Adieu Ostern, adieu Piano

Das Lucerne Festival konzentriert sich auf den Sommer

 

Von Peter Hagmann

 

Sie waren schon immer ein bisschen Fremdkörper im Profil des Lucerne Festival. Die vor dreissig Jahren durch den damaligen Intendanten Ulrich Meyer-Schoellkopf eingerichtete Osterausgabe hat nie wirklich eine Identität gefunden; sie hätte der geistlichen Musik gelten sollen, lebte aber zur Hauptsache von einer Orchesterresidenz. Und das vor zwei Jahrzehnten durch Meyers Nachfolger Matthias Bamert eingeführte Klavierfestival im Herbst sollte dem damals frisch eröffneten Kultur- und Kongresszentrum Luzern (KKL) Publikum beschaffen, blieb aber von Dimension und Programmgestaltung her stets eine kleine Nummer – gerade neben einer Gross-Veranstaltung wie dem Klavierfestival Ruhr oder dem Festival in La Roque d’Anthéron. Von da her gesehen ist es zu verschmerzen, dass das Lucerne Festival vom nächsten Jahr an auf diese beiden Appendices verzichten und sich auf seine Sommerausgabe konzentrieren will.

Dort, im Sommer, hat sich unter der Leitung von Michael Haefliger, der vor zwanzig Jahren als Intendant an Bord kam, tatsächlich gewaltig viel verändert. Das Lucerne Festival ist schon längst nicht mehr die edle Perlenkette an Orchestergastspielen, als die es hie und da noch geschmäht wird. Wobei diese Abfolge von Orchestergastspielen nicht hoch genug geschätzt werden kann, gibt es ein solches Gipfeltreffen orchestraler Kunst doch nirgendwo sonst – das darf an dieser Stelle festgehalten werden, auch wenn der Wunsch nach einer gewissen Blutauffrischung in diesem Rückgrat des Festivals nach wie vor besteht. Nein, das Lucerne Festival ist inzwischen ganz klar mehr als ein Schaulaufen der bekannten Orchester. Mit dem seit 2003 bestehenden Lucerne Festival Orchestra und der ein Jahr darauf erstmals durchgeführten Lucerne Festival Academy, der sich seither ein Netzwerk von über eintausend Alumni zugesellt hat, verfügt das Festival über Errungenschaften, die sein Profil sehr zu seinem Vorteil verändert haben. Dass dieses Profil noch deutlicher herausgestellt und dass darum auf Nebenschauplätze verzichtet werden soll, ist absolut verständlich.

Dennoch bleibt die Frage: warum, und warum gerade jetzt? Handelt es sich um eine wortreich kaschierte Sparübung? Wird da etwas abgestossen, was nicht mehr gut läuft? Fragen solcher Art stehen im Raum angesichts der Tatsache, dass im Management des Festivals Ausgaben gekürzt worden sind. Hubert Achermann, der Stiftungsratspräsident des Lucerne Festival, stellt die Vermutungen allerdings lebhaft in Abrede. Der Spareffekt falle durch den Verzicht auf Ostern und Piano kaum ins Gewicht, denn gleich wie die Ausgaben gingen auch die Einnahmen zurück. Tatsächlich habe es vor einiger Zeit ein schwieriges Jahr gegeben, inzwischen seien die Finanzen aber wieder im Lot. Das Sponsoring laufe gut, der Kartenverkauf sei etwas rückläufig, aber in diesem Bereich müsse nun einmal mit Schwankungen gelebt werden. Nein, es sei, wie das bei einer Institution wie dem Lucerne Festival üblich sein müsse, eine Überprüfung der Strategie vorgenommen worden; in diesem Rahmen sei die Entscheidung gefallen, das Festival zu fokussieren.

So weit, so gut. Die Notwendigkeit einer Neupositionierung nach der bedauerlichen Niederlage rund um die Salle Modulable liegt auf der Hand. Nur: Ein Rest an Unklarheit bleibt; Abbau ist nun einmal per definitionem nicht das beste aller Zeichen. Vielleicht werden die beiden als Ersatz eingeführten Wochenenden im Frühjahr und im Herbst mit dem Festival-Orchester und der Festival-Akademie, vor allem aber die Veränderungen im Hauptprogramm erweisen, wohin die Reise gehen soll. Der Sommer 2019 verspricht immerhin Einiges.

Wo das Lucerne Festival Energien holt

Auftritte in der Reihe «Moderne» und bei der Festival Academy

 

Von Peter Hagmann

 

Fritz Hauser (vorne links) im Element (Bild Peter Fischli, Lucerne Festival)

 

Er hat seine ganz eigene Atmosphäre, der Luzerner Saal im Kultur- und Kongresszentrum Luzern. Eine Salle Modulable ist er nicht wirklich, weil er ein Bühnenportal aufweist, also in einem gewissen Mass präkonfiguriert ist. Dennoch lässt er sich in ganz unterschiedlicher Weise einrichten und nutzen – wie sich beim Lucerne Festival dieses Sommers wieder erweist. Besonders profitiert von dem flexiblen Raum die von Mark Sattler betreute Reihe «Moderne», welche die im Luzerner Programm zentrale Pflege der neuen Musik besorgt. Fritz Hauser zum Beispiel, der dieses Jahr als «Composer in Residence» eingeladene Schlagzeuger und Komponist aus Basel, wirft nicht nur Licht auf den Rhythmus, den im 20. Jahrhunderts erst richtig entdeckten Parameter der Musik, er arbeitet auch mit Räumen – im Luzerner Saal konnte er das tun. Für das von ihm ersonnene und geleitete Projekt «Chortrommel», mit dem die Moderne 2018 eröffnet wurde, sah er zu zwei Seiten des Saals ansteigende Emporen für das Publikum vor, während die beiden anderen Seiten für Auf- und Abtritte offen standen, jedoch ebenfalls zwei allerdings kleinere Emporen enthielten, auf denen sich von Fall zu Fall Ausführende versammelten.

Weit wirkte der Raum in dieser Konfiguration. Strukturiert wurde er durch die abwechslungsreiche Lichtführung von Brigitte Dubach. Belebt wurde er sodann durch die strenge Choreographie der Auftritte. Erfüllt wurde er schliesslich durch die von allen Seiten kommenden Klänge, die vom punktgenauen Schlag aufs Fell einer Trommel bis zum Stimmengewirr reichten. Neun neue Werke kamen da zur Uraufführung. Nach «Nunc habemus endiviam» – guten Appetit – für grossen Chor a cappella von Christian Henking arbeiteten alle Komponistinnen und Komponisten mit unterschiedlich besetzten Chören und Schlagzeug. Spannend war dabei die Begegnung zwischen den solistisch agierenden Basler Madrigalisten (Leitung Raphael Immoos) und dem Contrapunct-Chor, einer aus engagierten Liebhabern gebildeten Gruppierung mit Abélia Nordmann an der Spitze. Während das famose Schlagzeug-Trio Klick mit Fritz Hauser, Lucas Niggli und Peter Conradin Zumthor das Publikum eintauchen liess in die Welt des kunstvoll geformten, raffiniert eingesetzten Geräuschs. Misslungen war einzig die Präsentation des Abends, denn wer von Lucas Niggli, Mike Svoboda, Leonardo Idrobo, Vera Kappeler, Katharina Rosenberger, Olivier Cuendet, Denis Schuler und Fritz Hauser womit genau an der Reihe war, liess sich der Lichtverhältnisse wegen nicht eruieren.

In der Sache selbst bot «Chortrommel» aber einen farbigen Einstieg in die Residenz des inzwischen 65-jährigen Ausnahme-Schlagzeugers. Fritz Hauser wirkt in intensiver Vernetzung am Festival mit. Im Rahmen eines kleinen Schwerpunkts mit dem Titel «vis-à-vis» trifft er sich mit Freundinnen und Freunden, zum Beispiel mit Barbara Frey, die nicht nur Regisseurin und Direktorin des Schauspielhauses Zürich, sondern auch ausgebildete Schlagzeugerin ist. Mit der Basler Cellistin Martina Brodbeck dialogisiert er im Format «40min», am Erlebnistag bespielte er das KKL insgesamt, und selbst dem anderen «Composer in Residence» dieses Sommers, dem heuer 90-jährigen, allerdings bereits verstorbenen Karlheinz Stockhausen, an den in Luzern mit einer grossen Retrospektive erinnert wird, erweist er seine Reverenz. Nicht zuletzt tat er sich mit Mitgliedern der Lucerne Festival Academy und der Lucerne Festival Alumni zusammen, mit den Studenten dieses Sommers und den nach Luzern zurückgekehrten Absolventen früherer Jahre. Substantieller lässt sich eine Residenz kaum denken.

Getragen wird die neue Musik in Luzern aber auch durch die Lucerne Festival Academy, die inzwischen von Wolfgang Rihm und Matthias Pintscher geleitet wird. Jahr für Jahr kommen 130 junge Musikerinnen und Musiker aus aller Welt hier zusammen; sie leben bei Luzerner Gastfamilien und lernen, was sie in ihren Ausbildungsstätten nicht oder zu wenig vermittelt bekommen: den kompetenten Umgang mit der Avantgarde von gestern und heute. Es gibt ein Orchester, ein Komponisten-Seminar, einen Meisterkurs für Dirigenten sowie jede Menge an Austausch und Auftritten – wer den jungen Leuten begegnet, weil sie zum Beispiel in der Reihe vornedran sitzen, kann erfahren, wie es da quirlt und sprudelt. Für das Lucerne Festival ist die Academy längst zum Markenzeichen geworden. Und mehr noch: Sie gibt den Programmgestaltern Gelegenheit, das Korsett der Gastspiele aufzubrechen und Konzepte umzusetzen, die auf eigenem Boden wachsen und das Profil des Festivals schärfen.

Beispiel dafür war das Projekt «Genesis», das Matthias Pintscher zusammen mit Musikerinnen und Musikern der Lucerne Festival Academy erarbeitet hat. Allerdings ist «Genesis» nur zur Hälfte eine Eigenproduktion, denn ins Leben gebracht wurde der abendfüllende Zyklus vom Ensemble Intercontemporain, das zu seinem vierzigsten Geburtstag bei sieben Komponistinnen und Komponisten sieben kurze Instrumentalstücke zu den sieben Tagen der Schöpfungsgeschichte in Auftrag gegeben hat. Und der künstlerische Leiter des Ensemble Intercontemporain ist – Matthias Pintscher. So lag es nahe, das Stück von Paris nach Luzern zu übernehmen und dort im Luzerner Saal an einem sonnenhellen Samstagvormittag vor vollen Rängen zu schweizerischer Erstaufführung zu bringen. Im Anfang, so hebt das erste Buch Mose an, habe Gott Himmel und Erde geschaffen. Wer den hebräischen Text genau lese, so Matthias Pintscher in einer kurzen Vorbemerkung vor der Aufführung, könne feststellen, dass es heisse: In einem Anfang – in einem unter vielen. Weshalb «Genesis» den Versuch einer zyklischen Anlage der sieben Tage der Schöpfungsgeschichte unternehme: ein Umkreisen des Tones Es, der exakt in der Mitte der Tastatur eines heute gebräuchlichen Klaviers liege.

Dieser eine Ton und die Besetzungsmöglichkeiten des Ensemble Intercontemporain waren die einzigen Bedingungen, die Pintscher gestellt hat. Stilistisch war das Feld also offen, und das brachte dem Zyklus seinen entscheidenden Gewinn. Bei Chaya Chernowin («On the Face of the Deep») kommt die Musik aus dem Geräusch heraus, sie verdichtet sich über dem Ton Es und zerbirst dann in Klangflächen – sehr fasslich klang das. Weitaus weitaus konkreter nimmt sich das Geschehen bei Marko Nikodijević («Dies secundus») aus; es erwächst aus dem Es, wie es von Platten- und Röhrenglocken erzeugt wird, und gewinnt seine Energie aus einfachen Halbtonschritten und kleinen Lineaturen. Wenn am dritten Tag Land und Meer voneinander getrennt werden, reagiert Franck Bedrossian («Vayehi erev vayehi boker») darauf mit tiefen Klängen, die Landschaften evozieren, und Einzeltönen, die zu zerreissen scheinen. Besonders eindrücklich, weil delikat und überaus schön, das Streicheroktett der Isländerin Anna Thorvaldsdottir («Illumine»), das sich, dem vierten Tag entsprechend, in der Höhe des Himmels auflöst. Weniger verbindlich der Beitrag von Joan Magrané Figueras («Marines i boscatges») zum Tag der Fische und Vögel, während Stefano Gervasoni («Enfaunique») den sechsten Tag, jenen der Tiere und Menschen, zur Hauptsache einem wild aufschiessenden Solo der Bratsche anvertraut, aus dem sich alles Weitere ergibt. Den Schluss macht Mark Andre («Riss 1»), dessen Beitrag aus einem sehr leisen Es heraussteigt  und in ausgeprägtem Personalstil eine ganze Welt an Geräuschen ausbreitet.

Stark war die Wirkung von «Genesis», auch dank der blendenden Wiedergabe durch die Academy mit Matthias Pintscher. In solchen Momenten gewinnt die neue Musik nicht nur kraftvoll Daseinsberechtigung, sie schafft auch Energien für das Festival als Ganzes.

Postskriptum: Eben trifft die Nachricht ein, dass der Dirigent und Komponist Matthias Pintscher seine Funktion als Principal Conductor der Lucerne Festival Academy (neben deren künstlerischem Leiter Wolfgang Rihm) per sofort niederlegt – «aus persönlichen Gründen», wie verlautet. Beim Auftritt der Academy Orchestra im Format «40min» morgen Abend, 6. September, bei den beiden Aufführungen von Karlheinz Stockhausens «Gruppen» am kommenden Sonntag, 9. September, sowie am gleichen Abend beim Sinfoniekonzert 24,  bei dem Pintscher das Orchesterstück «No hay caminos» von Luigi Nono hätte leiten sollen, aber auch für das Gastspiel des Lucerne Festival Orchestra vom 12. September in der Hamburger Elbphilharmonie fehlt nun ein Dirigent. Für diese Auftritte innert nützlichster Frist qualifizierten Ersatz zu beschaffen – es gibt Einfacheres. Der Vorfall sieht nach einem schweren Zerwürfnis aus; über die Gründe dafür liegt der Mantel des Schweigens, es kann also nur spekuliert werden. Für die Lucerne Festival Academy wiegt der Vorfall allerdings schwer.

Lucerne Festival (4) – Auch ein Ort des Neuen

 

FourtyMinutes
Andrang beim Lucerne Festival – wenn Anne-Sophie Mutter ruft / Bild Peter Fischli, Lucerne Festival

 

Peter Hagmann

Grenzerfahrungen

Neue Musik zwischen Zentrum und Peripherie

 

Nicht nur beim Lucerne Festival Orchestra, auch bei der Lucerne Festival Academy stand ein Neubeginn an. Wobei der Wechsel von Pierre Boulez, dem Anfang dieses Jahres verstorbenen Mitbegründer und Künstlerischen Leiter der Academy, zu dem Komponisten Wolfgang Rihm und seinem dirigierenden Alter ego Matthias Pintscher wesentlich weniger geräuschvoll verlief als beim Orchester. Natürlich wäre auch Heinz Holliger für die Nachfolge denkbar gewesen; er hätte die Doppelfunktion des Komponisten und Dirigenten wahrnehmen können, mit der Boulez der Academy ihre Spezialität geschaffen hat, und als «Schüler» von Boulez hätte er ohne Zweifel auch die in den vergangenen zehn Jahren etablierten Paradigmen weiterverfolgt. Das gilt angewandt auch für Wolfgang Rihm, der nun aber doch als die Galionsfigur des zeitgenössischen musikalischen Schaffens gelten darf und ausserdem gut zehn Jahre jünger ist als Holliger. Und dass die Lucerne Festival Academy einen Meister als Leiter braucht, nicht einen in jüngeren Jahren stehenden Revolutionär, scheint sich von Geist und Zweckbestimmung der Akademie her von selbst zu verstehen.

Wenn sich Stars engagieren

Zu dieser Zweckbestimmung gehört, dass die Lucerne Festival Academy zum einen den Stipendiaten neue Horizonte eröffnet, zum anderen aber auch dem Festival etwas bringt. Die verschiedenen kleineren Formationen, von Mitgliedern des Pariser Ensemble Intercontemporain betreut, vor allem aber auch das gross besetzte Orchester ermöglichen es, Dinge ins  Programm aufzunehmen, welche die in Luzern gastierenden Orchester nicht im Reisegepäck führen. Neue Musik eben – und sei sie auch schon etwas älter als hundert Jahre. Vor den Werken aus dem Kreis der Zweiten Wiener Schule zum Beispiel schrecken viele Konzertgänger zurück, vor Stücken neueren Datums erst recht; in Tourneeprogrammen nehmen sie bestenfalls die Funktion des Feigenblatts wahr. Wird diese Musik jedoch von einem bekannten Interpreten aufgeführt, wird sie angenommen. So haben Maurizio Pollini in seinen Rezitals und Pierre Boulez, in Luzern verehrt und geliebt, am Pult des Lucerne Festival Academy Orchestra manches möglich gemacht und zahlreiche Türen aufgestossen. In diesem Jahr, dem Jahr der PrimaDonna, kam die Funktion der Türöffnerin Anne-Sophie Mutter zu.

Die weltbekannte Geigerin gab zusammen mit ihrem langjährigen Duopartner Lambert Orkis am Klavier ein Rezital, mit dem sie daran erinnerte, dass sie vor vierzig Jahren zum ersten Mal beim Luzerner Festival aufgetreten ist, sie war sich aber auch nicht zu schade, mit den Stipendiaten des Luzerner Sommers zusammenzuwirken. Mit Alan Gilbert, dem Chefdirigenten des New York Philharmonic, der ans Pult des Akademieorchesters getreten war, erarbeitete sie ein ausgesprochen stimmiges Programm mit Alban Bergs Violinkonzert, mit «En rêve», einem zu Unrecht vergessenen Violinkonzert des Welschschweizers Norbert Moret von 1988 und mit der riesigen Tondichtung «Pelleas und Melisande» von Arnold Schönberg. Nicht nur, dass dieses Programm im Rahmen eines ausverkauften Sinfoniekonzerts mit denkbar grossem Erfolg gegeben wurde, Anne-Sophie Mutter stellte sich zusammen mit Alan Gilbert auch für das Format «40min» zur Verfügung, in dessen Rahmen bei freiem Eintritt eine gute halbe Stunde Musik vorgestellt wird. Der Erfolg war immens, die Schlange der wartenden Zuhörer reichte vom Haupteingang des KKL rund ums Haus bis hin zum Treppenabgang zum Bahnhof. Noch feiner wäre es gewesen, wenn es eine Gesprächsführung gegeben hätte, und noch schöner, wenn in der Ansage zur Veranstaltung Schönbergs Tondichtung nicht mit der Oper Claude Debussys verwechselt, sondern in der korrekten, deutschsprachigen Formulierung des Titels vorgestellt worden wäre.

Sehr berührend, wie Anne-Sophie Mutter Bergs Violinkonzert heute spielt: schlank im Ton, zurückhaltend im Einsatz des Vibratos, sorgsam in der Emphase. So spricht diese eminent biographisch geprägte Musik ganz direkt. Bei Morets Geigenkonzert wiederum sparte sie nicht mit klangsinnlichem Reiz – was das nur mit Streichern und etwas Schlagwerk besetzte Orchester glänzend aufnahm. Sehr respektabel gelang auch «Pelleas und Melisande». Gewiss kann man sich fragen, wie sinnvoll es ist, das Lucerne Festival Academy Orchestra, das in seiner grossen Formation vergleichsweise selten zusammenkommt, der Konkurrenz durch die auf Hochglanz polierten reisenden Orchester auszusetzen – zumal Schönbergs Tondichtung ein ganz und gar spätromantisches Idiom spricht, die jungen Musikerinnen und Musiker also auf heikles Gelände führt. Andererseits bot ihnen die Aufführung eine Begegnung mit den Wurzeln der Avantgarde und zudem eine Gelegenheit, die sich für die wenigsten von ihnen so rasch wieder ergeben wird. Schönbergs unglaublich opulent besetztes Werk wird ja nicht allzu häufig gespielt; die Veranstalter scheuen es, weil es hohe Kosten verursacht und tiefe Einnahmen in Aussicht stellt, denn nur wenig bekannt ist, dass es sich bei «Pelleas und Melisande» nicht um ein Werk in Zwölftontechnik handelt. Genau darauf spielte Alan Gilbert in seiner ebenso sympathischen wie nützlichen Einführung an, mit der er das Stück vor der Aufführung kurz vorstellte. Die Interpretation selbst lebte von des Dirigenten Erfahrung und seiner dezidierten Hand; die Kräfte blieben kontrolliert, die farblichen Reize der Partitur wurden gleichwohl in aller Pracht ausgebreitet.

Eine Literaruroper

Begab sich hier die Lucerne Festival Academy in vormoderne Gefilde, so kommt die neue Musik, das hat sich noch nicht überall herumgesprochen, im Programm des Lucerne Festival insgesamt zu erheblicher, inzwischen selbstverständlicher Präsenz – dafür sorgt nicht zuletzt Mark Sattler als der für diesen Sektor zuständige Dramaturg. Dieses Jahr ergab sich eine zusätzliche Akzentuierung durch den Umstand, dass der Schweizerische Tonkünstlerverein seine Jahresversammlung und das mit ihr verbundene Tonkünstlerfest im Rahmen des Festivals abhielt. So ergab sich die Gelegenheit, zahlreiche neue Werke kennenzulernen, unter ihnen, als Uraufführung im Südpol, eine Oper von Michel Roth. Der Innerschweizer Komponist des Jahrgangs 1976, der an der Musikhochschule Basel unterrichtet, packte den Stier bei den Hörnern – und das ist in diesem Fall «Die Künstliche Mutter», Hermann Burgers zweiter Roman aus dem Jahre 1982: eine ausladende, in Dauer-Fortissimo gehaltene Schelte des Autors auf die Schweiz im allgemeinen und seine Mutter im speziellen, ein Wiedergänger des Zürcher Skandal-Buchs «Mars» von Fritz Zorn.

Eine Literaturoper also – und genau daran ist Michel Roth gescheitert. Die Umwandlung des Romans, die der Komponist zusammen mit Nils Torpus, dem Regisseur der Uraufführung, vorgenommen hat, muss notgedrungen verkürzen und setzt eigenwillige Gewichte. In den Vordergrund geraten, auch in der Inszenierung, die militärischen Aspekte: der Mythos der Alpenfestung, das Denken in Hierarchien und die militärischen Alltäglichkeiten, die jedem braven Schweizer Mann vertraut sind. Aber eben nur dem. Dass der Untergebene eine Uniform mit höheren Gradabzeichen trägt als der Vorgesetzte, dass das Porträt von General Guisan auf den Kopf gestellt wird und der nahrhafte Spatz aus der Gamelle zu Ehren kommt, mag für einen Zuschauer ohne spezifischen lokalen Bezug weder verständlich noch reizvoll sein. Dazu kommt die merkliche Sprachlastigkeit. Gegenüber der donnernden Gewalt des Textes bleibt die Musik insgesamt im zweiten Glied. In ihrer fragmentarischen, illustrierenden, jedenfalls wenig konstitutiven Anlage bleibt sie Beiwerk, bisweilen verstummt sie gar und wird die Oper zum Schauspiel – als hätte der Komponist nicht mehr weitergewusst.

Dabei wirkte «Die Künstliche Mutter» vom Konzept wie der szenischen Umsetzung her durchaus originell. Der erste Teil ereignete sich im Foyer, einem länglichen Raum, der in der Einrichtung von Renato Grob den Wänden entlang drei Spielorte bot und das von Jürg Henneberger geleitete Ensemble Phoenix in der Mitte plazierte. Interaktion war angesagt. Wer wollte, konnte sich an Holztischen unter die Darsteller mischen, Schauspielerinnen wirkten neben Sängerinnen und Sängern, Instrumentalisten eroberten die Bühne, während einer der Sänger dem Dirigenten den Taktstock entriss. Für den zweiten Teil des Abends begab man sich in den Hauptsaal – und dort konnte man etwa ein fulminantes Solo des grunzenden, jaulenden, stöhnenden Kontrabassisten Alexander Gabryś erleben, der als personifizierter Gletscher zum Protagonisten sprach. Eigenartig, wie in der Anlage der Guckkastenbühne das Ensemble greifbarer wurde, wie viel deutlicher das Engagement von Robert Koller (Bariton), Christoph Waltle (Tenor), Ann-May Krüger (Mezzosopran) und Jeannine Hirzel (Sopran) sowie der beiden Schauspielerinnen Rachel Braunschweig und Miriam Japp spürbar wurde. Es war die Einlässlichkeit der Interpreten, die den Abend trug.