Höllenritt mit Britten

«The Turn of the Screw» in den Berner Vidmarhallen

 

Von Peter Hagmann

 

Kunst im Industriebau hat eine eigene, lange Tradition. Einer der Schrittmacher war das Ruhrgebiet, wo Kohle und Stahl Bauten von enormen Dimensionen zurückgelassen haben; wer je einmal Klänge Wagners in der Bochumer Jahrhunderthalle gehört hat, wird es nicht vergessen. Strukturwandel dieser Art gibt es aber auch in der Schweiz, eine ganze Reihe leerstehender, für kulturelle Zwecke umgenutzter Fabrikationsgebäude zeugt davon. Im Zürcher Maag-Areal, im Westen der Stadt, wird derzeit für das dreijährige Exil des Tonhalle-Orchesters ein Konzertsaal eingebaut – wie es vor zwanzig Jahren, als das alte Kunsthaus abgerissen und das neue KKL noch nicht vollendet war, bei den Internationalen Musikfestwochen Luzern der Fall war. Der Besuch in der von-Moos-Halle mit ihrem eigenen Bahnanschluss war ein Erlebnis eigener Art.

Auch in Bern gibt es umgenutzte Industriebrachen, zum Beispiel die Vidmarhallen. Sie liegen, wie in solchen Fällen üblich, etwas peripher; wer sie schliesslich gefunden hat, muss sich zudem erst zurechtfinden in dem lebendigen, bunt gemischten Labyrinth aus Restaurants, trendigen Dienstleistungsbetrieben und der Ecke, an der das Konzert-Theater Bern seine Zelte aufgeschlagen hat. Einmal angekommen, sieht man sich an einem stimmungsvollen Ort mit Bar, minimalistischer Möblierung vor Sichtbetonwänden, farbigen Lichteffekten und einem Grossbildschirm, auf dem sich Ensemblemitglieder vorstellen. Verlässt man das Foyer mit seiner aufgeräumten Stimmung, gelangt man in die Blackbox des Aufführungsraums mit seiner erstaunlich bequemen Bestuhlung. Dort freilich steht Schlimmes an: «The Turn of the Screw» von Benjamin Britten nach einer Erzählung von Henry James.

Ein erschreckendes Stück. Man muss es von ganz nah erleben, um seine Schrecklichkeit zu erfahren – und dafür bieten die Vidmarhallen den optimalen Spielort. Verhandelt wird in Brittens Kammeroper von 1954 das Schicksal eines Geschwisterpaars, das unter ungute Einflüsse gerät. Miles und Flora, Bruder und Schwester, leben als Waisen auf einem Landgut in England: unter der Vormundschaft eines vielbeschäftigten und darum abwesenden Onkels, betreut von einer Gouvernante und einer Haushälterin. Zugleich aber auch beobachtet, indoktriniert, ja gesteuert durch die Erscheinungen des verstorbenen Dieners Peter Quint und von Miss Jessel, einer unter unklaren Umständen ums Leben gekommenen Gouvernante. Welcher Art diese Indoktrinationen sind, wird nicht thematisiert, die biographischen Umstände lassen jedoch annehmen, dass es sich mit der Homosexualität um Brittens eigenes Thema handelt. Die Schule wird in dem von Myfanwy Piper stammenden Libretto ausdrücklich genannt, die Kirche in der Inszenierung Maximilian von Mayenburgs hinzugefügt.

Opfer und Täter: Elias Siodlaczek und Andries Cloete in den Berner Vidmarhallen / Bild Annette Boutellier, Konzert-Theater Bern

In einer Inszenierung übrigens, die äusserst gekonnt schärft und zuspitzt – und weil einem die Darstellerinnen und Darsteller auf die Pelle rücken, ist das von doppelter Wirkung. Die von Frank Lichtenberg gestaltete Bühne bleibt frei, weil das aus dem Berner Symphonieorchester gebildete Instrumentalensemble unter der Leitung des Ersten Kapellmeisters Jochem Hochstenbach in die Höhe gerückt ist, aber auch von seinem Balkon aus prägnant einwirkt. So bleibt Raum für eine ganze Reihe von Spielorten, denen eines gemeinsam ist: das Werk ineinandergreifender Zahnräder, das sich so unerbittlich bewegt, wie sich die Story Schraubendrehung um Schraubendrehung verschlimmert. Besonders eindrucksvoll hier Elias Siodlaczek von den Aurelius Sängerknaben aus dem süddeutschen Calw; als Miles nimmt der Knabe eine eigentliche Hauptrolle ein und bewältigt das in jeder Hinsicht vorbildlich. Sein unsichtbarer, aber um so effizienterer Mentor ist Andries Cloete in der Partie des üblen Quint. Agil wie ein Tänzer und mit einer ebenso präzisen wie biegsamen Tongebung gibt er den Verführer, der genau weiss, welche Saiten er anklingen lassen muss, um das Opfer auf seine Seite zu ziehen: Theatereindrücke von hoher Intensität.

Dasselbe gilt für Mrs. Grose, ein ältliches, hochgradig affektiertes Fräulein, das von Claude Eichenberger mit jeder Faser verkörpert wird. Vielleicht singt sie bisweilen etwas laut – das kann sie durchaus –, und vielleicht bemerkt es der Dirigent hoch oben nicht, sängerisch ist das aber gleichwohl eine Glanzleistung. Nicht weniger packend Oriane Pons als die neue Gouvernante, die hier in etwas hineinschlittert, was sie sich nicht im Traum ausgemalt hätte, und die zugleich immer energischer und immer fataler ins Geschehen eingreift. Etwas an den Rand gestellt, und zwar vom Komponisten selbst, bleiben die Schwester Flora und Miss Jessel als ihr schlechter Geist, doch heben Yun-Jeong Lee und Evgenia Grekova diese beiden Figuren gebührend ans Licht. Wie stark Oper jenseits der Guckkastenbühne wirken kann, hat in Bern schon der Kubus auf dem Waisenhausplatz gezeigt; in den Vidmarhallen setzt es sich fort.