Im Bann der Netzwerke

Puccinis «Turandot» im Genfer Grand Théâtre

 

Von Peter Hagmann

 

Bild Magali Dougados, Grand Théâtre de Genève

Im Genfer Grand Théâtre haben jetzt die Architekten das Sagen. Die Bühnenarchitekten. Im Februar dieses Jahres war die Reihe an Ulrich Rasche, der natürlich kein Architekt ist, sondern – wie soll man sagen: ein Bühnenbildner, der auch Regie führt, oder ein Regisseur, der seine Ausstattungen selbst entwirft? Für «Elektra» von Richard Strauss hat Rasche ein raumgreifendes Stahlgerüst auf die grosse Genfer Bühne gestellt, einen schräg einfallenden, kreisrunden, von der Drehbühne bewegten Turm mit mehreren Stockwerken, auf der sich die Tragödie ereignet. Ein Abend des ganz ins Grosse gedachten Bildertheaters war das, überwältigend in seiner Wirkung – und dies, obwohl der Dirigent Jonathan Nott die aufbrausende Musik Strauss’ so in die Tiefe auslotete, dass man sie bis in letzte Einzelheiten aufzunehmen vermochte, also zu wachem Zuhören eingeladen war (vgl. «Mittwochs um zwölf» vom 02.02.22).

Nun also «Turandot», Giacomo Puccinis letzte, unvollendete Oper, in einer ähnlichen Konstellation. Auch hier sind nicht Architekten im eigentlichen Sinn am Werk, aber irgendwie doch, denn teamLab Architects, das für die Ausstattung verantwortliche Ensemble, begreift den Raum als ein Ganzes und begegnet ihm mit aus Netzwerkdenken entwickelten Methoden. teamLab, vor gut zwanzig Jahren von Toshiyuki Inoko gegründet und heute international äusserst erfolgreich unterwegs, besteht aus Künstlern und Ingenieuren, Informatikern und Architekten, welche die gemeinsame Kreativität und die Synergie zwischen den verschiedenen Ausdruckswegen suchen.

Für «Turandot» hat teamLab eine vergleichsweise konventionelle, das Prinzip der Guckkastenbühne sogar noch unterstreichende szenische Einrichtung entworfen. Vom herkömmlichen Bühnenbild unterscheidet sie sich zunächst dadurch, dass sie ausgeprägt in die Höhe strebt, indem sie nicht nur verschiedene Ebenen übereinanderlegt, sondern auch dramaturgisch aussenstehende Figuren aus dem Schnürboden herunterkommen lässt. Führt das schon wie beim Turm Ulrich Rasches zu einer Erweiterung der optischen Wahrnehmung, so kommt beim teamLab der unkonventionelle Umgang mit dem Licht dazu. Mit dem Laserlicht vor allem. Eingesetzt wird es zur Schaffung äusserst beweglicher Farbwirkungen auf einem als Prospekt eingesetzten Hintergrund, vor allem aber auch durch die Erzeugung einer Art 3D-Wirklichkeit, weil die Strahlen den Zuschauerraum miteinbeziehen und den Blick in die Tiefe lenken.

Das alles ist als erweiterte Lightshow von unbestreitbarer Wirksamkeit. Worin nicht die technische, vielmehr die künstlerische Innnovation liegt, ist aber weniger klar zu fassen. Im Grunde nämlich unterscheidet sich die Genfer «Turandot» in der optischen Anmutung nur graduell von einer Inszenierung in der Tradition des italienischen Ausstattungstheaters, etwa der mit Gold und Statisterie prunkenden Produktion von Giuseppe Verdis «Aida» unter der Federführung von Franco Zeffirelli im Dezember 2006 an der Mailänder Scala. Wie dort wird auch in Genf unerhörter Aufwand an Personal und Kostüm (Kimie Nakano) betrieben, was blendet, im Erkenntnisgewinn jedoch bescheiden bleibt.

Zumal die Inszenierung von Daniel Kramer als eine solide Arbeit erscheint, eine klar definierte theatrale Handschrift aber schuldig bleibt. Dass die Minister Ping, Pang und Pong (Simone del Salvio, Sam Furness, Julien Henric) als Figuren der Commedia dell’Arte entstammen, wird in denkbar erheiternder Weise deutlich. Schon weniger zu begreifen ist, warum den Herren, die um die Hand der Prinzession Turandot anhalten, die drei von ihr gestellten Fragen aber nicht zu beantworten wissen und darum geköpft werden – warum diesen Herren in Genf die Genitalien ausgerissen werden. Allerdings nicht die Genitalien in natura, sondern versinnbildlicht durch eine Dolde an Weintrauben, ja, vielleicht Weintrauben. Gewiss, Puccini hatte sein eigenes Ding mit der genitalen Betätigung, darauf im Rahmen der insgesamt wenig gezielten Personenführung so ausdrücklich einzugehen, erscheint allerdings ziemlich aufgesetzt.

Überhaupt hat sich das Szenische, das Sichtbare, an diesem Abend wieder einmal mächtig aufgeplustert, ein verbreitetes Grundübel im heutigen Opernbetrieb. Dass es auch bei «Turandot» nicht nur um Theater, sondern auch und eigentlich vor allem um Musik geht, wäre um ein Haar vergessen gegangen. Sehr erfolgreich dagegen arbeitet der Dirigent Antonino Fogliani, der die Massen straff in der Hand hält und durch stimmige Tempogestaltung das Geschehen grossartig in Fluss bringt. Das Orchestre de la Suisse Romande sorgt für unerhört süffigen Klang, der von Alan Woodbridge vorbereitete Chor für herrliches Volumen. Und durchwegs hochstehend das Ensemble mit Ingela Brimberg als stimmgewaltige Turandot, Francesca Dotto als eine mit strahlendem Timbre einsteigende, im zweiten Auftritt aber sorgsam berührende Liù und Teodor Ilincai als ein Calaf, der zu unglaublicher Kraftentfaltung in der Lage ist. Dass für das fehlende Ende nicht auf Franco Alfano, sondern auf Luciano Berio zurückgegriffen wird, dass das kraftstrotzende Stück also ultraleise endet, spricht für sich. Trotz allem Spektakel gibt es in der Genfer «Turandot» auch etwas zu hören. Und wie.

Liebe, Macht und Ohnmacht

«Salome» in Luzern, «La Bohème» in Basel

 

Von Peter Hagmann

 

Jason Cox (Jochanaan) und Heather Engebretson (Salome) in Luzern / Bild Ingo Hoehn, Luzerner Theater

Wie das? Trägt Greta nun keinen dunkelblonden Rossschwanz mehr, dafür einen schwarzen Bubikopf? Nicht doch, es ist ja nicht Greta, die auf der Bühne des Luzerner Theaters erscheint, sondern Heather Engebretson, immerhin schon 29 Jahre alt und nicht weniger als 1,52 Meter gross. Salome in der gleichnamigen Oper von Richard Strauss als eine Kind-Frau – so zeigt es Herbert Fritsch, wie stets Regisseur und Bühnenbildner in einer Person. Er tat es in gleicher Weise wie Maurice Béjart 1983 im Genfer Grand Théâtre, als der Choreograph die Oper von Strauss mit der Sängerin und Tänzerin Julia Migenes inszenierte. Eine unvergesslich perfekte Lolita stand damals im Licht, nur verfügte sie nicht über das hier geforderte Stimmvolumen, weshalb die Sängerin für ihren Monolog mit dem abgeschlagenen Kopf des Jochanaan auf einer Rampe über den Orchestergraben hinweg ans Publikum herangeführt wurde.

Bei Heather Engebretson in Luzern war das nicht nötig. Sie sang nicht zu leise, sondern überhaupt nicht, eine Infektion hatte es verhindert. An ihrer Stelle nahm Sera Gösch von der Seite aus ihre Partie wahr, und sie tat das auf bewundernswertem Niveau, mit einer Spannung jedenfalls, die sich direkt übertrug. An die Aufspaltung der Figur hätte man sich gewöhnen können, wenn das füllige Timbre der Sängerin zur feingliedrigen Erscheinung der Darstellerin gepasst hätte, aber so ist das Leben, zumal im Theater – und immerhin war die Premiere gerettet. Ein erneuter Besuch der Produktion drängt sich auf, denn was Heather Engebretson darstellerisch leistet, ist dermassen aufregend, dass man auf die stimmliche Ergänzung ausgesprochen neugierig wird.

Mit einer Agilität sondergleichen und nicht nachlassendem Elan durchmisst sie die Bühne und beherrscht so die ganzen Raum. Trotzig aufbegehrend ist ihre Salome – ein Kind zwar, aber ein erwachendes und damit eines, das um seine Möglichkeiten weiss. Erhält sie nicht, was sie begehrt, rast sie von der einen Seite auf die andere und schlägt voll auf das Portal. Und was für ein sprechendes, lachendes, tobendes Gesicht zeigt sie; jede Regung ihres Inneren, auch dann, wenn sie zuhört, spiegelt sich in ihren Zügen. Einschmeichelnd kann sie blicken, im Handumdrehen aber wieder bös, ja zornig –genauso wie Greta, wenn sie den Mächtigen der Welt die Leviten liest. Hört diese Salome die Stimme Jochanaans, Jason Cox lässt sie mächtig aufklingen, bricht sich das Begehren eruptiv Bahn. Nur knapp vermag sich der Prophet dem Verrat an seiner Mission zu entziehen.

Klein an Wuchs, aber mächtig in ihrer Ausstrahlung – so schlägt die Salome der Heather Engebretson alle Figuren rund um sie in ihren Bann und führt sie an unsichtbaren Strippen auf das fatale Ende zu. Ihr verfallen ist Herodes, an dem Hubert Wild mit seiner dürftigen Stimme kapital scheitert, ihr hörig ist ihre Mutter Herodias, die Solenn’ Lavanant-Linke zu einer grossartigen Theater-Karikatur macht, ihr verfallen ist Narraboth (Robert Maszl), der sich angesichts seiner Niederlage entleibt. Alles wird, so ist es bei Herbert Fritsch und seiner Kostümbildnerin Victoria Behr, zugespitzt und auf den Punkt der grösstmöglichen Theaterwirkung gebracht – das macht an diesem Abend, vom grossartigen Eröffnungsbild mit dem nächtlich blauen Hintergrund, dem riesigen Mond und den Figuren im Scherenschnitt über die beiden absurden Thronsessel für das Herrscherpaar bis hin zu dem aus dem Boden ragenden Kopf des Jochanaan, gewaltig Effekt. Dabei wird hier nicht Regie geboten, nur Theater. Das aber nah am Text, sinnreich deutend und lustvoll vorführend. Dass das Luzerner Sinfonieorchester unter der Leitung von Clemens Heil so akkurat mitzieht, sorgt für ein deutliches Tüpfelchen auf dem i.

Im Theater Basel herrschen umgekehrte Vorzeichen. Mit «La Bohème» von Giacomo Puccini wird dort ein ähnlicher Reisser wie «Salome» gebracht – ein Rührstück, dessen emotionale Kraft auch heute noch ungebrochen ausstrahlt. Unterstrichen wird es zum Beispiel vom Sinfonieorchester Basel, das unter der Leitung der neuen Basler Musikdirektorin Kristiina Poska seine Funktion voll ausspielt – in herrlich opulentem Sound, bisweilen etwas zu laut, aber mit farblichen Reizen, wie sie gewöhnlich nicht zu hören sind. Der Akzent auf dem Instrumentalen unterstreicht, dass es in «La Bohème» durchaus nicht nur die vokale Linie gibt. Dass dieser Irrglaube bei Puccinis Oper leider noch immer zu den Rezeptionsmustern gehört, erwiesen die Reaktionen des Premierenpublikums, das auch in den zartesten Momenten mit lautstarkem Beifall in die abschliessenden Passagen einfiel.

Wer zuhört, kann eine Besetzung erleben, die sich in mancher Hinsicht den hergebrachten Erwartungen entgegenstellt. Cristina Pasaroiu, die übrigens nicht selten mit Heather Engebretson auftritt, gibt eine sensible, wenn auch alles andere als unterwürfige Mimì; mit eigenem Stolz ergibt sie sich ihrem Schicksal. Während Davide Giusti als ein Rodolfo von lyrischer Qualität und weicher Linienführung erscheint, jedenfalls denkbar fern jener Exposition vokalen Potenz, wie sie bei dieser Partie nicht selten gepflegt wird. Noch markanter gezeichnet ist das Nebenpaar mit dem aufbrausenden Marcello von Domen Križaj und der ganz und gar nicht soubrettenhaften, vielmehr selbstbewussten und zielstrebigen Musetta von Valentina Mastrangelo. So gibt es, auch dank dem solide besetzten Ensemble, im Musikalischen manch überzeugenden, ja bezaubernden Moment.

Daniel Kramer freilich, er hat den Abend inszeniert, scheint nicht ans Stück zu glauben. Er muss in Regietheater machen, will sagen: den künstlerischen Entwurf von 1896 an die Gegenwart heranholen. Der Maler Marcello agiert mit der Spraydose, die Rosenstickerin Mimì stirbt nicht an der Schwindsucht, sondern, gezeichnet von der Chemotherapie, an einem Krebs, Schaunard (Gurgen Baveyan) und Colline (Paull-Anthony Keightley) sind, damit sie auch jemanden an ihrer Seite haben, ein Männer-Paar. Vor allem aber sorgen Marius und Ben de Vries mit markigem, ganz selten an «La Bohème» erinnerndem Sound aus dem Lautsprecher für ein musikalisches Ambiente, das die angeblich gestrige Musik Puccinis mit der Gegenwart konfrontieren oder verbinden soll – ein überflüssiges Vorhaben, denn was hier beigefügt wird, kann der sich Opernbesucher in der Pause auf dem Theatervorplatz besorgen. Davon abgesehen herrscht weitgehend Konvention. Annette Murschetz hat im ersten Akt statt der Dichterstube über den Dächern von Paris einen Ort der Verlorenheit geschaffen, an dem die brotlosen Künstler Weihnachtsbäume feilhalten. Sehr zu Recht, denn im zweiten Akt geht es um Weihnachten, in Basel allerdings weniger um das ausgelassene Fest im Quartier Latin als um Konsum und Kaufrausch heutiger Ausprägung. So weit, so gut. Am Ende der Oper lässt sich wenig schrauben, Mimìs Tod ist Mimìs Tod, es darf geweint werden. Puccinis Oper lässt sich nichts anhaben.

Davide Giusti (Rodolfo) und Cristina Pasaroiu (Mimì) in Basel / Bild Priska Ketterer, Theater Basel

Der Tod als ein Stück Leben

Verdis «Traviata» am Theater Basel

 

Von Peter Hagmann

 

 

Corinne Winters als Violetta in Basel / Bild Sandra Then, Theater Basel

Fast trotzig, jedenfalls recht energisch – und energischer, als es einer Sterbenskranken anstünde – hebt Violetta im dritten Akt von «La traviata» ihr eigenes Grab aus. Natürlich nicht in ihrem Schlafzimmer, sondern auf einem Friedhof, und der besteht in der neuen Basler Produktion von Giuseppe Verdis Oper aus regelmässig aufgereihten Matratzen; an deren Kopfenden legen die Teilnehmer am Karnevalsumzug, der gewöhnlich nicht sichtbar wird, hier aber als Gemeinschaft von Trauernden über die Bühne zieht, Blumengebinde und Totenkerzen nieder. Rabenschwarz ist dieses Ende – aber doch nicht ganz so finster, wie es der Komponist und sein Librettist Francesco Maria Piave erdacht haben. Violetta nimmt nämlich ihre letzten Worte ernst; sie steht zwar im Grab, deutet aber an, dass sie ins Leben zurückkehre und darob in Freude ausbreche – und so hält sie bis zum Schluss ihre Arme hoch und die Augen leuchtend offen. Der Tod als ein Stück Leben, als ein Abschluss in Frieden, nachdem sie den Mann, mit dem sie die Urgewalt der Liebe entdeckt hat, noch einmal hat an sich drücken können.

Das ist so berührend wie alles, was Corinne Winters an diesem denkwürdigen Abend im Stadttheater Basel über die Rampe bringt. Der Regisseur Daniel Kramer entwickelt seine Inszenierung für das Theater Basel – sie wird im nächsten Frühjahr an die English National Opera London weitergehen – aus aus der Protagonistin heraus, indem er das Geschehen am Körper und am Singen der Darstellerin aufzäumt. Wie in Claude Debussys Oper «Pelléas et Mélisande», in der sie 2016 im Opernhaus Zürich mit einer überraschenden, ja schockierenden Auslegung der weiblichen Titelfigur von sich reden machte, ist Corinne Winters in Verdis «Traviata» nicht das blasse, fragile, von der Tuberkulose gezeichnete und darum von heftigen Stimmungsschwankungen heimgesuchte Mädchen, als das sie gerne gesehen wird. Im ersten Akt erscheint ihre Violetta kraftvoll, geradezu sonnengebräunt. Mit Lust stürzt sie sich in die ziemlich wüste Party, die Lizzie Clachan (Bühne) und Esther Bialas (Kostüme) in einem reich bestückten, chromblitzenden, rundum verspiegelten Salon arrangieren. Und wenn sie das von Alfredo angestimmte Brindisi aufnimmt, geschieht das mit einigem Applomb. Umso bestürzender wirkt der Moment, da sie sich im Spiegel erblickt und die Züge der Krankheit erkennt.

Was für einen Kontrast dazu bietet der zweite Akt. Hier dominiert nicht der Schein, hier geht es allein um das Sein: um die Liebe in ihrer ganzen Wahrhaftigkeit. Darum ist die Drehbühne vollkommen leergeräumt. Im Zentrum ein simples Doppelbett, das sich sanft wie eine Schaukel hin- und her bewegt. Links eine Reihe Blumen, die an den originalen Spielort erinnern: an ein Landhaus in der Nähe von Paris. Sowie ein kleines Erdloch mit Häufchen, wie es dann etwas grösser im Finalakt erscheinen wird – aber nicht ein Miniatur-Grab, sondern die Stelle, an der Alfredo eine Pflanze einsetzt: eine Pflanze der Hoffnung. Pavel Valuzhyn gibt den scheuen jungen Mann ebenfalls ganz aus seiner Erscheinung und seinem Timbre heraus. Wenn er will und soll, findet er zu einem strahlenden, auch warmen und geschmeidigen Forte. Häufiger hält er sich jedoch, das verlangt sein Rollenporträt, in tieferen dynamischen Bereichen auf – und da hat er einiges an seidiger, hauchiger Klanglichkeit zu bieten. Allerdings sind die beiden dynamischen Bereiche nicht wirklich miteinander verbunden; bisweilen klingt es, als träte der Sänger mit zwei Stimmen auf.

Für Ivan Inverardi in der Rolle des Giorgio Germont gilt das nicht. Mit seinem Kreuz, das er sich über die Kravatte gelegt hat, erscheint er ganz und gar als der gestrenge, um nicht zu sagen: bösartige Vater Alfredos. Sängerisch steht sein Auftritt klar in der italienischen Tradition: majestätisch der Bariton, ausgeprägt das Vibrato, geschmackvoll die Portamenti. Szenisch allerdings ist die Figur wohl doch zu einseitig gezeichnet. Dass bei diesem älteren Herrn, was Violetta betrifft, noch anderes als normatives Denken und Egoismus mitspielen könnte, wird nicht einmal angedeutet – wie auch der Konflikt zwischen Vater und Sohn einigermassen handzahm bleibt, trotz der Spucke, die Alfredo seinem Vorfahren auf die Wange wirft.

Corinne Winters freilich, sie findet in dieser Landhaus-Szene zu sich selbst – vielleicht gerade darum, weil sie keine Arie hat, vielmehr stets im Dialog agiert und daraus besondere Energie gewinnt. Ihre Stimme ist eher dunkel gefärbt und hat einen sicheren Anker in einer wohlgestützten Tiefe. Mühelos steigt sie von dort in die Höhe, die Register sind ganz hervorragend ineinander übergeführt, ihr Legato ist von exzellenter Dichte, während das farbliche Spektrum, das sie in der Mittellage auszubreiten vermag, betörende Richesse zeigt. Dazu kommen die Durchdringung einer Partie, für die sie mittlerweile zwischen London, Hongkong und Melbourne gesucht ist, und eine einzigartige Identifikation mit ihr. Wie sie das Schwinden des Widerstands gegen die grenzüberschreitenden Forderungen von Vater Germont spüren lässt, ist schon bewegend genug; wie sie unmittelbar vor der erzwungenen Trennung von Alfredo ihren Geliebten noch einmal um eine Versicherung seiner Liebe bittet, bildet aber fraglos den emotionalen Höhepunkt des Abends – da werden nur wenige Augen trocken geblieben sein.

Der Moment wirkt auch so stark, weil er aus dem Graben durch eine Empathie sondergleichen gestützt ist. Am Pult steht Titus Engel. Eher als Spezialist für neue Musik bekannt, 2016 in Basel gerühmt für die musikalische Leitung in der grandiosen Produktion von Karlheinz Stockhausens «Donnerstag aus Licht», dirigiert er Verdis «Traviata» zum ersten Mal. Fast scheint es, als sei für den Dirigenten damit ein Herzenswunsch in Erfüllung gegangen, denn auch er dringt mit aller Hinwendung in die Partitur ein. Er hält das Basler Sinfonieorchester, das ihm in seltener Einmütigkeit folgt, diskret präsent und sorgt für manch überraschenden instrumentalen Akzent. Vor allem aber entwickelt er äusserst stimmige Tempi und griffige rhythmische Verläufe; selten wird so deutlich, dass «La traviata» über weite Strecken im Dreiermetrum geschrieben ist. Nicht zuletzt atmet er sorgsam mit den Sängern und bietet ihnen damit die Basis, auf der sie sich entfalten können: ein geborener Maestro concertatore.

Brutal dann der Umschlag im zweiten Bild des zweiten Akts, wo es zurück geht in einen Pariser Salon, diesmal den von Flora Bervoix (Kristina Stanek), und wo es zum dramatischen Höhepunkt kommt. Sehr bühnenwirksam, dass das Bett der Landhaus-Szene nun der Spieltisch wird, auf dem die Scheine noch und noch zu Alfredo wandern und auf dem er Violetta schliesslich das gewonnene Geld ins Gesicht schleudert. Und effektvoll, wie genau in diesem Moment der Vater dasteht. Das zeugt von Handwerk – genau gleich, wie der überdrehte Auftritt des übrigens hervorragenden, inzwischen von Michael Clark geleiteten Chors viel Sinn für verspielte Ironie erkennen lässt.