Kreative Eruptionen

Matinee mit La Scintilla im Opernhaus Zürich

 

Von Peter Hagmann

 

Dass ein Konzert mehr als angenehme Unterhaltung, ja mehr als erhabenen Genuss bieten kann, dass es auch wahre Sprengkraft zu entwickeln vermag – der jüngste Auftritt von La Scintilla, der «Barockformation» aus dem Orchester der Oper Zürich, hat es erneut bestätigt. Auf dem hochgefahrenen Orchestergraben und der Bühne sassen Musikerinnen und Musiker, die Instrumente bedienten, wie sie zur Entstehungszeit der vorgetragenen Werke üblich waren – eine Praxis, die im Opernhaus auf die frühe Zeit mit Nikolaus Harnoncourt zurückgeht, der dieses nach 1970 Feuer entzündet hat. Besonders die Rede war vor dem Sonntags-Konzert der Scintilla zum Beispiel von einer Oboe aus dem Bestand der Allgemeinen Musikgesellschaft Zürich, die um 1850 unter der Leitung Richard Wagners gespielt worden ist. Sie ist nachgebaut und in diesem Konzert verwendet worden – recherchieren und ausprobieren gehören in diesem Feld der Musikpraxis unbedingt dazu. Und der Gewinn lässt nicht auf sich warten.

Am Pult der Scintilla stand Riccardo Minasi, der künstlerische Leiter des Orchesters: von Haus aus Geiger und längst ein erprobter Spezialist der historischen Aufführungspraxis, vor allem aber ein Temperamentsbündel erster Güte. Als Dirigent der italienischen Tradition schlägt er gerne kleinteilig und führt er das Orchester straff, was nicht immer letzte Präzision ergeben hat. Doch die Intensität, mit der Minasi seine klar erkennbaren Ansätze der Interpretation an das Orchester weitergab, wurde von den Musikerinnen und Musikern mit hoher Aufmerksamkeit aufgenommen und mit blendender Kompetenz in Klang gebracht. Eine anregende, aufregende Reise wurde das, und am Ende liess La Scintilla ihren Maestro ebenso hochleben, wie es das Publikum im gut besetzten Opernhaus tat.

Den Anfang machte die Ouvertüre zu Richard Wagners «Tannhäuser», dies als Beitrag zum Wagner-Schwerpunkt der Zürcher Oper mit ihrem mittlerweile vollendeten «Ring des Nibelungen» und überdies als Erinnerung an die Jahre fruchtbaren Wirkens, die Wagner zwischen 1849 und 1858 in Zürich verbrachte. Die «Tannhäuser»-Ouvertüre ist ja ein Stück von ausgesuchter Schönheit; in aller Pracht trat das in der Aufführung ans Licht. Anders als es heute üblich ist, leben die Instrumente des 19. Jahrhunderts von ihrem Spektrum an den Obertönen, was ihre Individualität unterstreicht. Im Zusammenwirken ergibt das weniger den heute geschätzten Mischklang, sondern eher einen Spaltklang, der genau darum in vielerlei Farben schillert. Weich und getragen der Anfang. Die Balance gelang schlechterdings perfekt, nichts trat störend in den Vordergrund, und wenn die Streicher ihre Leittöne mit wenig oder gar keinem Vibrato auf das Ziel hin zogen, stieg die Temperatur schon merklich an. Sobald das Tempo anzog, brach der reine Enthusiasmus aus – durchsetzt mit Inseln der Ruhe, in denen etwa der Klarinettist sein Solo in aller Freiheit ausformen konnte. Stürmisch, aber klanglich agil ging es auf den Schlusspunkt zu – und dann musste erst einmal durchgeatmet werden.

Mit dem Violinkonzert in e-Moll von Felix Mendelssohn Bartholdy nahm das Staunen weitere Dimensionen an. An seiner mit (wohl umsponnenen) Darmsaiten bespannten Geige von Ferdinando Gagliano aus dem späteren 18. Jahrhundert setzte Ilya Gringolts von Anfang auf deutlich ausgespielte Expressivität. Nicht zuletzt manifestierte sich das im reichen Einsatz des Portamentos, jenes Gleitens vom einen Ton zum anderen, das man heute vielleicht nicht mehr so mag, das jedoch in den aufführungspraktischen Schriften des ausgehenden 19. Jahrhunderts, etwa der Geigenschule von Joseph Joachim, ausführlich thematisiert wird. Jedenfalls geriet Gringolts eine sehr persönliche, Virtuosität und Kantabilität überzeugend verbindende Lesart. Nach einem etwas unverbindlich geratenen Einstieg baute sich im Kopfsatz eine drängende Spannung auf; ihre Lösung fand sie in der ganz entspannten Einleitung des Mittelsatzes. Belebend wirkten hier die Gewichtsetzungen, welche die Musik zum Sprechen bringen, grossartig auch die Vielgestaltigkeit der Artikulation. Und dann das Finale: ein Hexentanz in atemberaubendem Tempo, aber einer mit zirzensischer Lust. La Scintilla hielt sehr wacker mit.

Schliesslich die «Eroica», die Sinfonie in Es-Dur Ludwig van Beethovens. Hier war die Ausgangslage eine andere. In die Sinfonien Beethovens hat die historische Praxis vor langem schon Einzug gehalten, die der Fülle der ganz unterschiedlichen Auffassungen in dieser Stilrichtung bezeugt eine reiche Auswahl an CD-Aufnahmen. Dazu kommt, dass das Tonhalle-Orchester Zürich in seiner grossen Zeit mit David Zinman ein ganz neues Beethoven-Erlebnis in die Stadt gebracht hat. Die Hürden waren also hoch – für La Scintilla und Riccardo Minasi kein Problem, sondern Ansporn. Die von Beethoven mit Hilfe seines Metronoms vorgegebenen Tempi führten sie als plausibel vor, vor allem im Trauermarsch des zweiten Satzes, der kein dumpfes Dröhnen hören liess, der vielmehr eine Atmosphäre berührender Trauer schuf und das in flüssigem Voranschreiten tat. Ausgeprägt lebte die Aufführung auch vom Instrumentarium – insofern nämlich, als in dieser Art der Besetzung die Akzente zugespitzt werden konnten und dementsprechend in die Knochen fuhren, ohne dass das Gehör strapaziert wurde. An der Verwandtschaft zwischen dem Finale der Sinfonie und dem Klang der Befreiung in der Oper «Fidelio» war hier kein Zweifel.

«Vier Jahreszeiten» – von Verdi wie von Vivaldi

 

Von Peter Hagmann

 

Das Kulturleben ist stillgelegt, Oper und Konzert sind ausgesetzt – versteht sich: Die Öffentlichkeit, welche die Musik braucht wie wir die Luft zum Atmen, ist noch immer gefährlich. Musikkritik muss daher ausfallen. Allein, stimmt das wirklich? Oder stimmt es vielleicht nur bedingt? In unseren multimedial durchzogenen Tagen kennt die Musik ja auch andere Formen des Daseins, mediale eben. Darum bleibt «Mittwochs um zwölf» fürs erste in Betrieb: mit Home Music, nämlich mit Hinweisen auf empfehlenswerte Neuerscheinungen oder Schätze aus dem Archiv.

 

Verdi auf Instrumenten, wie sie zur Entstehungszeit der Kompositionen üblich waren, das ist selten, gibt es aber doch schon. 2017 wurde in der Polnischen Nationaloper Warschau «Macbeth» aufgenommen – mit dem Geiger und Dirigenten Fabio Biondi und seinem «Originalklang»-Ensemble Europa Galante. In diesem Geist folgen jetzt La Scintilla, das Barockorchester des Opernhauses Zürich, und der Geiger Riccardo Minasi als sein Leiter – und dies mit nicht weniger spektakulären Ergebnissen. Als Giuseppe Verdi 1855 an der Pariser Oper mit der Uraufführung von «Les Vêpres siciliennes» in Erscheinung trat, hatte er natürlich auch Ballettmusik zu liefern, das war eine strikte Anforderung des Hauses. Mit Widerwillen hat sich Verdi dem Diktat unterworfen; «Tarantelle» nennt sich der Einschub in den zweiten Akt, «Les Saisons» der in den dritten Akt. Herausgekommen ist, gerade in «Les Saisons», handwerklich untadelige, im Einfall aber doch konventionelle Ballettmusik.

Daraus muss in der Interpretation etwas gemacht werden. La Scintilla tut das, und wie. Gleich zu Beginn fällt es ins Ohr. In der musikalischen Erfindung ist der Winter, mit dem Verdi beginnt, als solcher kaum zu erkennen, dafür bietet die Interpretation mitreissende rhythmische Genauigkeit, auffallende Beweglichkeit in den einzelnen Stimmen wie im Tuttti und eine eigenartige Farbigkeit. Das machen eben die Instrumente und die mit ihnen verbundenen Spielweisen – die schlanken Blechbläser, die obertonreichen Holzbläser, die in der Regel ohne Vibrato zum Klingen gebrachten Streicher. Stimmungsvoll beginnt der Frühling, mit Tremoli der Streicher, Arpeggien der Harfe und Vogelgesang, worauf ein herrliches Ständchen der Klarinette folgt. Auch im Sommer glänzen Holzbläser: die Flöte mit ihrer grossen Kadenz, die wunderbar kehlige Oboe mit einer sehnsüchtigen Kantilene. Der Herbst schliesslich gerät zum derben Winzerfest mit spritzigen Tanzrhythmen, mit tonschönen Einwürfen des Cellos und den für einmal nicht dröhnenden, sondern zeichnenden Beiträgen der Posaune. Hätte er sie so gehört, Verdi hätte mit der Balletteinlage seinen Frieden gemacht.

Der Clou der neuen Produktion aus dem Opernhaus Zürich – das spricht eben für die CD als konzipiertes Album – besteht nun freilich in der Kombination von Verdis «Saisons» mit «Le quattro stagioni» (1725) von Antonio Vivaldi, einer durch den musikalischen Betrieb abgewetzten Sammlung von vier Geigenkonzerten, die hier in ganz neuem Licht erscheinen. Riccardo Minasi – das hat auch der leider nicht mitgeschnittene Abend mit den Brandenburgischen Konzerten Bachs von 2019 erwiesen – scheut kein Risiko: Er kann es sich erlauben, denn seine Agilität auf der Barockgeige sucht ihresgleichen, und La Scintilla bleibt ihm in keinem Augenblick etwas schuldig. Dementsprechend weit gespannt ist der klangliche Horizont. Der Frühling hebt gleich mit markanten Kontrasten an – mit solchen zwischen den beiden Geigengruppen im Orchester, aber auch solchen zwischen dem mit üppigem Continuo versehenen Ripieno und dem von Verzierungskunst geprägten Concertino. Die Diminution – das Einfügen quirliger Tonfolgen in ruhige Verläufe – bricht sich erstmals im langsamen Mittelsatz des Frühlings Bahn, bestimmt in der Folge das Geschehen aber immer wieder. Der Sommer besticht durch die Vielfalt der Artikulation und die furianten Ausbrüche von Blitz und Donner. Auch bei Vivaldi wird der Herbst zum ausgelassenen Fest, doch tut der junge Wein hier rasch seine Wirkung, wovon der süsse Schlummer im Mittelsatz mit den süchtigmachenden Akkordbrechungen des Cembalos zeugt (bedauerlich, dass die CD keine Namenliste der Mitwirkenden enthält). Fassbar lautmalerisch gerät schliesslich der Winter mit seinen Stellen brüchigen Eises.

Schade nur, dass die CD die Sonette zu den vier Stücken mit ihren programmatischen Hinweisen nicht mitliefert. Wer im Hören die Bedeutung der Musik Vivaldis im Blick hat, vermag zu erfassen, wie scharf Minasi und die Scintilla die kleinteiligen Verläufe zeichnen – und mit welcher Kunst sie das Mosaik doch wieder zu einem Ganzen fügen.

Antonio Vivaldi: Le quattro stagioni. Giuseppe Verdi: Les Vêpres siciliennes, daraus Les Saisons, das Divertissement aus dem dritten Akt. Orchestra La Scintilla, Riccardo Minasi (Leitung). Philharmonia Rec 0112 (CD, Aufnahme 2019, Produktion 2019).

Feuerwerk mit Cembalo

Bachs Brandenburgische Konzerte mit La Scintilla im Opernhaus Zürich

 

Von Peter Hagmann

 

Anfangs wollte nicht alles gelingen. Im ersten der sechs Brandenburgischen Konzerte Johann Sebastian Bachs, das diesen insgesamt hinreissenden Auftritt der Scintilla auf dem zugedeckten Orchestergraben im Opernhaus Zürich eröffnete, ging den beiden Hornisten manches daneben. Das Naturhorn zu bändigen ist anspruchsvoll, aber so viel Schräges muss nicht sein. Schief war auch die klangliche Balance, denn zusammen mit den drei sonoren Oboen dominierten die zwei Hörner den Gesamtklang restlos – der Violino piccolo und die so gut wie solistisch besetzte Streichergruppe hatten da nicht viel zu melden. Die Probleme setzten sich ins zweite Konzert fort, wo die äusserst engagiert gespielte Blockflöte durch die zwar historische, aber doch sehr präsente Trompete ins Hintertreffen versetzt wurde. Eine andere Welt tat sich im dritten, dem mit je drei Geigen, Bratschen, Celli und Continuo besetzten Konzert auf. Da konnte man sich voll einlassen – zum Beispiel auf die reichhaltig gestaltete Artikulation, die, wie es in der historisch informierten Aufführungspraxis inzwischen üblich ist, auch dem Legato wieder seinen Raum liess. Fragwürdig nur, dass das Adagio des zweiten Satzes, von dem bloss zwei Akkorde in halben Noten notiert sind, nicht durch eine improvisierte Kadenz bereichert wurde. Sie wäre an dieser Stelle zweifellos fällig gewesen – und ebenso zweifellos wäre der Geiger Riccardo Minasi, seit dieser Saison sozusagen als Chefdirigent des an der Zürcher Oper wirkenden Barockorchesters tätig, in der Lage gewesen, sie auszuführen. Etwas ernüchtert ging man die Pause.

Um danach gleich in der angenehmsten Weise aufgeweckt zu werden. Im vierten Konzert wirkten Minasi, nun an einer Violine in normaler Grösse, sowie die beiden wunderbaren Blockflötistinnen Martina Joos und Sibylle Kunz in animierter Spielfreude mit den Streichern und dem Continuo zusammen. Noch und noch gab es Überraschungen im Wechsel zwischen gestossenem und gebundenem Spiel, auch durch Verzögerungen und Beschleunigungen. Herrlich ausgeglichen zudem der Klang. Und was der Bassist Dariusz Mizera mit ebenso tragendem wie elegant springendem Untergrund betrug, war köstlich. Danach aber, im fünften Konzert, jenem im D-Dur für Traversflöte, Violine, Cembalo und Streicher, brach ein Feuerwerk aus, wie es nur alle Schaltjahre vorkommt. Sensibel trat Maria Goldschmidt mit ihrem gehauchten Flötenton in Erscheinung, als leitender Geiger brachte Riccardo Minasi sein lebendiges Temperament ein – und vor allem war da der Cembalist Mahan Esfahani. Artig, aber doch auch schon ziemlich besonders trug er zum Basso continuo bei, doch als er im Kopfsatz zu seiner wirbelnden, blitzenden Kadenz kam, legte er alle Zurückhaltung ab. In trockenem Non-Legato perlten die Läufe, sinnliches Über-Legato schuf Klangräume, als ob sein Cembalo ähnlich dem Klavier über ein Pedal verfügte, während der effektvolle Einsatz der beiden Manuale zu einer dynamischen Steigerung führte, die einer Orgel würdig schien. Fulminant schloss er ab – worauf wie im Jazzkonzert spontaner Zwischenapplaus ausbrach und es nach dem Satzende fast nicht weitergehen konnte. Sehr zart danach der Mittelsatz, der von geschmackvollem Jeu inégal getragen war – man konnte in diesem Brandenburgischen Konzert die ganze wiederauferstandene Kunst des Cembalospiels kennenlernen. Mit seinen zwei solistisch eingesetzten Bratschen brachte dann das sechste, wiederum von Streichern geprägte Konzert einen beschwingten Abschluss.

Zwanzig Jahre alt, scheint La Scintilla, eines der Alleinstellungsmerkmale des Opernhauses Zürich, bestens unterwegs. Beim Hinausgehen dachte ich, von denen würde ich mir sogar die «Vier Jahreszeiten» Antonio Vivaldi schenken lassen. Der Wunsch wird erfüllt, im nächsten Konzert gibt es vier Jahreszeiten: solche von Vivaldi und solche von – Verdi.