Beethovens fulminanter Aufbruch – ins Licht gestellt

Von Peter Hagmann

 

Sie galten ihm als Schülerarbeiten, darum hat Ludwig van Beethoven die drei Klavierquartette, die er 1785 noch vor seinem 15. Geburtstag niedergeschrieben hat, nie zur Publikation freigegeben; erst 1828, ein Jahr nach des Komponisten Tod, erschienen die Werke im Druck. Den aufmerksamen Zuhörer lehren sie das Staunen. Das Staunen über einen Halbwüchsigen, der, für den Unterhalt seiner Geschwister verantwortlich, der gleichaltrigen Tochter eines Bonner Hofbeamten Klavierstunden gab und wohl für sie wie ihre drei Geschwister, die Geige, Bratsche und Cello spielten, passende Musik erfand. Und Staunen über einen Anfänger, der seine Vorbilder nicht verleugnete, aber doch andeutete, in welcher Weise er sie hinter sich zu lassen gedachte. Natürlich sind die drei frühen Klavierquartette von Mozart inspiriert; die quirlige Fantasie Beethovens, wie sie etwa die Variationen im mittleren Quartett andeuten, sichert den Stücken aber schon ein erstaunliches Mass an Individualität.

Erfahren werden kann das in einer neuen Aufnahme, die in jeder Hinsicht gelungen ist. Ihr Mentor ist der Italiener Leonardo Miucci, der nicht nur hervorragend Klavier spielt, besonders Hammerklavier, sondern der auch als ausgewiesener Beethoven-Forscher in Erscheinung tritt. Die drei Klavierquartette WoO 36 hat er für den Bärenreiter-Verlag in einer Kritischen Ausgabe vorgelegt, zu der er ein instruktives Vorwort mit zahlreichen Anregungen zur Aufführungspraxis verfasst hat, während er sich in seiner Dissertation den Klaviersonaten Beethovens gewidmet hat. So versteht sich, dass die drei Klavierquartette Beethovens in einem Ton erklingen, der dieser Musik angemessen ist, mithin mit einem Optimum an stilistischem und aufführungspraktischem Bewusstsein in Klang gebracht werden. Das führt zu erstaunlichen Resultaten – was umso bemerkenswerter ist, als Kammermusik in historisch informierter Aufführungspraxis noch immer ein Schattendasein fristet.

Leonardo Miucci hat für die Aufnahme die Kopie eines 1790 entstandenen Hammerflügels von Johann Lodewijk Dulcken zur Hand; Dulcken war ein beruflich Verwandter von Johann Andreas Stein, dessen Instrumente zu Beethovens Zeit in Bonn verbreitet und geschätzt waren. Umgeben hat sich Miucci mit Kolleginnen aus dem Bereich der alten Musik. Die Geigerin Meret Lüthi, Leiterin des Berner Ensembles «Les Passions de l’Ame», spielt eine Geige von Paolo Antonio Testore aus dem frühen 18. Jahrhundert, die Japanerin Sonoko Asabuki, die zuletzt an der Schola Cantorum Basiliensis studiert hat, lässt die Kopie einer Bratsche von Andrea Guarneri erklingen, der Cellist Alexandre Foster, ebenfalls an der Basler Schola ausgebildet und heute wie Miucci und Lüthi an der Berner Musikhochschule tätig, bedient ein Cello von Jacobus Stainer von 1673. Die Instrumente, klanglich allesamt ausserordentlich charakteristisch, bilden aber nur die eine Seite der Medaille.

Die andere gilt der Spielweise und dem interpretatorischen Temperament. Furios und lustvoll spielfreudig packt das Ensemble die Musik des jungen Beethoven an – die dadurch überhaupt nichts Niedliches bekommt, vielmehr ihr Stürmisches, auch ihr stürmisch Vorausblickendes herzeigt.  Blendend der Klang, der trotz der ausgeprägten Eigenheit der vier Instrumente in ein sinnvolles Ganzes gefasst ist, zugleich aber die einzelnen Stimmen, wenn es denn gefordert ist, mit scharfem Profil versieht. Dass hier nach Regelwerken musiziert wird, kommt als Eindruck keinen Augenblick lang auf – dabei wird tatsächlich nach dem aktuellen Forschungsstand agiert. Die Tempi sind nicht einfach gerade durchgezogen, sie werden vielmehr dem erwünschten Ausdruck gemäss modifiziert, was zu geschmeidig lebendigem Fluss führt. Nuanciert gepflegt wird von Leonardo Miucci auch die heute so gut wie vergessene Manier des asynchronen Anschlags, der leichten Verschiebung des Melodietons gegenüber den Begleitstimmen.  Und dass, wo es sich anzeigt, stilsicher extemporiert wird, verleiht der Aufnahme besonderen Reiz. Jugendwerke werden hier vorgeführt; sie sind aber voll beim Wort genommen.

Ludwig van Beethoven: Drei Klavierquartette WoO 36 (1785). Leonardo Miucci (Hammerklavier), Meret Lüthi (Violine), Sonoko Asabuki (Viola), Alexandre Foster (Violoncello). Dynamic 7854 (CD, Aufnahme 2018, Publikation 2020).