Titan mit Blumine

Mahlers Erste in historisch informiertem Klangbild

 

Von Peter Hagmann

 

Auf Schritt und Tritt überrascht die jüngste Einspielung von Gustav Mahlers Sinfonie Nr. 1. Nicht nur, weil sie als eine «Tondichtung in Symphonieform in zwei Teilen und fünf Sätzen für grosses Orchester», also mit dem Titel der Erstfassung angekündigt wird. Sondern auch und vor allem, weil in dieser Aufnahme die Prinzipien der historisch informierten Aufführungspraxis zur Anwendung kommen. Unter ihrem feurigen Leiter François-Xavier Roth verwenden die Mitglieder des Orchesters «Les Siècles» Instrumente, wie sie zur Zeit der Budapester Uraufführung des Werks 1889 üblich gewesen sein mögen. Ausserdem orientieren sie sich auch an Spielweisen von damals; die Streicher spielen grundsätzlich, aber natürlich nicht immer, ohne Vibrato, und das Klangbild zielt eher auf die Trennung der Farben als auf deren Vermischung.

Das führt schon in der langsamen Einleitung zum Kopfsatz zu heller Klarheit. Interessant, wie die Schichten, die sich hier übereinanderlegen, also solche wahrzunehmen sind. Und grossartig, wie präzis die Akzente gesetzt werden und wie sorgsam die Artikulation ausgeführt ist; beides verleiht dem musikalischen Geschehen scharfes Profil. Weniger gelungen erscheint die Tempowahl. Die Gemächlichkeit, die Mahler in diesem Satz immer wieder fordert (und die ein konstituierendes Merkmal seiner kompositorischen Handschrift darstellt), ist nicht immer überzeugend getroffen; oft geraten Temposteigerungen etwas hektisch – mag sein, dass hier die noch geringe Erfahrung des Dirigenten im Umgang mit diesem Komponisten zu Buche schlägt.

Auf den Kopfsatz folgt nicht wie üblich das Scherzo, sondern ein zweiter Satz unter dem Titel «Blumine», den Mahler später aus dem Werk herausgelöst hat. Das wohl darum, weil er das Werk von einer Tondichtung in zwei Teilen zu einer Sinfonie in vier Sätzen zu verwandeln suchte. Aus dem gleichen Grund entfernte er nach den ersten Aufführungen alle programmatischen Erläuterungen aus seiner Feder, auch den von ihm ursprünglich gewählten Titel «Titan», der auf den gleichnamigen Roman Jean Pauls zurückgeht. Von da her ist nur logisch, dass der Dirigent sowohl im ersten Satz als auch im Scherzo, das in dieser Aufnahme an dritter Stelle steht, die mit der traditionellen Form der Sinfonie verbundenen Wiederholungen auslässt. Musikalisch ist die «Blumine» übrigens ein wundervolles Stück Musik. Schade, dass es so selten zu hören ist – aber wenn man es spielen will, muss man Mahlers sinfonischen Erstling, wie es François-Xavier Roth tut, tatsächlich als Sinfonische Dichtung aufführen.

Auf die «Blumine», die mit einem ganz leisen, von fern her klingenden Harfenakkord endet, folgt ein wildes, wahrhaft stürmisches Scherzo – in dem aber nicht mit Kraftausdrücken operiert wird, sondern mit pointierten Instrumentalfarben, zum Beispiel jener des ventillosen und darum auf Stopfungen angewiesenen Horns. Auffällig, wie wörtlich Roth dafür die Spielanweisungen des Komponisten nimmt. Die Glissandi, in anderen Aufführungen verschämt unterdrückt, werden bewusst als solche herausgestellt, und wenn Mahler an einer Stelle im Trio nach dem Scherzo für Flöte und Oboe «Zeit nehmen» verlangt, führt das zu einem sehr deutlichen Rubato.

Im langsamen Satz erstaunt, dass das Tempo in den ersten Takten überraschend flüssig genommen wird, dass es sich in der Folge aber verlangsamt – soll das auf eine Intention des Dirigenten zurückgehen? Sehr schön dagegen die ausgesprochen geheimnisvoll klingende Volksliedstelle.  Im Finale schwingt sich das Orchester mit seinen Instrumenten aus der Zeit Mahlers zu letzter Kraftanstrengung auf – die als solche auch hörbar wird. Und ohne etwas zu sehen, kann man mit einem Mal verstehen, warum Mahler am Ende die sieben Hornisten, die in dieser Aufnahme eben nicht die Wucht moderner Instrumente einbringen können, um der verstärkten Wirkung willen aufstehen lässt. Alles total spannend – auch wenn Meisterinterpretationen mit Abbado oder Haitink dadurch nicht aus den Angeln gehoben werden.

Gustav Mahler: Sinfonie Nr. 1 mit «Blumine». Les Siècles, François-Xavier Roth. Harmonia mundi  905299 (1 CD, Aufnahme 2018)

Mahlers Sechste mit David Zinman

Das Tonhalle-Orchester Zürich begegnet seinem früheren Chefdirigenten

 

Von Peter Hagmann

 

Nicht nur das neue Licht auf Ludwig van Beethoven prägte die knapp zwanzig Jahre, die David Zinman als Chefdirigent beim Tonhalle-Orchester Zürich verbracht hat. Fast noch nachhaltiger wirkte die Beschäftigung mit Gustav Mahler. Dessen Symphonien durchzogen die Programme der gesamten Amtszeit Zinmans – vom Debütkonzert mit der Dritten 1995 bis zum Abschied mit der Zweiten 2014. Immer und immer wieder liess er diese Partituren auf die Pulte legen, selbst die monumentale (und bis heute umstrittene) Achte erschien zwei Mal. Das schuf eine Kontinuität der Auseinandersetzung, bei der jede Wiederbegegnung einen Schritt nach vorn bedeutete. So war es auch mit der sechsten Symphonie, der «Tragischen», die Zinman jetzt bei seinem jährlichen Gastspiel, wie es seit seinem Rücktritt Tradition geworden ist, wieder zur Hand genommen hat.

Die stete Wiederholung des Gleichen, die der klassischen Musik so gerne vorgeworfen wird, hat eben durchaus ihre Vorteile. David Zinman bestätigt es, wenn er zur jüngsten Zürcher Aufführung von Mahlers Sechster bemerkt, er habe in der Zürcher Tonhalle nicht von vorne beginnen müssen, sondern an das Erarbeitete anschliessen und im Aufbau weiterfahren können. Das stimmt auch unter Berücksichtigung der Tatsache, dass sich ein Orchester durch die personelle Fluktuation nach und nach verändert – denn implizit, im Kern des Klangkörpers, gibt es jenen Schatz an Überlieferung, der von Musiker zu Musikerin weitergegeben wird. Tatsächlich hat Zinman Mahlers Sechste mit dem Tonhalle-Orchester, Irrtum vorbehalten, drei Mal erarbeitet. Ein erstes Mal 2003, 2007 dann im Rahmen der bei Sony erschienenen Gesamtaufnahme der Symphonien Mahlers und schliesslich 2011, als das Tonhalle-Orchester nach Leipzig eingeladen war, wo Riccardo Chailly mit dem von ihm geleiteten Gewandhausorchester ein grosses Mahler-Fest veranstaltete.

Der Vergleich mit der CD-Aufnahme von 2007 bringt schlagend an den Tag, wie sehr die Wiederholung des Gleichen von pulsierendem Leben zeugen, wie deutlich sich nämlich eine Interpretation bei erneutem Zugang verändern kann. Gleich geblieben ist freilich die Wahl der Fassung. Mahlers Sechste, 1903/04 komponiert, ist 1906 ja in drei kurz hintereinander erschienenen Ausgaben veröffentlicht worden. Die erste Fassung vom Anfang jenes Jahres dürfte für die Uraufführung vom 27. Mai 1906 in Essen verwandt worden sein. In der zweiten Fassung, kurz nach der Uraufführung erschienen, sind die beiden Mittelsätze vertauscht, ist das Scherzo von der ursprünglich zweiten Position auf die dritte verschoben, während das Andante moderato vom dritten zum zweiten Satz geworden ist. Die dritte Fassung aus der zweiten Jahreshälfte wiederum wartet mit nicht unbedeutenden Retouchen an der Instrumentation auf, vor allem aber mit der Streichung des dritten jener drei Schicksalsschläge, bei denen ein grosser Holzhammer auf eine Kiste niederzufahren hat. Heute wird im allgemeinen diese dritte Fassung gewählt, doch fällt diese Entscheidung in keinem Falle leicht, das betont auch David Zinman. Er nehme die Fassung letzter Hand, weil Mahler (auch bei der Uraufführung?) diese Version dirigiert habe – aber im Grunde müsste er noch viel mehr lesen, um zu einer besseren Entscheidungsgrundlage zu finden.

Während also die Wahl der Fassung gleich geblieben war, zeigte das klangliche Erscheinungsbild von Mahlers Sechster in der jüngsten Deutung durch das Tonhalle-Orchester Zürich und David Zinman bedeutende Veränderungen. Auch diesmal gaben die Musiker ihrem Chefdirigenten, was sie zu geben vermögen. Sie agierten ganz und gar auf der Stuhlkante: hingegeben an die Intentionen Zinmans, reaktionsfähig und leistungsbereit bis zum Letzten, klanglich auf bestem Niveau. Mag sein, dass sich in dieser geradezu demonstrativen Identifikation auch die derzeitige Lage spiegelt, in der sich das Orchester befindet; sie ist gekennzeichnet durch die heiklen Fragen rund um den jungen Nachfolger Zinmans, der vom Wunschkandidaten zur lame duck geworden ist. Entscheidender war aber wohl die ungebrochene Kraft, mit der Zinman, mittlerweile achtzig Jahre alt, die Fäden in der Hand hielt – auch die künstlerischen. Aus einer klaren, auch als klar erkennbaren Vorstellung heraus zeigte er an, wohin die Reise gehen sollte. Es wurde eine Reise durch zerklüftete Seelenlandschaften.

Nach wie vor war der Fokus zwar auf das Strukturelle gerichtet, das blieb auch zehn Jahre nach der Aufnahme von 2007 zu spüren. Die Transparenz des musikalischen Satzes, die Sorgfalt in der Staffelung der Farben, die rhythmische Schärfe – alles war unverändert da. Hinzu kam nun aber eine Emotionalität, die für David Zinman aussergewöhnlich ist. Der Kopfsatz, dessen marschartige Unerbittlichkeit in der Aufnahme durch die vergleichsweise leichte, federnde Attacke aufgefangen ist, fand an diesem denkwürdigen Freitagabend in der Tonhalle Zürich geradezu drastische Wirkung – davon zeugte nicht zuletzt die enorme Kraftentfaltung im Orchester. Dass auf diesen Einstieg mit seiner wahrhaft durchschüttelnden, seiner auch niederschmetternden Kraft das Andante moderato folgte, hatte seine eigene Logik. Nicht nur brachte es einen dringend benötigten Moment der Beruhigung ein; seine Kantabilität, von Zinman und dem Orchester wunderschön herausgearbeitet, schuf auch einen starken expressiven Kontrast – was umzog sinnreicher erschien, als dieser langsame Satz aus dem strengen motivischen Geflecht der Symphonie heraustritt. Für das Scherzo und noch mehr für sein Trio fand Zinman Tempi, deren Gezähmtheit von bezwingender Plausibilität war, während dann das Finale mit ungeheurer Gewalt über den Zuhörer hereinbrach. Das alles war derart packend, dass es geradewegs ans Zwerchfell ging. Darüber hinaus, und vor allem, liess es verstehen, dass die biographischen Auslegungen, die Mahlers Sechste hervorrief, nicht von ungefähr entstanden sind.