Identität und Camouflage

Verdis «Falstaff» an den Salzburger Festspielen

 

Von Peter Hagmann

 

Regieassistent fliegt, Orson Welles schimpft, Falstaff beobachtet / Bild Ruth Walz, Salzburger Festspiele

Das Einzige, was Christoph Marthaler zu seiner Inszenierung von Giuseppe Verdis «Falstaff» an den Salzburger Festspielen vorgehalten werden könnte, ist das Zuviel. Ein Zuviel des Szenischen. Gewiss, die breite Bühne des Grossen Festspielhauses fordert ihren Tribut; soll nicht leerer Raum dominieren, gibt es nichts anderes als Betriebsamkeit. Und natürlich bietet «Falstaff» trotz kammermusikalischer Anlage so viel Personal auf, dass sich das va-et-vient beinah von selbst ergibt. Nur: Aktiv zuzuhören und wach wahrzunehmen, es fiel schwer an diesem Abend. Das ist bedauerlich.

Denn Verdis Partitur hat es in sich; sie bietet mehr als den Spass, den der Schlusschor besingt, auch mehr als die heilige Einfalt, die sich in mancher Inszenierung breitmacht, zum Beispiel in jener von 2013 an den Salzburger Festspielen mit dem quirligen Regisseur Damiano Michieletto und Zubin Mehta am Pult. «Falstaff» ist ein Stück sprühender Imagination und höchststehenden Handwerks, musikalisch reich an Anspielungen und struktureller Komplexität – ein aufschlussreicher Text des Verdi-Spezialisten Anselm Gerhard im Programmbuch vermittelt einen Eindruck davon. Wer trotz der Absorption durch die Bühne ein Ohr offen hatte, konnte das Potential wahrnehmen, denn Ingo Metzmacher, bekannt für seinen luziden Verdi-Ton, setzte auf Leichtigkeit, legte die Stränge frei und behielt, zumal in den grossen Ensembles wie in der achtstimmigen Schlussfuge, die sich zum Teil eklatant widerstrebenden Verläufe souverän im Griff. Die Wiener Philharmoniker, die bekanntlich auch sehr anders können, standen einhellig an der Seite des Dirigenten und schöpften aus ihrer immer wieder erstaunlichen Wandelbarkeit.

Je weiter der Abend voranschritt, desto deutlicher wurde, dass Christoph Marthaler mit seiner unverkennbaren, zirzensischen Handschrift auf exakt denselben Pfaden wandelte wie der Dirigent. Er liess sehen, auf wie vielen ganz unterschiedlichen Ebenen sich «Falstaff» ereignet. Das gelang ihm, indem er eine weitere Ebene einzog – eine schillernde Ebene des Interpreten, die Distanz schuf und den Blick schärfte. Das Zauberwort hierfür heisst: Orson Welles. Der Schauspieler und Regisseur, von seinem Äusseren und seinem Lebensverhalten her dem Titelhelden von Verdis Oper nicht unähnlich, hat sich verschiedentlich mit der Figur des Falstaff beschäftigt, auch und gerade mit Fragen nach seiner Identität. Tja, wer genau ist Falstaff? Ist er tatsächlich einfach ein beleibter Ritter a.D., der aus Lust oder aus Not den Schürzenjäger gibt? Ist er ein Trump, wie die Schriftstellerin Marlene Streeruwitz in ihrem erfrischenden Essay im Programmbuch nahelegt? Ein gemütlicher, ein bisschen lächerlicher Kerl, aber doch ein Macho, der am Ende mit kurzen Hosen dasteht? Und damit ein Verwandter zumindest von Graf Almaviva aus Mozarts «Figaro»  (vgl. «Mittwochs um zwölf» vom 09.08.23)?

Aber wer ist Falstaff auf der Bühne (und in den Kostümen) von Anna Viebrock? Gerald Finley vielleicht? Nicht doch. Von einem umgebundenen Dickbauch will der hochgewachsene, elegante Kanadier nichts wissen; mit barscher Geste weist er die Assistentin, die ihm das Ding schmackhaft zu machen sucht, in die Kostümabteilung zurück. Er singt auch äusserst gepflegt, ja vornehm, mit sonorem Klang und tadelloser Ausgestaltung. Zugleich tummelt sich jemand auf der Bühne, der mit seinem gewaltigen Bauch sehr an Falstaff erinnert. Er ist es jedoch nicht wirklich, er ist vielmehr Orson Welles (Marc Bodnar), der, das halbvolle Whiskyglas in der Hand und immer wieder gestenreich verzweifelnd, in einem Film über Falstaff Regie zu führen sucht. Marthaler hat ihn als sein alter ego ins Geschehen eingeführt. Und zu sehen ist eine Art «Making of».

Spielort ist ein FiImset mit notdürftigen Kulissen, links ein Vorführraum für die Begutachtung erster Ausschnitte, in der Mitte das nur wenig möblierte Gasthaus «Zum Hosenband», rechts eine Andeutung des Gartens der Familie Ford mit einem leeren, aber wohl doch gepolsterten Bassin, in das immer mal wieder jemand hineinfällt, nur nicht der Protagonist, denn in den Wäschekorb flüchtet nicht er, in ihn setzt sich immer und immer wieder ein wendiger Regieassistent (Joaquin Abella). «Falstaff» ohne korrekt gefüllten und richtig ausgeleerten Wäschekorb – das geht natürlich ebenso wenig wie «Lohengrin» ohne Schwan. Weshalb auch in der zweiten Vorstellung das Publikum in ein wütendes Buh zuhanden des nicht mehr anwesenden Regisseurs ausbrach.

Zu Unrecht. Der neue Salzburger «Falstaff» ist (bei allem optischen Überangebot) Massarbeit vom Feinsten. Schon allein darum, weil sich das clowneske Naturell Christoph Marthalers in so lustvoller Präzision auslebt, wie es bei diesem eminenten Theaterkünstler der Fall sein kann. Den Höhepunkt diesbezüglich bildet jener Moment im zweiten Akt, da Mister Ford, als Signor Fontana verkleidet, den in Geldnöten steckenden Falstaff dafür gewinnt, für ihn, den camouflierten Ehemann, die eigene Gattin zu einem Stelldichein zu animieren – was Falstaff, schwer von Begriff und nichtsahnend, noch so gerne übernimmt. Als Ford bietet Simon Keenlyside, stimmlich in blendender Verfassung, schauspielerisch ganz auf seiner Höhe, ein wahres Kabinettsstück.

Darstellerisch etwas weniger ausgeprägt das Damenquartett, dafür singen Elena Stikhina (Mrs. Alice Ford), Cecilia Molinari (Mrs. Meg Page), Giulia Semenzato mit ihrem hellen, leichten Timbre als Nannetta sowie Tanja Ariane Baumgartner mit ihrer herrlichen Tiefe in der Partie der Vermittlerin Mrs. Quickly allesamt vorzüglich. Das fällt darum ins Gewicht, weil die Inszenierung auch in diesem Fall musikalisch fundiert ist – Marthaler hört gut zu, bevor er seinem Theatersinn Lauf lässt. Je mehr der Librettist Arrigo Boito das Tempo anzieht und je dichter die Partitur wird, desto mehr lichtet sich die Bühne, bis der junge Fenton (Bogdan Volkov, sehr anrührend) sein Ständchen vortragen kann. Erreicht die Verwirrung im Park von Windsor (auch an diesem Moment lässt Mozarts «Figaro» grüssen) ihren Höhepunkt, rollt ein Menschenknäuel heran, in das sich auch Falstaff verwickelt – eine szenische Metapher von eigener Drastik.

Schliesslich die achtstimmige Fuge, von der Verdi ausgegangen sein soll, als das von allen Seiten grossartig gemeisterte Finale des Abends. «Tutto nel mondo è burla, l’uom è nato burlone.» «Alles in der Welt ist Scherz, der Mensch wird als Spassmacher geboren.» Was zu beweisen war.

«Orphée et Euridice» als kopfstehender Albtraum

Glucks Oper in der Fassung von Berlioz und Marthaler in Zürich

 

Von Peter Hagmann

 

Wenn der Lift in die Unterwelt hochfährt: «Orphée et Euridice» in Zürich / Bild Monika Rittershaus, Opernhaus Zürich

Ein Werk wie «Orphée et Euridice» von Christoph Willibald Gluck auf die Bühne zu bringen, erscheint geradewegs als ein Ding der Unmöglichkeit. Was Oper ausmacht – Intrige, Spannung, Personal in Haupt- und Nebenfunktionen –, es ist hier auf ein Minimum reduziert. 1762 in einer italienischen Fassung am Wiener Burgtheater aus der Taufe gehoben und 1774 in einer französischen Version an die Königliche Oper von Paris gebracht, steht das Stück für die Ideen der von Gluck gegen die in Künstlichkeit erstarrte Opera seria in Gang gesetzten Opernreform – für Einfachheit, Natürlichkeit, Wahrhaftigkeit. Nur drei Personen treten in Erscheinung, und die zwei Figuren neben dem Protagonisten sind nicht mehr als Impulsgeber. Eine umso wichtigere Rolle nehmen dafür Chor und Orchester ein.

Die Pariser Aufführung von 1774 brachte Gluck einen Erfolg enormen Ausmasses ein; das Stück blieb über Jahrzehnte hinweg im Spielplan. Als es 1859 in Paris wieder aufgeführt werden sollte, machte sich Hector Berlioz, ein glühender Anhänger Glucks, im Auftrag des Pariser Opernintendanten an die Arbeit und erstellte eine neue Fassung. Als Basis diente ihm die französische Version, er zog aber auch die italienische Ausgabe bei – und vor allem richtete er die Titelpartie, die in Wien von einem Kastraten, in Paris dagegen von einem hohen französischen Tenor gesungen worden war, für eine Altstimme ein, nämlich für die berühmte Sängerin Pauline Viardot-García. In dieser von mancher Seite kritisierten, aber mit einer grandiosen, auch dankbaren Hosenrolle versehenen Fassung kam «Orphée et Euridice» zu neuer Wirkung.

Zu einer Wirkung, die weniger im Aspekt des Gesamtkunstwerks als im rein Musikalischen verankert ist. Nummern wie das «Ballet des ombres heureuses» (der «Reigen seliger Geister» mit seinem Flötensolo) oder die Arie «J’ai perdu mon Euridice» (besser bekannt unter dem italienischen Incipit «Che farò senza Euridice») zeugen davon. In der soeben herausgebrachten Produktion von «Orphée et Euridice», die das Opernhaus Zürich der Pandemie wegen vor leeren Rängen zur Premiere gebracht hat und bis zum 5. April in seinem Streaming-Angebot zeigt, bestätigt sich das. Sowohl der von Ernst Raffelsberger vorbereitete Chor der Oper Zürich als auch die Philharmonia Zürich – beide Kollektive wie stets seit Beginn dieser Saison über Glasfaserkabel aus dem Probenraum am Kreuzplatz zugeschaltet – stellen sich kompromisslos in den Dienst dieser eingängigen und gerade darum so schwierigen Musik.

Entschieden befördert wird dies Engagement durch den Dirigenten Stefano Montanari, einen Repräsentanten der bekanntlich sehr umtriebigen italienischen Szene der historisch informierten Aufführungspraxis. Er lässt die Musik Glucks, wie sie von Berlioz gewandet ist, im Geist des 19. Jahrhunderts klingen: mit differenziert eingesetztem Vibrato und in einer klanglichen Transparenz, in der die Mittelstimmen zu pointiertem Leben finden. Zudem animiert er das Zürcher Opernorchester, das gibt schon die Ouvertüre zu verstehen, zu elegant federnder, energiegeladener Artikulation. Und nicht zuletzt arbeitet er die Farbtupfer, mit denen die Bläser den durchgehenden Streichklang bereichern, mit ebenso viel Sinn für den Effekt wie Sorgsamkeit heraus. Momente der gepflegten Langeweile, wie sie bei diesem Stück durchaus auftreten können, ergeben sich keine.

Dazu kommt nun aber: Nadezhda Karyazina, eine packende Darstellerin des Orphée. Mezzosopranistin sei die junge, in Moskau ausgebildete Sängerin. Das stimmt insofern, als sie ohne Mühe in die Höhe steigt, dort sicheren Halt findet und ausserdem eindrückliche Beweglichkeit vorführt. Vor allem aber vermag sie, bruchlos die Register überwindend, in geradezu bronzen klingende Tiefen zu steigen – ein betörender Stimmumfang. Auf dieser Basis gestaltet sie ihre Partie eindringlich, aber jederzeit so gezügelt, wie es der Musik des Opernreformators geziemt – ausser am Ende, wo Orphée seiner geliebten Euridice in herrischem Ton ansagt, wohin es jetzt des Wegs wäre. Die verstorbene, von der Unterwelt losgelassene Gattin wiederum wird von Chiara Skerath mit einem kraftvollen Sopran gegeben. Ganz anders dann aber Alice Duport-Percier, die als L’Amour, als der die Strippen ziehende Liebesgott, einen hellen, leichten, wunderbar zeichnenden Sopran einbringt. Sehr schön zusammengestellt, dieses Ensemble.

So weit, so gut – nur handelt es sich bei «Orphée et Euridice» hier um ein Stück Musiktheater, und das benötigt die Bühne. Entworfen hat sie, es ist so unverkennbar wie bei den Kostümen, Anna Viebrock. Zu sehen ist kein Styx, kein Hades, kein Elysium, vielmehr ein düsteres Foyer zu einem in zwei Räume geteilten Kaffeehaus, an dessen Tischen sich trefflich dösen, bisweilen aber auch auffahren lässt – und beides wird nach Massen getan, denn als Regisseur ist Christoph Marthaler am Werk. Genau der Richtige in dieser heiklen Lage. Der Chor darf nicht auf die Bühne, also bleibt Raum für eine Gruppe von Schauspielern mit dem krächzenden Graham F. Valentine an der Spitze; er ist der Einzige, der spricht: bedeutungsschwere Sätze zur Volatilität der Wahrnehmung am Anfang und solche über das Ende am Ende. Gezeigt werden dafür Mimik, Gesten und eine Vielzahl kurioser akrobatischer Bewegungen, das eine in Zeitlupe, das andere repetiert – wie es eben zur szenischen Handschrift Marthalers gehört. Und nicht unbedingt sinnstiftend gemeint ist. Immerhin, vieles unterstreicht das Klima eines lastenden Albtraums, etwa die quälenden Zuckungen der Akteure oder der unglaublich schwere Lavastein, auf dem Orphée seine Euridice erwartet. Wer mag, kann da an die zahlreichen Versuche der choreographischen Bewältigung von «Orphée et Euridice» denken.

Hin und wieder darf man sich aber auch ein wenig amüsieren in der ernsten, feierlichen Stimmung, in die man von Gluck und Berlioz versetzt wird. Zum Beispiel dann, wenn eine der beiden Schauspielerinnen, ich glaube, es sei Liliana Benini, mit einem Schlag nervös die obligate Handtasche durchsucht, ein Mikrophon zu Tage bringt und über dieses nach der Art des radiophonen Wunschkonzerts die Glückwünsche verkündet, die Bruno, Luigi und Goffredo ihrer Tante Francesca Nannini aus Bormio zu deren 75. Geburtstag übermitteln und dies mit Hilfe der Philharmonia Zürich und ihrem Dirigenten Stefano Montanari tun – worauf folgt: der «Reigen seliger Geister». Christoph Marthaler, wie er leibt und lebt.