Hannes Meyer – der Organist, der ins Freie trat

 

Von Peter Hagmann

 

Unglücklich geht die musikalische Saison 2019/20 zu Ende; in voller Fahrt wurde sie zu Fall gebracht, gestoppt durch ein Virus und die mit seiner Verbreitung verbundenen Folgen. Ab Mitte März herrschte behördlich verfügtes Schweigen in Oper und Konzert, weshalb es «Mittwochs um zwölf» nichts mehr zu berichten gab. So ist der Blog denn auf die Beobachtung des (inzwischen auch im Streaming abgebildeten) CD-Marktes ausgewichen – wo es immerhin manch Bemerkenswertes zu entdecken gab. Das Beste folgt aber hier und jetzt, als eine kleine Überraschung der anderen und vielleicht erheiternden Art.

Der Zufall spielte mir dieser Tage eine vor mehr als vierzig Jahren entstandene Langspielplatte auf den Tisch – nein, auf den Teller, denn tatsächlich hatte der Plattenspieler seinen Geist nicht aufgegeben. «SpielOrgelSpiel» nennt sich die von dem Schweizer Label Claves unter der Verkaufsnummer P 702 aufgelegte Platte. Im Antiquariat mag sie noch zu finden sein, im Netz ist sie in der originalen Fassung nicht greifbar, ähnliche Versionen gibt es auf den diversen Plattformen aber durchaus. «SpielOrgelSpiel» bietet ein klingendes Porträt des 2013 im Alter von 74 Jahren verstorbenen Organisten Hannes Meyer. Eines Könners erster Güte, aber eines ganz und gar untypischen Vertreters seines Fachs.

Davon spricht schon das erste Stück auf der Langspielplatte von 1977: die von Hannes Meyer eigenhändig komponierte «Schanfigger Bauernhochzeit». Drei Teile folgen einander im Rahmen von knapp fünf Minuten: ein Hochzeitsmarsch, ein Walzer mit Jodel, ein Schottisch. Der Klang ist der authentischer Volksmusik, nur entstammt er der Imagination von Hannes Meyer und entsteigt er den Pfeifen der wunderschönen Orgel in der Kirche Hilterfingen am Thunersee. Wer das Stück gehört hat, ist sogleich guter Dinge. Das liegt an den strahlenden, charakteristischen Farben der Registrierung. Es liegt am Rhythmus, der äusserst lüpfig wirkt, und er tut das, weil er mit allerletzter Präzision realisiert wird. Vor allem aber liegt es an der Artikulation, am bewussten, pointierten Umgang mit der Länge der einzelnen Töne, einem zentralen Ausdrucksmittel des Organisten. Volksmusik erklingt hier, dargeboten jedoch mit allem Raffinement der Kunstmusik.

Hannes Meyer war eine durch und durch ungewöhnliche, unkonventionelle Erscheinung. Ein Genussmensch war er. Bei Speis und Trank ohnehin, erst recht aber beim Orgelspielen. Zu seinem Instrument hatte er nicht nur eine lustvolle, sondern auch eine genuin taktile Beziehung – dies vielleicht darum, weil es mit seinen Augen nicht zum Besten stand und er ohnehin auswendig zu musizieren pflegte. Die Tasten fasste er mit einer eigenartigen Sensibilität an. Und auch wenn bei der Orgel von der Taste bis zu jenem Ventil, das die Luft in die Pfeife strömen lässt, ein komplizierter Weg zurückgelegt wird, ergab sich bei Hannes Meyer der Eindruck, dass ihn mit jedem Ton, der aus dem Instrument hervorklang, eine individuelle, höchstpersönliche Beziehung verband. Eine Achtsamkeit ganz eigener Art war da am Werk.

Die eigene Art – das galt bei Hannes Meyer auch, und vor allem, für das Repertoire, das er als Organist pflegte. Er war ein Virtuose, dem nichts verschlossen blieb, die Triosonaten Johann Sebastian Bachs nicht, die Orgelsinfonien Charles-Marie Widors nicht – mit der Fünften war er 1979 zu einem Rezital in die Tonhalle Zürich gekommen, zu einem Orgelabend mit Frack und dem Spieltisch auf dem Podium wie bei einem Klavierabend. Mit den ästhetischen Zwängen, die nicht zuletzt von der Evangelisch-Reformierten Kirche gelebt wurden, hatte er jedoch nichts am Hut. Nachdem er 1980 bei einer Trauung im Berner Münster auf Wunsch des Brautpaars den «Hochzeitsmarsch» aus Mendelssohns «Sommernachtstraum» und den von den Wiener Neujahrskonzerten her bekannten «Radetzkymarsch» intoniert hatte, bekam er von Heinrich Gurtner, dem an der Trauung als Zuhörer anwesenden Berner Münsterorganisten, geradewegs Hausverbot, was an die Öffentlichkeit getragen wurde und in der Folge zu Auseinandersetzungen in den Medien führte.

Die Orgel sei für alle da, für die Huren wie für die Pfaffen, befand Hannes Meyer. Und umgekehrt: für die Orgel sei alles da, das Präludium mit Fuge wie das Volkslied und der Zapfenstreich. Das hat er absolut wörtlich genommen. Ausgebildet vom Zürcher Grossmünsterorganisten Hans Vollenweider und dem Basler Komponisten Rudolf Moser, war Hannes Meyer ein einziges Mal angestellt: in dem guten Jahrzehnt zwischen 1967 und 1978 als Organist an der reformierten Kirche Arosa. Seither war er freischaffend tätig, und er lebte nicht schlecht davon. Das darum, weil er die eng mit der Kirche verbundene Orgel ihrer Fesseln entledigte und sie zu den Menschen brachte, hauptsächlich zu den orgelfremden unter ihnen. Er gab nicht nur Konzerte und Kurse auf der ganzen Welt, als geborener Ohrenöffner und Lustmacher bot er etwa auch Orgelwochen an, bei denen er ganztags auf der Orgelbank anzutreffen war und dort Jung und Alt hören, spüren und erfahren liess. Sogar die ganz Kleinen durften auf die Bank hüpfen und dem riesigen Instrument einige Töne entlocken.

Geradezu zwingend verband sich dieses Berufsverständnis mit einem ausserordentlich weiten musikalischen Horizont. Auf die «Schanfigger Bauernhochzeit», die seinen Namen weitherum bekannt gemacht hat, folgen auf der Langspielplatte «SpielOrgelSpiel» ein kurzes Stück von Hannes Meyer zu Ehren des Alphorns, in dem das berühmte Alphorn-Fa, vor dem sich auch Johannes Brahms verneigt hat, nicht fehlt, und später der «Cäcilienmarsch» des Einsiedler Benediktiners Anselm Schubiger. Wer sich heute im Internet nach Aufnahmen mit Hannes Meyer umtut, wird leicht fündig. Zum Beispiel kanner sich eine zweite Ausgabe von «SpielOrgelSpiel», aufgenommen in der Kirche von Bäretswil im Zürcher Oberland, zu Gemüte führen. Dort erklingt etwa der fröhliche Monte-Crappa-Marsch, in dem man Hannes Meyers Umgang mit gebundenen und gestossenen Noten besonders gut verfolgen kann. Und die 1997 bei Tudor erschienene CD «Stars and Pipes Forever» enthält als abschliessendes Feuerwerk eine vom Organisten erstellte Einrichtung von Maurice Ravels Orchesterwerk «Boléro», für die mit Dieter Zimmer ein Schlagzeuger mit von der Partie ist. Dieser spektakuläre Track, auf der Orgel des Münsters zu Konstanz gespielt, lebt ganz toll von Rhythmusgefühl und Farbensinn. Das ist es eben, was, unter manch anderem, das Orgelspiel Hannes Meyers auszeichnete.