sogar angebracht sein mag. Diversität wurde hier nämlich nicht etwa ästhetisch verstanden als Vielfalt in der Einheit der Kunstmusik, wie sie etwa in den Sinfonien Gustav Mahlers erscheint. Das Motto verstand sich vielmehr in rein gesellschaftlicher Sicht als Aufruf zu vermehrter Inklusion vermeintlicher Minderheiten in den Bereich der musikalischen Kunst – ja als Forderung, zum Beispiel Menschen mit farbiger Haut mehr Teilhabe an dieser Kunst zu ermöglichen. Die Reaktionen auf das Motto fielen äusserst kontrovers aus. Auf der einen Seite wurde in gewissen Medien geradezu hyperventiliert, wurde ultimativ das Aufbrechen der sogenannt elitären, also ausschliessenden Kunst verlangt, wurde die Rolle des schöpferischen oder leitenden Individuums in Frage gestellt, das Luzerner Intendantenmodell als veraltet bezeichnet und Michael Haefliger, der das Festival seit 1999 leitet, als Sesselkleber verurteilt. Die Gegenseite wiederum hat das Thema als imageschädigende Anbiederung an den Zeitgeist und als peinliche, ausserdem wenig geglückte Kopie eines vom Davos Festival im letzten Sommer entwickelten Denkansatzes gegeisselt.

So geriet «Diversity» unter dem Strich zu einem Schuss in den Ofen. Das Motto führte zu einer Verschiebung des Fokus vom Künstlerischen auf das Gesellschaftliche, wo es beim Lucerne Festival doch in erster Linie um Musik ginge. Über das am Eröffnungsabend von Anne-Sophie Mutter gespielte Geigenkonzert von Joseph Bologne, Chevalier de Saint-Georges, wurde weniger unter musikalischen Gesichtspunkten diskutiert als unter dem Aspekt der Hautfarbe: dass dem sogenannten schwarzen Mozart nun endlich Gerechtigkeit widerfahren sei. Übersehen wird dabei, dass Diversität längst gelebt wird, etwa beim Philadelphia Orchestra, beim London Symphony Orchester, selbst bei den Wiener Philharmonikern. Und nicht zuletzt präsentierte die Kasse die Quittung. Die vergleichsweise schwache Auslastung der Sinfoniekonzerte von 74 Prozent mag auf Angst vor Ansteckung durch schniefende Sitznachbarn, auf Entwöhnung in den bisher gut zwei Jahren der Pandemie, auf die Sorgen rund um Krieg, Inflation und Klimawandel zurückgehen; keineswegs auszuschliessen ist aber auch, dass das Motto, das so eng mit den heiklen Fragen der Migration verbunden ist, in stärkerem Mass abschreckend gewirkt hat als gedacht.

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Diversität, nun aber im ästhetischen Sinn, führten die Wiener Philharmoniker vor. Ihr wie stets zweiteiliges Gastspiel absolvierten sie unter der Leitung von Esa-Pekka Salonen, dem das Orchester mit auffallender Wertschätzung begegnete – mit seiner jugendlichen Ausstrahlung, seiner mitreissenden Bühnenpräsenz und seiner Kompetenz war der 64-jährige Finne für die beiden Programme genau der Richtige. Wer am zweiten Abend den Saal im KKL Luzern betrat, sah sich empfangen von Schwaden an Bühnennebel, aus denen dann der Festivalintendant Michael Haefliger und die Saxophonistin Valentine Michaud erschienen. Die noch nicht 30-jährige Französin, die seit über zwanzig Jahren in der Westschweiz lebt, wurde von Haefliger vorgestellt als die Trägerin des Credit Suisse Young Artist Award von 2020, die ihren Preis und damit ihr Debüt mit den Wiener Philharmonikern in Luzern aus bekannten Gründen mit einer Verspätung von zwei Jahren erhielt. Mit wenigen, sehr sympathischen Worten stellte sie vor, was sie danach zu bieten gedachte. Danach heisst: nach «Le Tombeau de Couperin» von Maurice Ravel, einem Herzensstück Salonens, schon 2010 hat er es in Luzern vorgestellt, damals mit dem Philharmonia Orchestra. Sehr verinnerlicht, geradezu still liess er diese Musik vorbeiziehen, wenn auch alles andere als unbeteiligt, das gab seine Körpersprache bei aller Sparsamkeit zu erkennen. Die Wiener Philharmoniker wiederum glänzten mit ihrem transparenten, leuchtenden Ton.

Bild Peter Fischli, Lucerne Festival

Dann schlug die Stunde von Valentine Michaud – und ging es zur Sache. Aber wie. Für ihr Début mit den Wienern hatte sie sich die «Peacock Tales» des 68-jährigen Schweden Anders Hillborg ausgesucht, ein unkonventionelles, in unendlich vielen Farben des Pfauenrads schillerndes, auch aberwitzig virtuoses Stück. Ursprünglich als Klarinettenkonzert für Martin Fröst geschrieben, hat Hillborg das Werk auf Anregung und Wunsch der Solistin in eine verkürzte Fassung für Sopran-Saxophon und Orchester gegossen. Da gibt es ebenso zu sehen wie zu hören, vor allem aber zu staunen. Denn hier herrscht nicht nur ein freier, verspielter Tonfall, die Anweisungen für die Aufführung lehnen sich auch ungeniert an die Praktiken im Bereich der Popularmusik an: Diversität der anderen Art. In völliger Dunkelheit tastete sich Valentine Michaud auf das Podium; wie die gezielt eingesetzte, durch besagte Rauchschwaden unterstützte Erhellung eintrat, war eine Musikerin in ausladender, wohl gewiss wieder selbst entworfener Robe zu sehen, deren wehende Teile an einen Vogel denken liessen – und tatsächlich hatte sich Valentine Michaud, so will es der Komponist, auch eine Tiermaske aufzusetzen. Sie tanzte, spielte um ihr Leben und liess sich von den Wienern einen wunderschön gesummten Dreiklang servieren. Was Anders Hillborg, ein talentierter Eklektiker, der von der «Sadomoderne» zu sprechen liebt, von der Solistin verlangt, es ist nicht zu fassen. Ebenso wenig, wie souverän, gleichsam selbstverständlich sie mit den Anforderungen umging.

Darauf die zweite Sinfonie von Jean Sibelius, welche die Wiener Philharmoniker auf der Höhe ihres Vermögens darboten. Esa-Pekka Salonen wandte das Stück, in dem eine eigenartig kreisende Lebenskraft gegen die Melancholie anzukämpfen und sich am Ende durchzusetzen scheint, ohne Scheu, doch jederzeit kontrolliert ins Grosse – hinreissend war das. Ähnliches gilt für den ersten Abend, an dem die «Turangalîla-Sinfonie» Olivier Messiaens angesagt war, ein zehnteiliges Riesenwerk von knapp eineinhalb Stunden Dauer, in dem sich kompromisslose Nachkriegs-Modernität mit der Sinnlichkeit der französischen Spätromantik verbindet. Anstelle der am Handgelenk verletzten Yuja Wang zog der Franzose Bertrand Chamayou, dem bekanntlich nichts zu schwer ist, in bewundernswerter Weise durch die Multiplikation der Töne, während sich an den Ondes Martenot, dem frühen elektronischen Instrument, Cécile Lartigaut bewährte – hie und da vielleicht etwas zu leise. Wer glaubte, die Wiener Philharmoniker könnten nicht laut und schön zugleich klingen, durfte sich durch die üppigen Akkorde in Quintlage mit Sixte ajoutée eines Besseren belehren lassen – Esa-Pekka Salonen machte es möglich. Und klar: Eine derartige Farben- und Formenwelt ist in ihrer Eindringlichkeit nur live im Konzertsaal zu erleben.

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Während Wien sich gerne, und nicht immer zu Recht, als Welthauptstadt der Musik, natürlich der Kunstmusik, versteht, darf sich Luzern, das hat sich in diesem Sommer wieder eindrücklich bestätigt, als Welthauptstadt der Orchesterkultur sehen. In den 33 Sinfoniekonzerten dieses Sommers gab es wieder eine Vielzahl an Überraschungen (vgl. dazu «Mittwochs um zwölf» vom 26.08.22 und vom  02.09.22). Zum Beispiel beim Luzerner Sinfonieorchester, das mit seinem Chefdirigenten Michael Sanderling einen enormen Qualitätssprung hingelegt hat. Die Sinfonie Nr. 6 in h-moll von Peter Tschaikowsky, die «Pathétique», geriet jedenfalls überaus eindrücklich: in vollem, gerundetem Klang der grossen Besetzung und in berührender, nie überschiessender Emotionalität. Zuvor hatten die «Vier letzten Lieder» von Richard Strauss erwiesen, dass Diversität noch keine Qualität garantiert: Die Sopranistin Joyce El-Khoudry stammt zwar aus dem Libanon und zeigte dunklere Hautfarbe, blieb in ihrem vokalen Vortrag jedoch bestenfalls gepflegt. Mitreissend wenig später auch die «Scheherazade» von Nikolai Rimsky-Korsakow, die Antonio Pappano mit dem hochstehenden Orchestra Nazionale di Santa Cecilia aus Rom in einen schwungvoll durchgezogenen musikalischen Erzählfluss band. Und das so geschickt tat, dass die Redseligkeit von Rimskys Handschrift für einmal gar nicht auffiel.

Einen ganz eigenen Glanzpunkt an orchestraler Kultur brachte das London Symphony Orchestra mit seinem Noch-Chefdirigenten Simon Rattle ein. Die Aufführung von Anton Bruckners Sinfonie Nr. 7 in E-dur litt unter einem erschreckenden Beginn, fiel doch ein Hornist dort im Kopfsatz, wo das Hauptthema zum zweiten Mal aufscheint, einem Schwächeanfall zum Opfer und musste vom Podium geführt werden. Ersetzt wurde er sur place von der assistierenden fünften Hornistin, was der jungen Musikerin beim Schlussbeifall einen von Rattle mit der Hand über ihrem Kopf gezeichneten Heiligenschein einbrachte. Der zweite Anlauf führte dann ins Glück. Die Orchestermitglieder hören einander zu und bilden eine unverbrüchliche Einheit mit ihrem Dirigenten. So klang Bruckner trotz grosser Besetzung, übrigens mit auffallendem Frauenanteil, kammermusikalisch leicht und hell, sogar in den Momenten gesteigerter Lautstärke. Und so traten die Instrumentalfarben deutlich heraus, jene der Trompeten bisweilen zu scharf, jene der beiden Flöten hochgradig sinnlich. Mit vorbildlicher Sorgfalt wurde abphrasiert, im raschen Dreivierteltakt des Scherzo waren die Gewichte innerhalb des Taktes klar gegliedert – beides versteht sich keineswegs von selbst, führt aber mit zu jener Lebendigkeit, welche die Wiedergabe auszeichnete.

Lebendigkeit und Intensität brachen auch im Auftritt des Philhadelphia Orchestra aus. Yannick Nézet-Séguin, sein Chefdirigent seit zehn Jahren, weiss sich und das Orchester effektvoll zu inszenieren. Die Damen und Herren ganz in Schwarz. Rot dagegen die Unterlagen auf den Notenpulten, rot der Teppich auf dem eigens aus den USA herbeigeschafften Podest für den Dirigenten, und rot die Sohlen unter dessen Lackschuhen. Das hat seine amüsante, weil ironisch verspielte Seite, steht ihm aber vielleicht etwas im Weg – wo Nézet-Séguin doch ein genuin begabter, ausgezeichnet informierter Musiker ist, wie auch seine vor kurzem bei der Deutschen Grammophon erschienene Gesamtaufnahme der Sinfonien Ludwig van Beethovens hören lässt. Mit aller Feinfühligkeit begleitete er Lisa Batiashvili im ersten Violinkonzert von Karol Szymanowski wie im Poème für Geige und Orchester von Ernest Chausson – und dann setzte er sich ans Orchesterklavier, um der Geigerin bei einer Zugabe zu assistieren. Nach der Pause schliesslich eine feurige Wiedergabe von Antonín Dvořáks Sinfonie Nr. 7 in d-moll. An Effekt fehlte es nicht, und doch verkam das Werk nicht zur Showpiece. Wie kaum je liess es vielmehr die Urkraft spüren, die in dieser Musik steckt.

Grossartig. Wo, wenn nicht am Lucerne Festival, lässt sich solches erleben?

Verwandlungen eines Klangkörpers

Lucerne Festival (I): Das Festivalorchester mit Riccardo Chailly und Yannick Nézet-Séguin

Von Peter Hagmann

 

Da sie mit Mitgliedern aus aller Herren Ländern besetzt seien, klängen die grossen Orchester der Welt allesamt gleich, sagt der eine Pultheroe. Sie hätten ihren eigenen Ton, wer auch immer vor ihnen stehe, meint der andere. Wie falsch beide Meinungen sind, war jetzt wieder in den Abenden mit dem Lucerne Festival Orchestra zu erleben – in zwei Abenden mit drei Neuerungen. Mit dem Kanadier Yannick Nézet-Séguin stand zum ersten Mal ein als solcher engagierter Gastdirigent vor dem Orchester; Pierre Boulez, Bernard Haitink und Andris Nelsons hatten als Stellvertreter für den erkrankten beziehungsweise verstorbenen Chefdirigenten Claudio Abbado gewirkt, Nelsons zudem als Kandidat für dessen Nachfolge. Und mit der Sinfonie Nr. 4 von Dmitri Schostakowitsch drang Nézet-Séguin in ein für das Orchester ganz und gar ungewohntes Repertoire vor. Riccardo Chailly dagegen, der Chefdirigent des Lucerne Festival Orchestra, nahm sich – nach den Eröffnungskonzerten mit Werken von Rachmaninow und Tschaikowsky – die sechste Sinfonie Gustav Mahlers vor und betrat damit erstmals jenes Zentralgebiet, mit dem sich Abbado und das Orchester profiliert hatten.

Obwohl es sich seit dem Abschied von Abbado vor fünf Jahren merklich verändert hat, nicht zuletzt in seiner Besetzung, verfügt das Lucerne Festival Orchestra, so empfinde ich es, noch immer über einen eigenen Ton, über seinen Ton. Sowohl im lautesten Bereich, der seit Abbados Tod allerdings enorm an Kraft zugenommen hat, als auch in den glanzvollen solistischen Präsentationen, wie sie von Jacques Zoon an der Flöte, Lucas Macías Navarro an der Oboe, Alessandro Carbonaro an der Klarinette und Guilhaume Santana am Fagott sowie von dem Hornisten Ivo Gass, dem Trompeter Reinhold Friedrich und dem Posaunisten Jörgen van Rijen getragen werden. Dazu kommen nun aber die Handschriften der Dirigenten, die sich doch klar voneinander unterscheiden – auch wenn sowohl Riccardo Chailly als auch Yannick Nézet-Séguin ihre deutlichsten Akzente im Fortissimo setzen. Es rauscht so mächtig, wie es zu Abbados Zeiten niemals der Fall war. Ob das Laute tatsächlich so laut klingen muss, das ist allerdings eine Frage, die an dieser Stelle offen bleiben muss.

Riccardo Chailly führt das Lucerne Festival Orchestra an straffem Zügel; entschieden ist seine Zeichengebung und, wie es der aus der Oper stammenden italienischen Tradition entspricht, oft in kleinen Einheiten des Schlags gehalten. Auf dieser Basis legte Chailly Mahlers Sechste ganz und gar im Denken und im Klang der Moderne aus. Wuchtig eröffnete der Kopfsatz mit seinem Schicksalsmotiv, mit den markanten Paukenschlägen und dem Dreiklang, der von Dur nach Moll schreitet – doch trotz der muskulösen Klanglichkeit herrschte ein hohes Mass an Transparenz. Dass darauf das Andante moderato des dritten Satzes folgte – die Reihenfolge der Sätze bleibt in Diskussion –, erschien als logisch; weniger überzeugend wirkte dagegen die gezügelte Emphase, ja die Nüchternheit dieser so berührenden Musik. Das wilde Scherzo und das sich mächtig aufbäumende Finale bildeten dann fast eine Einheit bis hin zudem gewaltigen Schluss, in dem das Schicksalsmotiv noch einmal anklingt, diesmal allerdings ohne die Erlösung nach Dur. Ausgefeilt die Lesart des Dirigenten, hervorragend die Präsentation des Orchesters – und gleichwohl blieb jener Rest an Distanz, der nun einmal zu Chailly gehört.

Vor der Macht des Schicksals die ganz einfache, brutale Macht der Mächtigen – nämlich Schostakowitschs Vierte. Sie stammt aus der Zeit, da der Komponist, nicht zuletzt mit seiner Oper «Lady Macbeth von Mzensk», seine ästhetische Position erfolgreich konsolidiert hatte, und in der er zugleich die heftigsten Schläge vonseiten der Staatsmacht entgegennehmen musste, zum Ausdruck gebracht durch den berühmt-berüchtigten Artikel «Chaos statt Musik» in der «Prawda». Genau in diesem Licht, mithin von einem biographischen Ansatz aus, scheint mir Yannick Nézet-Séguin seine Deutung dieser weit ausgreifenden, riesig besetzten Sinfonie angelegt zu haben. Die brutale Repression durch den Staatsapparat und dessen Demaskierung im grellen Operettenton, die Zartheit der in der Komponierstube keimenden Individualität und die immer wieder durchbrechende Verzweiflung – all das kam an diesem Abend im Luzerner KKL zu beklemmendem Ausdruck. Gleichzeitig blieben jedoch auch hier Zweifel bestehen. Unter der Leitung Nézet-Séguins, der äusserst agil ohne Taktstock dirigierte, blieben Reste an Äusserlichkeit, die das musikalische Geschehen nicht wirklich seinem Eigentlichen vordringen liess. Das Fortissimo klang grell und nahm damit amerikanische Züge an – wie überhaupt viele Momente der orchestralen Farbgebung plakativ wirkten. Ein Gastdirigent an der Seite des Chefdirigenten wäre vielleicht das Richtige für das Lucerne Festival Orchestra. Nur müsste es ein höchst qualifizierter, scharf profilierter Künstler sein.

Zur Überraschung des Abends mit Nézet-Séguin geriet allerdings das Vorspiel vor der Sinfonie Schostakowitschs, das in seiner unerhört deutlichen Aussage zur Hauptsache wurde: das Violinkonzert Ludwig van Beethovens mit Leonidas Kavakos, dem vielbeschäftigten «artiste étoile» dieses Sommers, als Solisten. Kavakos bot das Konzert als das Gegenteil dessen dar, was heute angesagt ist. Es kam in einer zutiefst restaurativen Interpretation daher, geriet im Rahmen dieser Prämisse aber zu einem wahren Wunderwerk. Sehr warm, aus der Tiefe heraus leuchtend der Ton der Stradivari, die Kavakos spielt. Und sehr langsam die Tempi, denkbar weit entfernt von dem, was man heute für ein originales Tempo bei Beethoven hält. Innerhalb der sehr gemässigten Verläufe herrschten jedoch eine musikalische Natürlichkeit und ein Reichtum an Ausgestaltung im Einzelnen, die wahrhaft staunen liessen. Dazu kamen die Kadenzen, die Kavakos der Klavierfassung des Konzerts entnommen, aber phantasievoll und verspielt angereichert hat. Zusammen mit Yannick Nézet-Séguin folgte das Lucerne Festival Orchestra dem Solisten bis in kleinste Regungen hinein. Für mich ein Höhepunkt im bisherigen Verlauf des Festivals.