Zweimal sieben Todsünden

Brecht und Weill in Biel und Solothurn

 

Von Peter Hagmann

 

Christiane Boesiger in Solothurn (Bild Suzanne Schwiertz, Konzert-Theater Biel-Solothurn)

«Die sieben Todsünden» von Kurt Weill auf einen Text von Bertolt Brecht aufzuführen – was für eine gute Idee. Dieter Kaegi, der Intendant von Theater-Orchester Biel-Solothurn, dem es an guten Ideen bekanntlich nicht fehlt, hatte sie. Gut ist die Idee, weil das Stück, weder Schauspiel noch Oper, sondern ein Ballett mit Gesang, sehr selten auf den Spielplänen erscheint – wo es in seiner ganz eigenartigen Gegenwärtigkeit doch das Gegenteil verdient hätte. Allein, der guten Idee widersetzen sich Schwierigkeiten, denn wie soll sich die halbe Stunde, in der «Die sieben Todsünden» verhandelt werden, zu einem tragfähigen Abend werden? Mit anderen Worten: Was soll dazugestellt werden? Auch zu solchen Fällen hat es in Biel und Solothurn schon gute Ideen gegeben, unvergessen zum Beispiel «La notte di un nevrastenico», ein hinreissender Spass von Nino Rota, vor Puccinis «Gianni Schicchi» (vgl. «Mittwochs um zwölf» vom 04.01.17). Diesmal aber entschieden Dieter Kaegi und der von ihm engagierte Regisseur Olivier Tambosi, dass nichts dazukommen soll. Dafür wird das Stück zweimal gespielt, einmal in der deutschen Originalsprache, einmal in einer Übersetzung ins Englische.

Das ist eine ebenso aufschlussreiche wie witzige Anspielung an die Rezeptionsgeschichte der «Sieben Todsünden». Tatsächlich geriet die Pariser Uraufführung von 1933 zum Misserfolg; der im Original gegebene Text blieb dem Grossteil des Publikums unverständlich. Weshalb schon rasch eine neue Fassung in den Blick genommen wurde, eine den Zeitläuften entsprechend in englischer Sprache. Beim Zuhören anlässlich der Premiere im Stadttheater Solothurn entstand der Eindruck, dass sich das Englische besser, wenigstens müheloser, mit der Musik Weills verbindet als das für Brecht kennzeichnende, etwas kantige Deutsch. Dafür kommt bei der Begegnung mit dem ursprünglichen Text die unzweideutige Botschaft Brechts mit ihrer Aktualität kraftvoller zur Geltung als im Englischen, wo sich eine wohlige, leicht verharmlosende Musicalatmosphäre einstellt – was vielleicht auch auf die reduzierte Fassung von HK Gruber und Christian Muthspiel mit ihren Anklängen an den Ton der «Dreigroschenoper» zurückgeht. Wer vorwärtskommen will, so die Maxime der von Brecht in seinem Stücktitel ausdrücklich angesprochenen Kleinbürger, muss kompromisslos Fleiss zeigen, keine Zeit für Gefühle verschwenden, sein Selbstgefühl unter den Scheffel stellen und erfüllen, was die Umgebung wünscht – es könnte von heute sein. Zum Beispiel, umgelegt auf Medien aller Art: Klickzahl als Zeichen der Anpassung an den Publikumsgeschmack vor Qualität des Produkts und der Aussage.

Um die Botschaft auf der Bühne fassbar zu machen, hat Brecht in die Trickkiste gegriffen. Im Zentrum steht Anna, die von ihrer Familie im armen Süden der Vereinigten Staaten auf eine Reise in den Norden geschickt wird, um Geld für den Bau eines eigenen Häuschens zu erwirtschaften. Die Familie ist von brutaler Zielgerichtetheit, weshalb sie Männerstimmen gesungen wird (Remy Burnens, Konstantin Nazlamov, Félix Le Gloahec und Jean-Philippe McClish bewältigen das blendend). Anna wiederum ist aufgeteilt auf zwei Figuren, auf Anna I, die den Katalog der Todsünden verkörpert, und Anna II, die diesen Todsünden noch so gerne nachlebt, von ihrer Schwester aber immer wieder in den Senkel gestellt wird. In Analogie zur Besetzung der vier Familienmitglieder werden die beiden Annas von einem Mann wie einer Frau verkörpert, wobei die Rollen in der Wiederholung des Stücks gewechselt werden. Das schafft erheiternde Wirkung. Zu Beginn, während die fünfzehn Mitglieder des Sinfonieorchesters Biel-Solothurn unter der Leitung von Iwan Wassilevski mit Schwung zur Sache gehen, bleibt der Vorhang geschlossen. Ein weiss geschminktes Frauengesicht schiebt sich durch den Spalt und singt das eröffnende «Lied der Schwester». Nur, so gleich die Frage, hat Christiane Boesiger inzwischen eine so tiefe, verrauchte Diseusenstimme?

Natürlich nicht. Es ist Christian Manuel Oliveira, der noch unsichtbar das «Lied der Schwester» singt, während Christiane Boesiger bloss die Lippen bewegt, das aber in derart perfekter Übereinstimmung tut, dass man unversehens ins Spiegelkabinett der kleinbürgerlichen Todsünden hineintaumelt. Im ersten Durchgang, auf Deutsch, erscheint Christian Manuel Oliveira als Anna I und zeigt, dass er nicht nur zu agieren, sondern auch zu singen versteht. Erst recht gilt das für Christiane Boesiger, die diese Aufgabe im zweiten Durchgang übernimmt und dabei mit ausgezeichnet verständlichem Englisch und gepflegtem kleinem Vibrato auffällt. Anna II dagegen ist als stumme Rolle anwesend; die Partie, so wollten es Brecht und Weill, so mussten sie es 1933 der Umstände wegen wollen, ist für eine Tänzerin gedacht, was in der Produktion von Biel und Solothurn nicht beim Wort genommen wird. Hier schlägt vielmehr die Stunde von Olivier Tambosi, der sich nicht nur als Regisseur, sondern auch Bühnenbildner eingebracht hat. Elegant arbeitet er mit verschiebbaren Transparenten, was auf den kleinen Bühnen der beiden Häuser Raum lässt, aber auch diskret auf die Schrifttafeln in Brechts Epischem Theater verweist. Hochbeschäftigt sind die Protagnisten wie die Familie, deren Mitglieder den Nibelungen gleich Würfel um Würfel zum Bau des Häuschens herbeischleppen. Das alles in einer zirkusartigen Umgebung, wie sie die Kostümbildnerin Lena Weikhard in grellen Farben herausstellt. Die Doppelbödigkeit, ja der Zynismus von Brechts Vorlage findet darin adäquate Spiegelung.

In der Männerwelt

«Mazeppa» von Peter Tschaikowsky in Biel

 

Von Peter Hagmann

 

Bild Suzanne Schwiertz, Theater-Orchester Biel-Solothurn

Die Koinzidenz hätte brutaler nicht sein können. In der Ukraine die Panzer der Invasoren aus Russland, im Stadttheater Biel, das aus gegebenem Anlass in den ukrainischen Nationalfarben erstrahlte, eine Oper, die genau diese Situation thematisiert: den machtgierigen Mann und eine schwierige Nachbarschaft. «Mazeppa» von Peter Tschaikowsky berichtet von einem ukrainischen Nationalhelden des 17. Jahrhunderts, der es am russischen Zarenhof Peters des Grossen in höchste Positionen geschafft hatte und dort ein grausames Regime führte, der sich dann aber vom Zaren abwandte, sich mit dem schwedischen König Karl XII. zusammentat und die Unabhängigkeit der Ukraine von Russland zu erkämpfen suchte – was freilich misslang. Tschaikowsky, der sich ein Libretto von Viktor Burenin selber einrichtete, verband das kriegerische Geschehen mit einer Liebesgeschichte, welche die in der Öffentlichkeit ausgetragenen Spannungen im Privaten spiegeln.

«Mazeppa» ist etwas für grosse Häuser. Das Orchester ist reich besetzt, und heftig ist der Ton der Partitur. Umso erstaunlicher, dass es sich Dieter Kaegi, der Intendant von Theater-Orchester Biel-Solothurn, nicht nehmen liess, die Oper in seinen beiden ausgesprochen kleinen Häusern herauszubringen. Möglich wird das nur, wenn die Orchesterbesetzung massiv verkleinert wird. Anders als bei «Herzog Blaubarts Burg» von Béla Bartók, wo der deutsche Dirigent Eberhard Kloke für eine anregende Einrichtung der ebenfalls mit grosser Orchesterbesetzung arbeitenden Partitur gesorgt hatte (vgl. «Mittwochs um zwölf» vom 19.02.20) war hier, bei «Mazeppa», Francis Griffin am Werk; der Blick in den Orchestergraben zeigte fünf Erste Geigen – und so klang es denn auch: bläserlastig und kantig. Das muss nicht sein, die Produktion von «Mazeppa» 2006 in Lyon hat deutlich gemacht, was in der Partitur steckt; der junge Kirill Petrenko zauberte damals einen gewiss bisweilen lauten, insgesamt aber in betörender Farbenvielfalt schimmernden Klang aus dem Orchestergraben.

Yannis Pouspourikas, dem neuen Chefdirigenten des Sinfonie-Orchesters Biel-Solothurn, ist das nicht gelungen. Aufbrausendes Temperament schien ihm die Hauptsache, weshalb die Lautstärke mehr als einmal an die Schmerzgrenze ging und es an Feinarbeit fehlte – nicht zuletzt aber auch an der Präzision des Zusammenspiels. Erst das überraschende, ganz leise Ende der Oper liess hören, was im Orchester auch noch denkbar gewesen wäre. Mag sein, dass Pouspourikas, der mit dieser Produktion seinen Einstand als Operndirigent gab, sich noch in die räumlichen Gegebenheiten wird einleben können – hier dominierte der Eindruck, die Methoden der musikalischen Darstellung würden eins zu eins aus einem grossen Staatstheater übernommen. Auch die Sängerinnen und Sänger gaben oftmals viel zu viel, sie erreichten rasch und immer wieder dynamische Spitzen, die störend und unschön über die Grenzen des Sinnvollen hinausgingen. Das zu verhindern und für handwerklich professionelle Balance zu sorgen, wäre die Aufgabe des Dirigenten und der Korrepetitoren gewesen.

Ausnahmen gab es. In der Partie der Ljubov, der Gattin des reichen Gutsbesitzers Kotschubej, liess Jordanka Milkova ihren warm timbrierten Mezzosopran frei strömen, ohne jeden Druck auch in Momenten der Expansion. Und als der junge, unglückliche Liebhaber Andrej machte Igor Mozorov mit einem klangvollen Tenor auf sich aufmerksam. Die beiden Herren Kontrahenten, Aleksei Isaev als Mazeppa und Askar Abdrazakov als dessen Freund, später als dessen Widersacher Kotschubej gingen zu Werk, als stünden sie im Bolschoi, so dass die stimmlichen Qualitäten, die beide Sänger einbrachten, kaum zu erkennen waren. Gewiss, in Osteuropa herrscht eine spezifische, ganz und gar eigenartige Kultur des Starkgesangs, die in ihrer Weise zu Tschaikowsky passt; in einem Haus wie dem Stadttheater Biel müsste damit jedoch äusserst sorgfältig umgegangen werden. Leider wurde auch Eugenia Dushina in der Partie der Maria nicht sachgerecht angeleitet; auch sie ging zu wenig ausgefeilt mit der Dynamik um, während ihr das Versinken Marias in den Wahnsinn am verstummenden Ende der Oper nicht auf der Höhe ihres sehr wohl wahrnehmbaren Vermögens gelang.

Das alles ereignete sich in einer Inszenierung, die ihren retrospektiven Ansatz konsequent durchhielt, zugleich aber manche Frage offen liess. Als Regisseur hatte sich der Hausherr Dieter Kaegi für einen Bühnenrealismus entschieden, der nicht wirklich auf die Bieler Bühne passt (und für Solothurn dürfte dasselbe gelten). Die Idylle, die der Ausstatter Dirk Hofacker für den Beginn auf die Bühnenrückwand projizieren liess, wirkte verniedlichend, die belebten Massenszenen mit dem von Valentin Vassilev geleiteten Chor litten unter räumlicher Enge. Ob die Folterszene, bei der dem Opfer Fingernägel ausgerissen werden, so explizit gezeigt werden muss, wie es hier geschah, mag dahingestellt bleiben. Andere Details – etwa die Hingabe, mit der Mazeppa die Zimmerpflanzen pflegt, bevor er die Todesurteile unterzeichnet – schufen dagegen intensive Denkanstösse. Und das Schlussbild, das die Landschaft des Anfangs aufnimmt, sie nun aber als Ruine zeigt, fuhr angesichts der aktuellen Bilder aus der Ukraine gewaltig ein.

Casanova und Paul Burkhard in Solothurn

Als Schöpfer von «O mein Papa» ist Paul Burkhard bis heute ein Begriff. Dass der Zürcher Musiker auch eine Oper komponiert hat, weiss jedoch niemand mehr. Jetzt wäre «Casanova in der Schweiz» in Solothurn und Biel zu sehen – wäre, wenn nicht…

 

Von Peter Hagmann

 

Vergebliche Liebesmüh: Simon Schnorr (Casanova) und Rebekka Maeder (Madame de ***) / Bild Suzanne Schwiertz, Theater Orchester Biel Solothurn

Der Chevalier de Seingalt stammt nicht aus St. Gallen, sondern aus Venedig. Zur Schweiz hatte Giacomo Girolamo Casanova, der sich den adligen Titel eigenhändig zugewiesen hat, jedoch durchaus seine Beziehung. Nur: Dass sich der Frauenheld ins Kloster Einsiedeln verziehen wollte und sich darum mit dem dortigen Fürstabt ins Benehmen zu setzen suchte, dass das einigermassen erstaunliche Vorhaben durch eine Schönheit gebodigt wurde, die in einem Zürcher Hotel überraschenderweise die Suite neben jener des zukünftigen Klosterbruders bezog, dass Casanova der Madame de ***, so bezeichnete er die neue Flamme in seinen Memoiren, nach Solothurn folgte und ihr dort nochmals überraschenderweise nahe kam – das alles behauptet der Drehbuchautor Richard Schweizer, der es faustdick hinter den Ohren hatte. Belegen lässt es sich nicht.

Das ist auch egal. Es geht ja nicht um die historische Wirklichkeit, es geht ums Theater. Genauer: um das Musiktheater – denn Richard Schweizer hat die erheiternde Geschichte für den Komponisten Paul Burkhard erfunden, der sie in seiner ersten Oper in Klang setzte. «Casanova in der Schweiz» nennt sich das «Abenteuer in fünf Bildern», das Anfang 1943 am Opernhaus Zürich, damals noch Stadttheater, aus der Taufe gehoben wurde – dies in einem Umfeld, zu dem die Uraufführungen von Alexander Zemlinskys «Kreidekreis» (1933), von Alban Bergs «Lulu» (1937)und von Paul Hindemiths «Mathis der Maler» (1938) gehörten. Paul Burkhard und Richard Schweizer war Erfolg beschieden; 1949 wurde «Casanova in der Schweiz» in Salzburg gegeben – doch dann verliert sich die Spur. Bis heute, da Dieter Kaegi, der Intendant des Städtebundtheaters, das sich inzwischen elegant «Theater Orchester Biel Solothurn» nennt, das Stück als Beitrag seines Hauses zur 2000-Jahr-Feier der Stadt Solothurn ausgegraben hat. Man darf von einer Grosstat sprechen.

Man dürfte es, wäre nicht die Pandemie dazwischen gekommen. Bestens vorbereitet, stand das Ensemble in den Startlöchern – da schlugen die neusten behördlichen Anweisungen zum Umgang mit der Pandemie ein. Den Schliessbefehl – respektive, in Solothurn, die Obergrenze von dreissig Zuschauern – mochte man nicht einfach so hinnehmen. Wenigstens die Premiere sollte über die Bühne gehen, und so kam «Casanova in der Schweiz» als «Geschlossene Vorstellung» vor sehr gelichteten Reihen, aber mit enormem Erfolg  zur Wiedergeburt. Eine einzige Wiederholung in gleicher Art ist noch vorgesehen, dann verschwindet die Oper Paul Burkhards wieder – in der Hoffnung auf baldig bessere Zeiten.

Dass diese Premiere zustande kam, selbst das verstand sich keineswegs von selbst. Keine einzige Probe habe bei voller Besetzung stattfinden können, berichtete Dieter Kaegi, bevor sich der Vorhang hob. Der Premierenabend wäre der erste Durchlauf gewesen, an dem alle Beteiligten hätten teilnehmen können. Hätten, wenn nicht am Morgen des Premierentags eine Sängerin hätte mitteilen müssen, dass ihr Covid-19-Test positiv ausgefallen sei und sie nicht zur Vorstellung kommen dürfe. Noch am Nachmittag studierte eine der beteiligten Kolleginnen Teile der fehlenden Partie ein und trug sie Abend mit dem Klavierauszug auf dem Notenpult vor – herzliche Gratulation der Mezzosopranistin Josy Santos. Das Fehlende musste der Dirigent hinter seiner Maske markierend beitragen, während am Seitenrand der Bühne wenigstens das Kostüm der abwesenden Darstellerin zu sehen war. Theater kann rasch zum Ritt über den Bodensee werden, das macht diese Kunstform so besonders.

Der guten Laune an diesem Abend tat das alles keinen Abbruch. Der Überraschung erst recht nicht. Paul Burkhard (1911-1977), der Schöpfer von «O mein Papa» (aus dem «Schwarzen Hecht»), der «Kleinen Niederdorf-Oper» und der «Zäller Wiehnacht», hat also auch eine Oper geschrieben. Mitten im Zweiten Weltkrieg, darauf spielt vor allem das Libretto mit seinen augenzwinkernden Verweisen auf die Geistige Landesverteidigung an. In ironischer Grundhaltung und in einem ohne Zweifel bewusst hölzernen Opern-Hochdeutsch schildert «Casanova in der Schweiz» die Fährnisse, denen sich der Frauenheld in der Begegnung mit der kühlen, von den Avancen nicht unberührten, aber ihrem um ein Vierteljahrhundert älteren Ehemann zutiefst verbundenen Madame de *** ausgesetzt sieht. Um ein Haar verliert der Held die Fassung – dann nämlich, wenn ihm klar wird, dass ihm in der entscheidenden Nacht nicht Madame zur Seite lag, dass ihm vielmehr eine von ihm verschmähte Anbeterin untergejubelt wurde. Auf der Stelle rächt sich der Genasführte, fällt aber sogleich einer neuerlichen Intrige zum Opfer – von der er sich schliesslich mit drei Damen erholt, die ihm der französische Botschafter in der Eidgenossenschaft zuführt. So viel zum Treiben in der Ambassadorenstadt, wie es der Zürcher Librettist von «Casanova in der Schweiz» sieht.

Und dann: die Musik – einfach köstlich. Paul Burkhard ist, wenn überhaupt, als Mann der leichten Muse bekannt. Dabei geht vergessen, dass der Musiker nicht nur ausserordentlich, sondern auch vielseitig begabt war. Als ausgezeichneter Pianist hat er in seinen Anfängen als Korrepetitor im Theater gedient. Später wurde er von progressiven Künstlern wie Rolf Liebermann und Hermann Scherchen zu Radio Beromünster geholt, wo er das Orchester dirigierte. Viel von diesem Horizont lässt «Casanova in der Schweiz» hören. Im Handwerk absolut hochstehend, in der Imagination reichhaltig zeigt sie Paul Burkhard als einen genuinen Theatermenschen und einen Komponisten mit Sinn für den Effekt, aber auch als einen Connaisseur, der ganz selbstverständlich durch die Gemächer der Oper wandelt. Die in Solothurn leicht an die engen räumlichen Verhältnisse angepasste Partitur orientiert sich am rezitativischen Ton etwa von Richard Strauss, der konkret mit mehreren Zitaten präsent ist, sie bietet aber auch eine Reihe geschlossener Nummern im Geist der Arie oder des Couplets. In hohem Mass eklektisch, aber mit Witz und Raffinement gefügt, ausserdem durch manchen klangfarblichen Reiz bereichert, hält sie die Geschichte in munterem Fluss.

An der seltsamen Solothurner Premiere wurde das dank dem Sinfonie-Orchester Biel-Solothurn und Francis Benichou, seines Zeichens Studienleiter in Biel und Solothurn, zu einem prickelnden Vergnügen. Schade nur, dass der Enthusiasmus des Dirigenten die Energien gern überschiessen liess und an mancher Stelle, was die Lautstärke betrifft, für den kleinen Raum im Solothurner Stadttheater des Guten zu viel bewirkte. Auf der von Vazul Matusz (Bühne) und Rudolf Jost (Kostüme) gestalteten Bühne herrschte durchgehend witzige Spielfreude. Georg Rootering, der das Geschehen liebevoll im 18. Jahrhundert beliess, bringt in seiner Inszenierung das Buffoneske zu geschmackvoll kräftiger Geltung. Und lässt dem Ensemble freien Raum – den die Darstellerinnen und Darsteller lustvoll nutzen. Mit seinem leuchtenden Bariton ist Simon Schnorr in der Titelrolle der perfekte Verführer. Wie Don Giovanni ist er von einem Diener begleitet, von Leduc mit seinem sprechenden Namen, der sich, wie Konstantin Nazlamov vorführt, in jeder Situation zu helfen weiss. Rebekka Maeder hat sich die Partie der hingerissenen, aber felsenfest treuen Madame de *** voll zu eigen gemacht, nicht weniger gilt das für Céline Steudler in der Rolle der bürgerlichen Dubois und Martin Mairinger als der unbegabte, aber ehrliche Herzensbrecher Lebel. Bleibt bloss die Frage, wann aus dem Geisterspiel der Premiere noch ein für alle offener Theaterabend werden kann.

Wenn weniger mehr wird

«Herzog Blaubarts Burg» von Bartók in Biel

 

Von Peter Hagmann

 

Die Burg als Gefängnis: Katerina Hebelkova (Judith) und Mischa Schelomianski (Blaubart) in Biel / Bild Konstantin Nazlamov, Theater-Orchester Biel-Solothurn

Das Stadttheater Biel ist ein Ort des Besonderen. Nicht nur, weil es sich bei der Institution im Verbund von Theater-Orchester Biel-Solothurn um das zweifellos kleinste Mehrspartenhaus mit voller Ausrüstung handelt, sondern auch, und vor allem, des künstlerischen Profils wegen. Der Intendant des Hauses, der Opernregisseur Dieter Kaegi, ist immer wieder für eine Überraschung gut. Neben einer «Cenerentola» und einer «Fille du régiment» als Stützen der Buchhaltung wartet er mit Randerscheinungen wie etwa «Radames» von Peter Eötvös, «Lohengrin» von Salvatore Sciarrino oder, besonders erheiternd, «La notte di un nevrastenico» von Nino Rota auf. Jetzt folgt – ganz allein, ohne die sonst übliche Ergänzung durch ein zweites Werk – der Einakter «Herzog Blaubarts Burg» von Béla Bartók. Wie das, ausgerechnet dieses Stück mit seiner doch recht üppigen Orchesterbesetzung?

In der Tat. Kaegi, ein unermüdlicher Schatzgräber, ist auf den deutschen Dirigenten und Komponisten Eberhard Kloke gestossen, der eine ganze Reihe Opern mit grosser Orchesterbesetzung für kleinere Häuser eingerichtet hat. Eben erst ist in Wien, im Theater an der Wien, «Salome» von Richard Strauss in dieser Weise herausgekommen, seit 2019 läuft im Mainfranken Theater Würzburg das Projekt einer Aufführung von Richard Wagners «Ring des Nibelungen». Ihren Anfang nahm diese Tätigkeit vor zehn Jahren mit «Herzog Blaubarts Burg». Inzwischen kamen grosse Opern wie «Wozzeck» von Alban Berg, «Pique Dame» von Peter Tschaikowsky oder «Boris Godunow» von Modest Mussorgsky dazu. Daneben gibt es in dem gegen einhundert Nummern umfassenden Werkverzeichnis Klokes auch das Gegenteil der Reduktion, nämlich die Erweiterung, zum Beispiel jene eines Klavierwerks wie der «Mondschein-Sonate» Ludwig van Beethovens zur «Mondschein-Sinfonie» für Orchester.

Das alles nährt sich natürlich aus dem Handwerk des Dirigenten, der in seiner Arbeit jeweils tief in die musikalischen Strukturen einzudringen gewohnt ist. Zugleich wird hier die spätromantische Tradition der Bearbeitung aufgenommen, wie sie Franz Liszt und Ferruccio Busoni, später auch Luciano Berio gepflegt haben. Und nicht zuletzt scheint hier die Idee von der «komponierten Interpretation» auf, die der Dirigent und Komponist Hans Zender mit seinem 1993 uraufgeführten Werk «Schuberts Winterreise» vorangetrieben hat. Tatsächlich betont Eberhard Kloke, dass es bei einer Einrichtung wie jener von «Herzog Blaubarts Burg» nicht nur darum gehe, die Anzahl der von der Partitur geforderten Orchestermusiker von ursprünglich 107 auf 25 Mitglieder zu reduzieren und somit die Aufführung des Werks in kleineren Häusern zu ermöglichen. Vielmehr stelle seine Bearbeitung eine an der Substanz des Notentextes durchgeführte Interpretation dar, indem im aufgelichteten Klangbild durch bestimmte Beleuchtungen neue Hörperspektiven geschaffen werden sollen.

Das war bei der Bieler Premiere, einer Uraufführung, ganz klar wahrzunehmen. Die Orchesterbesetzung umfasst bei Kloke neun Holzbläser, vier Blechbläser, Harfe, zwei Tasteninstrumente und Schlagzeug sowie ein doppelt besetztes Streichquintett mit allerdings nur einem einzigen Kontrabass. In solcher instrumentaler Gewandung erhält Bartóks Musik eine ganz eigene Schärfe. «Herzog Blaubarts Burg», so der Eindruck, wird mit einem Mal zu jenem moderne Stück, als das der Einakter 1911 komponiert worden ist. Was nämlich durch die Einbettung in den philharmonischen Sound – Bartók verlangt in den Streichern eine Sechzehner-Besetzung – gemildert wird, tritt in der Fassung Klokes ungeschönt heraus. Selbst die mächtige Akkordfolge, die Judiths Blick in das weite Land aus dem Besitz Blaubarts begleitet, liess in Biel fatale Risse hören, denn der Klang der elektronischen Orgel, die (übrigens schon bei Bartók) der Füllung dient, trug durchaus gebrochene Züge. Was auf der anderen Seite ein einzelner Kontrabass oder eine Kontrabassklarinette an fundamentaler Wirkung zu erzeugen vermag, auch das war eindrucksvoll zu erleben. Dies übrigens nicht zuletzt dank dem Engagement des Sinfonieorchesters Biel-Solothurn und seines Chefdirigenten Kaspar Zehnder.

Was man zu hören bekam, das spiegelte sich in mannigfacher Weise auf der Bühne. Dorthin hat der Ausstatter Francis O’Connor einen heruntergekommenen Riesenwürfel gestellt, der sich um die eigene Achse dreht und hier sein rostiges Aussenleben, dort eine schäbige Kammer sehen lässt. Dieter Kaegi, der Regisseur des Abends, bringt «Herzog Blaubarts Burg» nicht als ein Spiel voller erotischer Spannung zwischen einem vom Leben gezeichneten Adligen und einer jungen Frau auf die Bühne, sondern in jener schockierenden Grausamkeit, die der Geschichte zugrunde liegt. Natürlich bittet Blaubart immer wieder um Liebe, um Küsse, aber viel deutlicher zeigt der mit seiner Vergangenheit im Unreinen befindliche Mann, dass er Oberwasser zu bewahren sucht – mit seinem sonoren, bisweilen kantig aufbrausenden Ton lässt Mischa Schelomianski keinen Zweifel daran. Judith, die phänomenale Katerina Hebelkova, wird von ihm Isolierhaft gehalten. Sie vermag zwar ihrem Peiniger die Schlüssel abzuringen und blickt endlich in die letzte Kammer mit den verblichenen Frauen Blaubarts, aber gut bekommt ihr das nicht. Die Kammern übrigens, sie sind keine Kammern, sondern szenische Metaphern: Tonbandgeräte mit Erinnerungen, eine verschimmelte Dusche als Tränenmeer – eine ebenso sinnvolle wie wirksame Lösung angesichts der Platzverhältnisse auf der Bieler Bühne. Gelungen auch der Einfall, den Sprecher des Prologs (Christian Manuel Oliveira) als stummen Beobachter und heimlichen Erzähler am Geschehen teilnehmen zu lassen. Ein kurzer, aber heftiger Abend.

Klein, aber fein

Opern-Entdeckungen in Biel und Solothurn

 

Von Peter Hagmann

 

Ja, klein, aber fein – so kann man es fürwahr sagen. Die beiden Häuser, die das Theater Biel und Solothurn bespielt, bieten je dreihundert Plätze. Da muss genau konzipiert und scharf kalkuliert werden, auf dass der ausgebaute Mehrspartenbetrieb mit Schauspiel, Oper, Konzert und Tanz im Gleichgewicht bleibe. Finanziell gelingt das dem seit 2013 amtierenden Intendanten und Operndirektor Dieter Kaegi in beeindruckender Weise – künstlerisch aber erst recht. Ein Leichtes wäre es, das Haus im Opernbereich mit sicheren Werten zu füllen, doch genau dafür ist Kaegi mit seiner klaren Vorstellung davon, was ein zeitgemässes Opernhaus sein soll, nicht geschaffen. Gewiss braucht auch er seinen Kassenfüller; diese Saison ist das «La Cenerentola», die komische Oper Gioachino Rossinis, welche, die Gastspiele in der Schweiz eingerechnet, über zwanzig Mal gezeigt wird. Darüber hinaus wartet Kaegi jedoch mit einem ungewöhnlichen Bick auf das Repertoire auf; sein Opernprogramm enthält eine Fülle an Entdeckungen – was dem Haus eine ganz eigene Lebendigkeit sichert.

«Les Fées du Rhin» in Solothurn / Bild Konstantin Nazlamov, Theater Orchester Biel Solothurn

Auf «La Cenerentola» folgten «Les Fées du Rhin» von Jacques Offenbach in einer gemeinsam mit der Opéra de Tours erstellten Produktion. Ein hochinteressanter Fall. In ihrer deutschsprachigen Version sind «Die Rheinnixen» – keine opéra-bouffe, sondern eine grosse romantische Oper – 1864 an der Wiener Hofoper aus der Taufe gehoben worden; dies anstelle von «Tristan und Isolde», der «Handlung in drei Aufzügen»  Richard Wagners, vor der das Wiener Haus kapituliert hatte. In seiner französischen Originalfassung aber sind «Les Fées du Rhin» bis anhin nie auf einer Bühne erschienen, da haben zuerst Tours und später Biel/Solothurn etwas nachgeholt, was überfällig war. Gänzlich unbekannt war das Werk allerdings nicht, denn die berühmte Barcarole, die Offenbachs unvollendete Oper «Hoffmanns Erzählungen» bestimmt, sie stammt aus «Les Fées du Rhin», von wo sie der Komponist in die später entstandene Partitur übernommen hat.

Dass «Les Fées du Rhin» wie vieles andere von Jacques Offenbach der Vergessenheit anheimgefallen ist, ist gewiss nicht der Komposition anzulasten. Die ist von hohem Wert (was bei der Barcarole nicht eigens angemerkt zu werden braucht), zugespitzt charakterisierend, dabei reizend in der melodischen Erfindung und raffiniert in der Instrumentation. Schwierigkeiten löste das Libretto von Charles Nuitter aus, mit dem sich Offenbach explizit als Patriot, als Pazifist, ja überhaupt als ein in hohem Masse politisch denkender Künstler darstellte. Erzählt wird eine Geschichte von kriegerischen Ereignissen, von sagenhafter Brutalität gegenüber Frauen, vor allem aber von einer unstillbaren Sehnsucht nach Frieden und nach einem geeinten Vaterland östlich des Rheins. In Klang gebracht ist diese Geschichte von einem deutschen Juden in Frankreich, der für seine Versatilität im leichten Genre bekannt war – das mochte vielen ebenso wenig in den Kram passen wie die ätzende Gesellschaftskritik in der opéra-bouffe «Barkouf», die jetzt in Strassburg ans Licht geholt worden ist (vgl. «Mittwochs um zwölf» vom 12.12.18).

Den spezifischen Kontext, in dem «Les Fées du Rhin» stehen, hat die Aufführung beim Theater Orchester Biel Solothurn besonders herausgestellt. Getreu dem prononcierten Einstehen des Hauses für die Zweisprachigkeit wurde an dem Abend in beiden Sprachen gesungen, auf Französisch in der Haupthandlung, auf Deutsch in den Partien, in denen das Vaterland beschworen wird. Auch sonst ging die Produktion – die Rede ist hier von ihrer Premiere in Solothurn – ausgesprochen explizit zu Werk. Als Dirigent, der die Einstudierung von Benjamin Pionnier übernommen hatte, blieb der Studienleiter Francis Benichou zwar etwas brav, aber das Orchester, das der räumlichen Verhältnisse wegen in reduzierter Besetzung auftrat, liess die Partitur funkeln. In den tragenden Rollen brillierten die türkische Sopranistin Serenad Uyar, die französische Mezzosopranistin Marie Gautrot sowie die Herren Gustavo Quaresma, Leonardo Galeazzi und Lisandro Abadie. Und Pierre-Emmanuel Rousseau hat in seiner eigenen Ausstattung eine Inszenierung angelegt, die das Stück streng in die Konfliktzonen auf dem heutigen Balkan zog und damit die Kompromisslosigkeit seiner Aussage unterstrich. Wer mag, kann hier – durchaus zu seinem Gewinn – einen ganz anderen als den gewohnten Offenbach entdecken.

«Radames» in Biel / Bild Sabine Burger, Theater Orchester Biel Solothurn

In ähnlicher Weise radikal erscheint die auf das Offenbach-Projekt folgende Produktion, deren Premiere in Biel mit aller Begeisterung aufgenommen wurde. Selbstverständlich ist das nicht, denn auf dem Programm standen zwei Einakter aus dem späten 20. Jahrhundert: «Radames» (1975/97) von Peter Eötvös und «Lohengrin» von Salvatore Sciarrino (1982/84) als ein komisches und tragisches Gespann. Bei Eötvös ist die Oper als Institution und damit als Kunstform am Ende. Weil das Theater kaputtgespart wurde (was Dieter Kaegi als Intendant der Oper in Dublin selbst erlebt hat), erscheint zur Probe der Schlussszene von Verdis «Aida» ein einziger Sänger: ein Countertenor (Rafał Tomkiewicz), der Aida und Radames zugleich gibt. Dafür sind mit Céline Steudler, Konstantin Nazlamov und Jamid Samadov drei übrig gebliebene Regisseure, mit Damien Liger ausserdem noch ein Inspizient dabei, die alle mit ihren vielsprachigen Kommentaren den Darsteller derart in die Ecke drängen, dass sein Theatertod am Ende ein wirklicher wird. Ausgekleidet wird das Geschehen, das der Regisseur Bruno Berger-Gorski in der Ausstattung von Dirk Hofacker witzig in Szene setzt, durch eine kleine Combo mit dem Dirigenten Yannis Pouspourikas, welcher, der Not der Stunde gehorchend, selber am Clavinova sitzt. Auch wenn Eötvös’ Einakter da und dort Altersfalten erkennen lässt – die Unterhaltung ist köstlich.

Das reine Gegenteil von Unterhaltung bietet Sciarrino; in «Lohengrin» tritt die Oper vielmehr aus sich heraus und greift ins Existentielle, wie es Arnold Schönberg in seinem Monodram «Erwartung» getan hat. Der Text von Jules Laforgue, den sich der Komponist selbst eingerichtet hat, zeigt Elsa im Zustand nach dem Finale von Wagners romantischer Oper: übergekippt, verheddert in Erinnerungsfetzen und Wahnvorstellungen, versenkt in einen Dialog mit dem entschwundenen Geliebten, der in Tat und Wahrheit ein Monolog bleibt. Die Musik dazu ist typischer Sciarrino, wenn auch noch ohne jene charakteristischen Schleifer und Tonrepetitionen, die seit der Oper «Luci mie traditrici» (1998) zur Handschrift des Italieners gehören. Es ist im Grunde keine Musik, sondern vielmehr eine Sammlung leisester Geräusche und hingehauchter Satzfragmente. Wie die junge Sopranistin Céline Steudler, eine Bühnenbegabung erster Güte, die getriebene Elsa Fleisch und Blut werden lässt, kann einem mächtig nahe gehen. Und was das Sinfonie-Orchester Biel-Solothurn unter der Leitung von Yannis Pouspourikas an geflüsterter Kulisse beisteuert, lässt nichts zu wünschen übrig. Eindringlich auch die vom gleichen Team wie bei Eötvös entworfene Inszenierung, die von Anfang an klar macht, dass der Garten, die Villa, das Meeresufer, von denen Elsa spricht ist, allein in der wirren Imagination einer Kranken existieren. Wie sich das Engagement für zeitgenössisches Musiktheater auszahlen kann, in Biel (und später dann in Solothurn) ist es zu erfahren.

«Lohengrin» in Biel / Bild Sabine Burger, Theater Orchester Biel Solothurn

Vom Dunkel ins Licht – und zurück

«Iolanta» von Tschaikowsky in Solothurn

 

Von Peter Hagmann

 

Im Glashaus: Iolanta wird vom maurischen Arzt geheilt. / Bild Konstantin Nazlamov, Theater-Orchester Biel-Solothurn

 

Während «Schwanensee und «Nussknacker», «Eugen Onegin» und «Pique Dame» sowie die Sinfonien fünf und sechs in aller Munde sind, fristet «Iolanta» ein Schattendasein. Dabei handelt es sich bei Peter Tschaikowskys Einakter nicht etwa um ein vergessen gegangenes Jugendwerk, sondern um des Komponisten letzte Oper überhaupt. 1891, zwei Jahre vor seinem Tod, in St. Petersburg uraufgeführt, vermochte sich das thematisch avancierte Werk nicht zu verbreiten. Produktionen sind selten – weil die Opernhäuser nicht wagen, das rund anderthalb Stunden dauernde Stück allein anzusetzen und weil andererseits die Möglichkeiten der Kombination eingeschränkt sind. Was den medialen Bereich betrifft, sieht es nicht weniger trübe aus.

Um so mehr ist zu schätzen, dass das Theater Biel-Solothurn «Iolanta» jetzt ins Programm genommen hat. Die Musik ist herrlich, wie so vieles aus Tschaikowskys Feder – und eigenartig zugleich, wie die zahlreichen Feinheiten der Instrumentation erkennen lassen. An der Premiere im stimmungsvollen, sensibel wiederhergestellten Stadttheater Solothurn brauchte es beim Zuhören allerdings ein wenig Phantasie; der begrenzte Platz im Orchestergraben verunmöglicht, die Streicher so zahlreich zu besetzen, wie es erforderlich wäre. Bläserbetont war darum der Klang und herb – ungewohnt jedenfalls für Tschaikowsky, aber nicht uninteressant. Die modernen Seiten der Partitur traten zutage, und dem entsprachen die frischen Tempi, die Francis Benichou, der Dirigent der Solothurner Premiere, mit sicherer Hand installierte. Das Sinfonie-Orchester Biel-Solothurn war aufmerksam dabei; vielleicht hätte es auch etwas explizitere Gestaltung mitgetragen, sei es im Umgang mit den Tempi, sei es in der Arbeit an den Instrumentalfarben.

Als König René, Vater der blinden Iolanta, spielt Pavel Daniluk seine ganze Kraft aus; auf der kleinen Bühne erscheint er als ein Herrscher von riesiger Statur, der sich seine Umgebung unterwirft und sie dazu bringt, seiner Tochter die Tatsache ihrer Blindheit zu verheimlichen. Über die Einhaltung des Gebots wacht als eine Art Oberschwester die Kammerfrau Martha, der Candida Guida ihren tiefen, ungemein gerundeten und klangschönen Alt lieh – ich würde fast wetten, dass man von der jungen Italienerin bald mehr hören wird. Seiner Sache ganz sicher ist der König freilich nicht, jedenfalls hat er den maurischen Arzt Ibn-Hakia engagiert, der für seine ophthalmologischen Künste bekannt ist. Der Moslem mit seiner wunderschönen Schultertasche steht für die alte arabische Hochkultur, wie sie das mittelalterliche Spanien gekannt hat – dass das in unserer Zeit des blutrünstigen Islamismus auf die Bühne kommt, ist ausgesprochen wertvoll. Und es wirkte besonders stark, weil Aram Ochanian nicht nur äusserst klug argumentieren durfte, sondern das auch in einer wohltönend ruhigen Art tat.

Die einzige, allerdings nachvollziehbare Bedingung, die der Arzt stellt, ist die Forderung, dass Iolanta aufgeklärt werden solle, damit sie den Schritt hin zum Licht selbstbestimmt einfordern könne. Die Aufklärung übernimmt in der Oper, anfangs sehr zum Verdruss des Vaters, ein junger Mann; er schwärmt ihr nicht nur vom Sehen vor, sondern auch von der Liebe. Irakli Murjikneli setzt seinen weich timbrierten Tenor so überzeugend ein, dass die wohlorganisierte Welt König Renés rasch in sich zusammenfällt und Iolanta nimmer von ihrem Grafen Vaudémont lassen will. In der atmosphärisch belebten, anregenden und detailgenauen Inszenierung von Dieter Kaegi, dem Intendanten am Theater Biel-Solothurn, ist das alles mit Händen zu greifen. Der Ausstatter Francis O’Connor hat das vom Textbuch geforderte Paradies in ein wunderbares Gewächshaus umgewandelt, in dem der Lichtdesigner Mario Bösemann die zauberhaftesten Stimmungen evoziert. Hier wachsen nicht nur langstielige Rosen, hier erwacht auch die von Anna Gorbachyova sehr überzeugend als junges Mädchen gesungene und gespielte Iolanta zum Leben. Was von ihrer Umgebung mit stürmischer Begeisterung aufgenommen wird.

Iolanta aber ist, so zeigt es der Regisseur, dem ungewohnten Licht nicht gewachsen; sie will zurück in die Dunkelheit. Mitten in den Jubel hinein blendet sie sich mit zwei Rosenstielen und präsentiert dem schockierten Publikum ihre blutenden Augen. Ein Alptraumbild. Ein Theaterbild.

«I muess rede, süscht wurgets mr d Seel ab»

«Marie und Robert» von Jost Meier als Uraufführung im Stadttheater Biel

 

Von Peter Hagmann

 

Geani Brad (Robert) und Leila Pfister (Marie) im Stadttheater Biel / Bild Frances Marshall, Theater Orchester Biel Solothurn

Marie liebt Robert, geht dann aber auf Nummer sicher und heiratet den begüterten, einflussreichen Theophil. Robert wiederum liebt Marie, leidet jedoch an seinem unterlegenen sozialen Status als Arbeiter, an seinem schlechten Lohn und der damit verbundenen Zurücksetzung. Theophil schliesslich ist so eifersüchtig auf Robert, dass er ihn die Macht des Gläubigers spüren lässt und ihn mit steigenden Zinsforderungen in die Enge treibt. Marie will Robert mit Geld ihres Mannes helfen, Theophil entdeckt die beiden und wird von Robert erschlagen. Als einzige Zeugin beteuert Marie vor Gericht, dass es sich um einen Unfall gehandelt habe, und legt einen falschen Eid ab. Endlich vereint, kommen die beiden aber nicht zusammen; zu viel steht zwischen ihnen.

Der Plot ist so gut, dass er wahr sein könnte. Er stammt aus «Marie und Robert», dem Drama des früh verstorbenen Aargauer Pfarrers, Lehrers und Schriftstellers Paul Haller, dem bedeutendsten Vertreter des Naturalismus in der Schweiz. Unglaublich stark ist dieser Text, wenn auch nicht einfach zu lesen. Er ist in einem pointierten Schweizer Dialekt geschrieben, der in seiner schriftlichen Form einiges an Entschlüsselung verlangt. Vielleicht aber wirkt das Stück gerade darum so direkt, so eindringlich. Es rufe förmlich nach Musik, fand Dieter Kaegi, der Intendant des «Theater Orchester Biel Solothurn», wie sich die kleine, aber äusserst lebendige Oper in der Schweizer Uhrenmetropole Biel heute umständlich genug zu nennen hat. In Jost Meier hat er den lange gesuchten Komponisten gefunden – den genau richtigen, denn nicht nur hat der 78-jährige Musiker in Biel als Orchestergründer und Chefdirigent eine wichtige Rolle gespielt, als eingefuchster Theaterpraktiker weiss Meier auch, wonach die Bühne verlangt.

So wurde «Marie und Robert» denn von Hans Jörg Schneider, dem bekannten Schweizer Schriftsteller, einem langjährigen Freund und Mitstreiter des Komponisten, in ein Libretto umgeformt – und dabei ins Hochdeutsche übersetzt. So sehr man das im Hinblick auf die Verbreitung der Oper verstehen kann, so sehr muss man es bedauern. Höhepunkt der als Ganzes grandiosen Uraufführung im Stadttheater Biel war nämlich ein Monolog, in dem das Innere Roberts zu sprechen beginnt: «I muess rede, süscht wurgets mr d Seel ab.» Ja, die Stelle ist im originalen Dialekt geblieben, sie ist als Melodram eingerichtet, als gesprochener Text zu instrumentaler Musik, und vorgetragen wird sie von einem jungen Mädchen in unschuldigem Weiss (die Kostüme stammen von Katharina Weissenborn). Mit welchem Selbstbewusstsein, welcher Souveränität und welcher Ausstrahlung Shirin Patwa das tat, gehört zum Erstaunlichsten an diesem Abend. Zu spüren war aber auch, wie viel auf dem Weg vom Drama zum Libretto und vom Dialekt zur Schriftsprache verloren gegangen ist.

Das gilt auch für einzelne Figuren. Frau Schödler zum Beispiel, die Mutter des Titelhelden, ist bei Haller nicht bloss die am Alter leidende Frau, als die sie das Libretto zeigt, sondern auch eine arge Strippenzieherin, die das Geschehen mit hinterhältigem Nachdruck in ihrem Sinn zu lenken versucht. Und in ihrem Sinn wäre es, wenn sie bis ans Ende ihrer Tage in dem Häuschen verbleiben könnte, das die Erbschaft ihres verstorbenen Gatten darstellt, und wenn sie ihren Sohn, der lieber nach Amerika auswandern und ein neues Leben beginnen möchte, bei sich behalten könnte – weshalb sie Marie als ihren Köder mit Worten umgarnt. Tritt dieser Zug in Haller Stück als dramaturgisches Movens klar und deutlich heraus, geht es im Libretto weitgehend verloren; die Figur verliert damit an Prägnanz – das ist der Preis der Raffung, die der Operntext verlangt. Einiges davon kompensiert Franziska Hirzel, welche die Partie dieser bösen Mutter stimmlich grossartig meistert, durch ihre starke, anhaltende Bühnenpräsenz.

Und das trotz der etwas zu bewegungsreichen Inszenierung Reto Nicklers. Geschickt gelöst hat der Bühnenbildner Christoph Rasche die fast filmisch raschen Wechsel zwischen Innen und Aussen. Und der (von Valentin Vassilev vorbereitete) Chor ist so schwarz gekleidet und geschminkt, dass er beinah im Hintergrund verschwindet. Allerdings setzt die Produktion das Stück von 1916 ins Umfeld des Landesstreiks vom Herbst 1918. Das hat insofern seine Plausibilität, als der Unmut der Arbeiterschaft nicht erst 1918 auf einen Schlag ausgebrochen ist, sondern sich in den Jahren zuvor schon aufgestaut hat. Die in die Oper einmontierten Zitate von General Wille und dem späteren SP-Bundesrat Nobs wirken aber anachronistisch. Zudem wird mit zwei dem Werk angefügten Sätzen ein in seiner Direktheit nicht unproblematischer Zusammenhang zwischen der innerlich zerrissenen Hauptfigur und dem Suizid ihres Erfinders Paul Haller im Frühjahr 1920 hergestellt.

Solcher Einschränkungen zum Trotz bietet «Marie und Robert» Stoff für einen ausnehmend anregungsreichen Abend. Die Musik Jost Meiers, im weitesten Sinn avantgardistischen Idiomen verpflichtet, arbeitet mit fasslichem Klang, was auch das Sinfonie-Orchester Biel unter der Leitung seines Chefdirigenten Kaspar Zehnder hörbar macht. In eindringlichen Farben erzählt sie die schauerliche Geschichte. Und Leila Pfister (Marie), Geani Brad (Robert) sowie Boris Petronje (Theophil) sorgen mit ihrem Können und ihrem Engagement dafür, dass diese Dreiecksbeziehung zu ihrer fatalen Erfüllung findet. Ob Robert mit seinen aufgehäuften Schuldgefühlen tatsächlich als Schweizer Wozzeck gesehen werden kann, wie an der Premiere gesagt wurde, mag dahingestellt bleiben. Tatsache ist aber – und darauf verweist nicht zuletzt der von Konstantin Nazlamov virtuos gezeichnete Auftritt des aalglatten Immobilienhändlers Müller –, dass die Thematik des Stücks in ganz ausserordentlicher Weise mit unseren Tagen zu tun hat.

Vergnügungen im Hotelzimmer und auf dem Totenbett

«La notte di un nevrastenico» von Nino Rota und Giacomo Puccinis «Gianni Schicchi» im Stadttheater Solothurn

 

Von Peter Hagmann

 

Kein Auge kriegt er zu, wenn er im Hotel zu nächtigen hat. Die Geräusche der Nachbarn, sei es ein fallender Schuh, seien es die Laute eines Liebespaars, bringen ihn die Wände hoch. Darum hat der Gast für diese Nacht nicht nur ein Zimmer für sich selber gebucht, sondern auch gleich noch das links und das rechts von dem seinen. Allein, er hat die Rechnung ohne den Wirt gemacht. In Mailand ist Messe, bis auf die letzte Besenkammer ist alles voll belegt. Der Portier überlässt darum dem verspäteten Handelsreisenden mit seinen auffallend schicken Schuhen und dem ziemlich aufgeregten Liebespaar die beiden zwar schon gebuchten und bezahlten, aber eben leerstehenden Zimmer – das lässt die Kasse klingeln. Und schafft prompt Schwierigkeiten mit dem lärmempfindlichen Gast. Denn bald fällt ein Schuh zu Boden und entfährt den Liebenden der unvermeidliche Hauch.

Gast und Portier in «La notte di un nevrastenico» / Bild Ben Zurbriggen, Theater-Orchester Biel-Solothurn

 

Wer kennte das nicht? Wer könnte sich nicht in die Haut des Schlaflosen versetzen? Nur: wer das Reisen kennt, weiss, was sie leiden. Sie: die Gestörten, die Nervösen, die Neurastheniker – die Kranken? Einer immerhin hatte Mitleid mit ihnen – vielleicht weil ihm das Problem vertraut war. Nino Rota, der musikalische Weggefährte Federico Fellinis, hat dem Neurastheniker ein Denkmal gesetzt in Form eines äusserst vergnüglichen Operneinakters. «La notte di un nevrastenico», 1950 auf ein Libretto von Riccardo Bacchelli komponiert, 1960 von Giorgio Strehler an der Piccola Scala in Mailand zur szenischen Uraufführung gebracht, erzählt genau die tragikomische Geschichte von einem Schlaflosen, der zur Sicherheit gleich drei Zimmer reserviert hat. Die Auseinandersetzung mit den ungebetenen geräuschvollen Nachbarn, besonders aber dem Portier dauert ihre Weile. Am Ende triumphiert der Neurastheniker, hat er seine drei Zimmer und seine Ruhe, aber wie er sich erschöpft zu Bett legen will, klopft der Kellner mit dem Frühstück an die Tür.

Tatsächlich, Nino Rota hat nicht nur unvergessliche Musik zu unvergesslichen Filmen geschrieben, sondern, unter anderem, auch eine ganze Reihe Opern. Nicht einmal seine berühmteste, «Il cappello di paglia di Firenze», ist heute noch bekannt. Darum kann nicht hoch genug gelobt werden, dass Dieter Kaegi, der Intendant von Theater und Orchester Biel Solothurn (TOBS), «La notte di un nevrastenico» ausgegraben hat. Und dies in reizvollem Kontext, als Vorspiel nämlich zu «Gianni Schicchi» von Giacomo Puccini, einem anderen, freilich weitaus berühmteren Einakter. Die Kombination ist nicht nur ausgesprochen originell, sie ist auch treffend, denn bei «Gianni Schicchi» kommt es ebenfalls gründlich anders heraus als gedacht. Am Ende geht das stattliche Erbe des soeben verstorbenen Buoso Donati weder an die Kirche, wie es das Testament des Toten verlangt, noch an die Donatis, wie es die Verwandten ersehnen, sondern an den bettelarmen, als Landei verachteten Gianni Schicchi, der sich von der Familie zum Retter in der Not erkoren sieht. Und der seine Chance nutzt.

Selten kann man sich in der Oper derart ergötzen, wie es an diesem Abend möglich ist. Mitte Dezember kamen die beiden Einakter im Stadttheater Biel heraus, knapp zwei Wochen später war Premiere im hübschen, subtil renovierten Stadttheater Solothurn. Auch auf Tournee geht die Produktion: nach Baden, Schaffhausen und Burgdorf – ein vorbildliches Beispiel für die sinnvolle Nutzung von Ressourcen wie für den kulturellen Föderalismus, der dieses Land belebt. Natürlich, die Platzverhältnisse in den Orchestergräben sind eng, in Solothurn so gut wie in Biel. Die Stimmen für die Bläser sind solistisch konzipiert, da gibt es nichts zu sparen. Für die Streicher, die das Gegengewicht zum Bläsersatz zu bilden hätten, fehlt dagegen der Raum; das Streichquintett von den Violinen bis hin zu den Kontrabässen bleibt darum vergleichsweise schmal besetzt. So dass der Orchesterpart, der bei beiden Stücken merklich sinfonisch gedacht ist, bläserlastig klingt und darum herbe Konturen erhält. Das um so mehr, als der Dirigent Marco Zambelli, so der Eindruck bei der Solothurner Premiere, die Zügel in Sachen Dynamik und Balance zu wenig straff in der Hand hält.

Aber Temperament versprüht der Mann am Pult. Die agile Musik Nino Rotas, die in der Oper vielleicht doch nicht das Raffinement erreicht, mit dem sie in den Filmen begeistert, zieht höchst unterhaltsam durch die knappe Stunde Spieldauer. Avantgarde – wenn man denkt: 1950 – war Rota ein Fremdwort, er hatte es eher mit dem Bestehenden, bei dem er sich bediente, das aber nicht ohne Phantasie tat. Auch bei sich selber nahm er Anleihen, zum Beispiel bei der Musik zu «La dolce vita», aus der er einen Blues in den «Nevrastenico» übernahm. Jedenfalls eribt sich da eine ganz eigene Lebendigkeit – welche die die Produktion sehr überzeugend trifft. Michele Govi ist ein aufbrausender Neurastheniker, als geschäftstüchtiger und krisensicherer Portier hat es Eric Martin-Bonnet faustdick hinter den Ohren, Konstantin Nazlamov verleiht dem Handelsreisenden herrlich blasierte Züge, während Clara Meloni und Gustavo Quaresma witzig ein deutlich in die Jahre gekommenes Liebespaar geben. Das gehört zu der temporeichen Inszenierung von Andreas Zimmermann, der hier anregend hinter die Geschichte zu blicken sucht. Die Hotelzimmer auf der Bühne von Marco Brehme haben weder Wände noch Türen; nicht um Realität geht es hier, sondern eher um Einbildung und das Leiden daran.

Aktenstudium in «Gianni Schicchi». In der Mitte Susannah Haberfeld als die strippenziehende Tante / Bild Ben Zurbriggen, Theater-Orchester Biel-Solothurn

 

Ganz und gar handfest dagegen «Gianni Schicchi» – wobei das geschickt zusammengestellte Ensemble den insgesamt doch arg groben Ton, den das Sinfonie-Orchester Biel-Solothurn anzuschlagen hat, mit Schmunzeln aufbricht. Michele Govi hat auch hier die Hauptrolle inne; er gibt nicht nur den Schlaumeier, der es der arroganten Familie nach Massen zeigt, sondern auch den rührend besorgten Vater. Als seine Tochter Lauretta bringt Clara Meloni mit ihrem glänzenden, kraftvoll strahlenden Sopran zur Geltung; dass sie bei der Premiere in ihrer grossen, grossartig dargebotenen Arie, mit der sie den Vater umzustimmen sucht, vorzeitig von Applaus unterbrochen wurde, weist darauf hin, dass der Dirigent das Geschehen nicht ausreichend im Griff hatte. Ausgezeichnet gelingt auch das andere Schmankerl, das Loblied auf Florenz, mit dem Gustavo Quaresma als Rinuccio brilliert. Auch wenn sie im zweiten Teil des Abends handwerklicher wirkt als im ersten, bleibt die Inszenierung dem Stück nichts schuldig. Der Regisseur arbeitet stark in die Diagonale, was die Bühne trotz grossem Ensemble nicht überfüllt erscheinen lässt – dazu kann man nur gratulieren. Und scharf gezeichnet sind die einzelnen Figuren der habgierigen Familie, wozu die Kostüme von Dorothea Scheiffarth nicht unwesentlich beitragen.

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Acht Vorstellungen in Biel bis 7. März, vier Vorstellungen in Solothurn bis 1. März. Vorstellungen in Baden am 14. Januar, in Schaffhausen am 23. und 24. Januar, in Burgdorf am 11. Februar.