Spielarten des Bösen

Mozarts «Figaro» und Verdis «Macbeth»
an den Salzburger Festspielen

 

Von Peter Hagmann

 

Die Zeit sei aus den Fugen, stellen die Salzburger Festspiele mit Shakespeares Hamlet fest. Das kann man wohl sagen. Ebenso liegt auf der Hand, dass eine Einrichtung wie die Salzburger Festspiele sich nicht in den Elfenbeinturm der künstlerischen Höchstleistung zurückziehen kann, dass sie vielmehr bewusst die Zeitläufte in den Blick zu nehmen hat. Ist das doch eingeschrieben im Erbgut einer Idee, die sich nicht zuletzt als Reaktion auf den Ersten Weltkrieg konkretisiert und 1922 erstmals ihre Form gefunden hat. Dass mit Markus Hinterhäuser, der seit 2016 als Intendant die künstlerische Gesamtverantwortung trägt, etwas expliziter, etwas weniger immanent gelebt wird als ehedem, auch das liegt nahe. Schon in den frühen neunziger Jahren, als er in Salzburg noch eine Randfigur war, sprach Hinterhäuser davon, dass ihn der Krieg in Jugoslawien als Pianisten nicht gleichgültig lasse, die Grenze zu Slowenien sei nicht sehr weit von Salzburg entfernt.

So erstaunt nicht, dass das Opernprogramm der Salzburger Festspiele 2023 unseren so ungut bewegten Tagen den Spiegel vorhält. Grosse Werke der Vergangenheit erzählen dem Publikum von der Gegenwart. Zum Beispiel, in Mozarts «Nozze di Figaro», vom Grafen Almaviva, einem Grapscher, der über Geld und Privilegien verfügt und sich darum alles erlauben zu können glaubt – ganz unbekannt kommt einem das nicht vor. Oder, in Verdis «Macbeth», von einem Offizier, der eine Machtgier sondergleichen an den Tag legt, der über jede Leiche geht und alles zerstört, am Ende sich selbst – auch das löst nicht eben angenehme Assoziationen aus. Falstaff sodann, in Verdis gleichnamiger Oper, auch er ist ein Mannsbild, wie es im Buche steht; dass er am Ende über sich selber stolpert, schafft eine Art Gerechtigkeit. Einen ganz besonderen Gegenwartsbezug weist «Die griechische Passion» auf, die 1961 in Zürich uraufgeführte, selten gespielte Oper von Bohuslav Martinů, die ein Drama um die Ankunft türkischer Flüchtlinge in einem griechischen Dorf zum Gegenstand hat. Ein Programm in solcher Konsistenz muss zuerst einmal erfunden werden.

«Le nozze di Figaro»

Die Idylle trügt… «Le nozze di Figaro» / Bild Matthias Horn, Salzburger Festspiele

Und dann, vor allem, realisiert werden. «Le nozze di Figaro» von Wolfgang Amadeus Mozart hätte problemlos die leicht tänzelnde, von zartem Humor getragene opera buffa werden können, als die das Stück in weiten Kreisen geliebt wird. Damit hatte der Regisseur Martin Kušej bei seiner Inszenierung im Haus für Mozart rein gar nichts am Hut, er schälte vielmehr heraus, mit welch unbarmherziger Präzision das Stück von Beaumarchais, Da Ponte und Mozart den gesellschaftlichen Gegebenheiten auf den Grund geht und die sich andeutenden tektonischen Verschiebungen skizziert. Dass «Le nozze di Figaro» 1786 in der Wiener Hofoper zur Uraufführung kommen konnte, dass Joseph II. die beissende Kritik zuliess, wo die Komödie Beaumarchais’ in Wien auf der Bühne doch verboten war, nur als Buch in deutscher Übersetzung kursierte – es kann immer wieder erstaunen. Auf den Einfluss Da Pontes am Hof allein ist es nicht zurückzuführen, eher noch auf die Einkleidung der fürwahr scharfen Aussagen in feingliedrige Ironie. Indessen steht genau diese Ironie in unseren Tagen dem Stück im Weg, sie verschleiert seine Brisanz. Dem suchte Kušej entgegenzuwirken. Er tat es in der drastischen Art, die für ihn charakteristisch ist – durchaus erfolgreich, wenn auch nicht zu durchgängiger Begeisterung der Kritik.

Almaviva ist das, was heute ein toxischer Mann genannt wird. Dem Ius primae noctis, das kein Gesetz war, doch ein durch die Praxis sanktioniertes Vorrecht, hat er zwar abgeschworen, er tat es aber nur öffentlich. Wenn er von der versammelten Angestelltenschaft des Schlosses dafür gefeiert wird, wirft eine Gruppe junger, weissgekleideter Mädchen ihre von Blutspuren getränkte Unterwäsche gegen eine Glasscheibe (Kostüme: Alan Hranitelj). Mit Susanna, der mit zauberhaft schlanker Stimme und grossartiger Stilsicherheit agierenden Sabine Devieilhe, geht es jedenfalls klar zur Sache – nur braucht es dafür am Ende doch deren zwei. Zum einen scheint Susanna mit ihrem Bräutigam Figaro (Krzysztof Bączyk) nicht wirklich glücklich zu sein, zum anderen mag sie die Gräfin zum Vorbild nehmen (Adriana González versieht ihre Partie mit warmem Klang und starker Ausstrahlung) – die Rosina aus dem Umfeld eines Barbiers von Sevilla, die durch die Verheiratung mit einem gewissen Almaviva gesellschaftlich einen Schritt nach oben getan hat.

Vielleicht schwimmt sie auch nur im Fahrwasser der nicht nur, aber vor allem erotischen Entfesselung, die im Hause Almaviva herrscht. Dafür steht die fast nackte junge Frau, die den Herrn des Hauses sorgfältig einkleidet. Dafür steht aber auch der juvenile, triebgesteuerte Cherubino, den Lea Desandre körperlich agil und stimmlich unerhört berührend verkörpert. Dafür steht in erster Linie aber Almaviva selbst, dem die Pistole locker im Halfter sitzt – selbst dann, wenn er im Schlafzimmer seiner Gattin eine Tür aufbrechen will. Der allseits gepflegte Griff zur Waffe spricht fvom Heraufdämmern der Revolution mit ihren Gewaltausbrüchen und Blutorgien (der Dramaturg Christian Longchamp hat dazu einen informativen Text verfasst, er steht allerdings im Programmbuch von «Macbeth»). Cherubino springt denn auch nicht in einen Garten, sondern in einen Haufen grosser Müllsäcke. Am Ende, nach den vielschichtigen Verirrungen in dem süssen Dickicht des Bühnenbildners Raimund Orfeo Vogt, hat sich der tiers état erhoben, steht Figaro aufrecht auf einem kleinen Hügel, während der Graf – es ist André Schuen, der über ein samtenes Timbre, aber nicht die nötige Tiefe verfügt – auf den Knien vor seiner Gattin um Verzeihung bittet.

Keine Revolution, aber doch so etwas wie einen Aufstand gab es bei den Wiener Philharmonikern, die sich nicht mit dem Mann am Pult anfreunden mochten. Markus Hinterhäuser versucht hartnäckig, den ästhetischen Horizont des Spitzenorchesters aus der Welthauptstadt der Musik zu erweitern. Darum hat er für den «Figaro» Raphaël Pichon engagiert, einen pointierten Vertreter der historisch informierten Aufführungspraxis, der mit seinem Ensemble Pygmalion hervorragende Arbeit leistet. Ein mit Spezialisten besetztes Ensemble und die Wiener Philharmoniker sind wahrlich zwei verschiedene Paar Stiefel, zumal wenn der Dirigent stilistisch auf dem neusten Kenntnisstand zu Werk geht. Am Ende haben sich die beiden Parteien aber gefunden. Pichon konnte vielleicht nicht alles realisieren, was er sich vorgenommen hatte, jedenfalls klangen die Wiener Philharmoniker nicht so, als wäre bei ihnen 1789 ausgebrochen. Aber insgesamt durfte sich der musikalische Ansatz des Abends sehr wohl hören lassen. Die Tempi hielten sich jederzeit in natürlichem Rahmen und waren ausgezeichnet aufeinander abgestimmt. Der Klang blieb leicht, transparent, vor allem von federnder Energie und rhythmischer Präzision geprägt. Und das Zusammenwirken mit der Bühne liess in der dritten Vorstellung nichts zu wünschen übrig.

«Macbeth»

Trautes Ehegespräch… «Macbeth» / Bild Bernd Uhlig, Salzburger Festspiele

Wie sich ein Orchester doch wandeln kann. Unter dem energischen Zugriff des Dirigenten Philippe Jordan klangen die Wiener Philharmoniker bei Giuseppe Verdis «Macbeth» grundlegend anders: unglaublich kraftvoll, ja muskulös, ohne dass die klangliche Schönheit gelitten hätte und die Balance gestört worden wäre, auch ohne jeden Moment der Bedrängnis für die durchs Band ausgezeichneten Sängerinnen und Sänger. Zugleich gelang Jordan dort, wo es die Partitur forderte, der Blick nach innen, hin zu den Befindlichkeiten der einzelnen Figuren und zu den solistischen Einwürfen der Bläser – Verdis Instrumentation erschien an diesem Abend, der zweiten von sechs Vorstellungen von «Macbeth», in neuem, glanzvollem Licht. Hinreissend auch der Auftritt der ausserordentlich gross besetzten Konzertvereinigung Wiener Staatsopernchor, die von Jörn Hinnerk Andresen vorbereitet worden war.

Alles war da ins Grosse gerichtet – wohl der einzig mögliche Ansatz auf der Riesenbühne im Grossen Festspielhaus. Als Ausstatterin liess Małgorzata Szczęśniak die gesamte Spielfläche benutzen – was insofern eigene Ansprüche stellte, als das Stück nur wenige personalintensive Aufzüge kennt. Sie löste das Problem durch die Vervielfältigung der Zahl der Mitwirkenden und die simultane Präsenz von Nebenschauplätzen. Die immer wieder auftauchenden Hexen sind ein Chor blinder Frauen im Saal eines Behindertenheims, die Geister zahlreiche Kinder mit überlebensgrossen Köpfen, während die Bediensteten in ihrer schwarzen Kluft mit den weissen Handschuhen ohne Zahl sind. Dazu gibt es Videoprojektionen in unterschiedlichen Formaten. Von allem so viel, dass das konzentrierte Zuhören fast unmöglich wird.

Nur, was soll der arme Regisseur machen in einem Stück, das zwar den grossen Gefühlsausbruch kennt, sich aber in kleinen Schritten auf das unabwendbare schreckliche Ende hin zubewegt? Krzysztof Warlikowski stellt sich dem oratorischen Zug von «Macbeth» und positioniert den Chor gerne in schwarzen Gewändern an den Rändern der Bühne. Und er arbeitet gezielt mit Nähe und Ferne, mit Weitblick und Fokus. Zu Beginn rollt eine enorm in die Breite gezogene Sitzbank in den Vordergrund, auf der sich die beiden Feldherren Macbeth und Banco über ihre Erfolge freuen – beide, Vladislav Sulimsky wie Tareq Nazmi, in glänzender Verfassung. Dazu darf man über Video einer in einem seitlichen Tunnel vollzogenen gynäkologischen Untersuchung beiwohnen, an deren Ende Lady Macbeth erfährt, dass sie kinderlos bleiben wird. Das ist der Startschuss für den unglaublichen Antrieb zum Bösen, den die offenkundig zutiefst verletzte Frau auslebt, und der Auftakt zu einer sängerischen Grossleistung von seltenem Format. Asmik Grigorian reiht hier einen weiteren Salzburger Stern an Marie, Salome, Chrysothemis und Suor Angelica. Für das Trinklied im Zentrum des Werks mag ihr das letzte Quentchen an Kraft fehlen, aber vielleicht ist die Zurückhaltung auch gewollt, herrscht hier doch nur gespielte Ausgelassenheit. Schliesslich beginnt schon da der Niedergang; bald sitzt Macbeth, Vladislav Sulimsky fasst das stimmlich bewundernswert, vom Schlaganfall niedergestreckt im Rollstuhl, während sich seine irr gewordene Gattin durch ihre Wahnvorstellungen schleppt. Beide Opern, «Figaro» wie «Macbeth», enden in Jubel. Uns Heutigen bleibt bestenfalls ein Glühwürmchen an Hoffnung.

Philharmonisch und sprechend

Die Wiener Symphoniker mit Philippe Jordan bei Migros Classics in Zürich

 

Von Peter Hagmann

 

Grosse Zeiten in Paris: Mit Philippe Jordan als Musikdirektor hat das Orchester der Pariser Oper seit 2009 gewaltige Schritte nach vorn getan. Es ist heute unbestritten das beste Orchester Frankreichs – wie es nicht zuletzt mit zwei bejubelten Gastspielen beim Lucerne Festival erwiesen hat. Unvergessen «Der Ring des Nibelungen», die Tetralogie Richard Wagners, die das Pariser Haus 2010/11 herausgebracht hat. Mit seinem körperhaft klangvollen Ton und zugleich seiner hohen Transparenz hat das Orchester mit seinem Chefdirigenten der Produktion ein ganz eigenes Profil verliehen. Zum Ende der laufenden Saison findet dieses fruchtbare Jahrzehnt seinen Abschluss.

Grosse Zeiten in Wien: Mit Philippe Jordan als Chefdirigenten haben die Wiener Symphoniker ab 2014 ungemein an Ausstrahlung gewonnen. Gewachsen sind sie in der Intensität des Zusammenspiels, in der Individualität des Klangbilds, in der Agilität der orchestralen Diktion. Gefördert wurde das durch konsequente Aufbauarbeit – auch im Bereich des Repertoires, wo mit saisonübergreifenden Zyklen deutliche Schwerpunkte gesetzt wurden, die sich auch in CD-Produktionen auf dem hauseigenen Label niederschlugen. Schubert, Berlioz und besonders Beethoven standen dabei im Zentrum. Auch diese etwas kürzere, aber nicht weniger ertragreiche Ära endet Mitte 2020. Denn dann wird Philippe Jordan als Musikdirektor zur Wiener Staatsoper wechseln, wo er dem ausserhalb des Hauses am Ring als Wiener Philharmoniker bekannten Staatsopernorchester begegnen wird.

Da ist einer seriös am Arbeiten, ein Schweizer eben, der weder darum noch um seine Person gross Aufhebens macht. In der Sache aber ist er ebenso inspiriert wie genau, sorgt er sich phantasievoll um das Detail, ohne dass der grosse Bogen darunter litte. Zu hören war es jetzt wieder in Zürich, wo die Wiener Symphoniker die neue Saison der Migros-Classics-Konzerte in der Tonhalle Maag eröffneten. Ausschliesslich Musik von Johannes Brahms stand auf dem Programm, zunächst das Violinkonzert in D-Dur, bei dem die Solistin Julia Fischer von einer ganz ungewohnten Seite zu erleben war. Wie stets gelang ihr alles makellos, und das ist schon sehr viel. Aber darüber hinaus liess sie sich aber von der starken, zutiefst musikalischen Ausstrahlung Philippe Jordans anstecken – weshalb sie zu lebendiger Interaktion mit dem Orchester wie zu berührender Emphase fand. Selten gelingt der langsame Satz mit den leuchtenden Farben der Bläser so innig, wie es hier der Fall war.

Natürlich hat dieses Konzert auch seine klangliche Wucht, nur gehorchte sie so klarer Kontrolle, dass ausreichend Raum blieb für sorgsam ausgestaltete, natürlich atmende Kantabilität. In angewandter Weise gilt das auch für die Wiedergabe der Sinfonie Nr. 4 in e-Moll. Aus einem Guss heraus entstanden die vier Sätze bis hin zu der grossen Passacaglia des Finales. Und mächtig war die Geste – philharmonisch in einem guten alten Sinn. Zugleich aber herrschte ein Leben im Inneren, das ohne die interpretatorischen Errungenschaften der jüngeren Vergangenheit nicht denkbar wäre. Achtsam wurden die Phrasen ausmusiziert, bewusst wurde das Dialogisieren zwischen den beiden links und rechts vom Dirigenten aufgestellten Geigengruppen gepflegt, und immer wieder schienen kleine Motive auf, aus denen der Dirigent Energien gewann, die er für den weiteren Verlauf zu nutzen wusste. So kam die Musik, ohne dass von aufführungspraktischen Fragen die Rede sein müsste, wie von selbst zu Sprechen.

Diskret und explizit – der Dirigent Philippe Jordan

Ein Schweizer zwischen Paris und Wien

 

Von Peter Hagmann

 

Beim Namen fangen die Doppeldeutigkeiten an. Die einen sprechen ihn französisch aus, mit einem stimmhaften «Sch» am Anfang und einem nasalen «a» am Ende, die anderen tun es auf Deutsch. Tatsächlich lebt der Dirigent Philippe Jordan in beiden Kulturen, in der deutschen wie in der französischen (wobei die Schreibweise des Vornamens einen leichten Akzent auf die lateinische Seite legt). Das kommt von zu Hause. Geboren und aufgewachsen bei Zürich, ausgebildet an der Zürcher Musikhochschule, machte Philippe Jordan seine ersten Schritte in Deutschland und Österreich: an der Staatsoper Unter den Linden Berlin sowie an den Musiktheatern in Ulm und Graz. Das Französische begegnete ihm durch den Vater, den bekannten, sehr geschätzten Dirigenten Armin Jordan, der bilingue war und sich seinen Namen in erster Linie als sensibler Interpret französischer Musik gemacht hat. In Frankreich hat Philippe Jordan denn auch mit dem Dirigieren begonnen: als Assistent des kürzlich verstorbenen Jeffery Tate in Aix-en-Provence und dann am Châtelet in Paris.

Inzwischen ist der Dirigent aus der Schweiz in den beiden Kulturkreisen fest verankert. 2009, er war damals fünfunddreissig, wurde er Musikdirektor der Oper Paris, fünf Jahre später wählten ihn die Wiener Symphoniker zu ihrem Chefdirigenten. In Wien, wo er ausgeprägt zyklisch arbeitet und auch dem Neuen Raum gewährt, liegt der Schwerpunkt bei Musik aus dem deutsch-österreichischen und osteuropäischen Kulturraum, zum Beispiel bei den Symphonien Beethovens (die er allerdings gerade auch mit seinem Pariser Orchester erarbeitet und auf DVD aufgenommen hat). Anders präsentiert sich die Lage in Paris, wo er in der Oper das grosse Repertoire betreut, mit dem Orchester aber gerne das Französische pflegt. Aufsehen erregte in den Jahren 2010/11 die Produktion von Wagners «Ring», mit welcher der damalige Intendant Nicolas Joel und sein neuer Musikdirektor wagemutig ihre Amtszeit einläuteten. Und eben erst – die Intendanz hat inzwischen Stéphane Lissner übernommen – ist die sensationelle Produktion von Schönbergs «Moses und Aron» mit Jordan und dem Regisseur Romeo Castellucci auf DVD erschienen. Mit seiner gelassenen, hochgradig kontrollierten und gleichzeitig frei strömenden Darstellung kleidet er den abstrakten Stoff in jene Sinnlichkeit, an die der Komponist gedacht haben mag. Zugleich lässt der Dirigent erkennen, dass für ihn die Musik nicht 1914 aufhört, dass er vielmehr auch den Strömungen des 20. Jahrhunderts seine Handschrift zu leihen vermag.

Neben Paris also Wien – und das ist genau das Richtige für Philippe Jordan. Nicht nur, weil sich da Oper und Konzert ergänzen. Sondern vor allem der eigenständigen, sehr ausgeprägten Farbigkeit wegen, die das Orchestre de l’Opéra national de Paris einerseits und die Wiener Symphoniker andererseits pflegen. Das kommt dem Dirigenten insofern entgegen, als dem expliziten, ja lustvollen Herausstellen der Instrumentalfarben sein besonderes Interesse gilt; Jordan ist ein Farbenkünstler, das bestätigen die zahlreichen CD-Aufnahmen, die in der jüngeren Vergangenheit unter seiner Leitung entstanden sind. Gewiss, unter dem Druck von Globalisierung, Kommerzialisierung und Standardisierung haben sich die farblichen Eigenheiten der Orchester in beträchtlichem Mass eingeebnet, aber so weit, wie es der weitgereiste Dirigent Neeme Järvi sieht, der überall dasselbe hört – so weit sind wir noch nicht. Noch immer sind die näselnde Wiener Oboe und die französische Trompete mit ihrem schimmernden Vibrato auf Anhieb zu erkennen. Damit arbeitet Philippe Jordan, zum Beispiel in der Einspielung von Tschaikowskys Symphonie Nr. 6 mit den Wiener Symphonikern auf dem orchestereigenen Label. Emotion entsteht in dieser orchestral äusserst hochstehenden Aufnahme nicht durch schweres, gleichsam von aussen auf die musikalischen Verläufe aufgesetztes Pathos, sondern durch die taghelle Beleuchtung der musikalischen Strukturen, die sich in einem hochtransparenten Klangbild niederschlägt.

Das Strukturdenken, es steht an erster Stelle, und ihm gehorchen auch die Farbenspiele. Jordans Aufmerksamkeit gilt, das mag ihm als schweizerische Eigenschaft vorgehalten werden, der Lektüre des Notentextes, der Erkundung des interpretationsgeschichtlichen Horizonts und der Suche nach den Potentialen, die er in den jeweiligen Orchestern wecken und nutzen kann. Zu diesen Beschäftigungen gehört die Arbeit mit Tondokumenten – nicht um die Partituren zu lernen, sondern um das wache, das bewusste und das erkennende Hören zu trainieren. Dazu zählt aber auch die Auseinandersetzung mit der historischen Aufführungspraxis, deren Erkenntnisse Jordan, wenn auch nicht Spezialist auf diesem Gebiet, in sein Tun zu integrieren weiss. Darum versteht es sich, dass bei ihm in der «Unvollendeten» Schuberts oder dessen «Grosser» C-dur-Symphonie die Musik trotz spätromantischem Klanggewand zu sprechen beginnt. Zum Beispiel darum, weil Ton- oder Akkordrepetitionen je nach ihrer Stellung im Takt unterschiedlich artikuliert werden – was in der in der alten Musik Allgemeingut geworden, im hergebrachten Betrieb aber noch längst nicht jedem Musiker zu Ohren gekommen ist. Bemerkenswert auch, wie Jordan, darin neueren Auffassungen folgend, die Tempi in kleinen Modifikationen an einzelnen Gesten oder Motiven ausrichtet. So kommt er im Kopfsatz der C-dur-Symphonie vom sehr gemessenen Andante der Einleitung ohne Zwang ins Allegro ma non troppo des Hauptteils.

Für recht eigentliche Überraschungen sorgen indessen die drei jüngsten CD-Publikationen des Pariser Opernorchesters. Sie lassen entdecken, wie das Orchester an seinem Dirigenten gewachsen ist – und umgekehrt. Von 2013 stammt eine CD mit Orchesterstellen aus Wagners «Ring»; sie stellt die Eigenheiten von Philippe Jordans packendem Wagner-Klang wie unter einen Brennspiegel. Das Vorspiel zu «Rheingold» kommt nicht aus dem Ungefähren, sondern baut sich rhythmisch klar strukturiert auf; die Punktierten sind genau genommen und als solche hörbar. Im Vordergrund steht der Trennklang, das Nebeneinander der Farben statt deren Vermischung – was durchaus als französische Färbung deutscher Musik verstanden werden kann. Die Attacke, da hat sich Jordan deutlich von seinem Vater emanzipiert, wird gerne kräftig, das klingt dann grossartig. Wenn jedoch die Götter auftreten, herrschen langsame Tempi und weiche Artikulation.

Unverkennbar ist da auch das Denken in Kategorien des Bühnengeschehens – wie es auch bei der schlicht grandiosen Gesamtaufnahme von «Daphnis et Chloé» der Fall ist. Elf Mal wurde das abendfüllende Ballett Ravels im Frühjahr 2014 an der Pariser Oper gezeigt, stets unter der Leitung des Musikdirektors; in diesem Zusammenhang kam es zur Einspielung – das sind Voraussetzungen, die man lange suchen muss. Jordan lässt sich Zeit, nicht nur in der Vorbereitung, auch in der Musik selbst. Langsam und sorgsam werden die Verläufe aufgebaut, es herrscht ein Klima der Einlässlichkeit und der Genauigkeit, das sich in der Direktheit der Aufnahmetechnik blendend entfaltet. Das Laisser-faire vieler Aufnahmen in jener französischen Tradition, die Pierre Boulez, Mahler folgend, als reine Schlamperei bezeichnet hat, es ist hier wie weggeblasen. Dafür kommt es zu instrumentaler Koloristik eigener Art. Die Geschichte, die zwischen irisierenden Morgenstimmungen und der brutalen Einwirkung böser Kräfte changiert, findet jedenfalls klare Fasslichkeit – so wie es auf der jüngsten, 2016 entstandenen CD aus Paris bei Mussorgskys «Bilder einer Ausstellung» in der Orchestrierung Ravels geschieht. Vieles, was sonst im grossen Effekt untergeht, ist hier zu klar hören, ja bisweilen neu zu entdecken – dank der nochmals gesteigerten Akkuratesse in der Artikulation und der klanglichen Qualität im Einzelnen wie im Gesamten. Mit Philippe Jordan ist das Orchestre de l’Opéra national de Paris ohne Frage zum besten Klangkörper Frankreichs geworden.

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Aufnahmen mit dem Orchestre de l’Opéra national de Paris und dem Dirigenten Philippe Jordan:

  • Richard Strauss: Eine Alpensinfonie. Naïve 5233
  • Claude Debussy: Prélude à l’après-midi d’un faune. Igor Strawinsky: Le Sacre du printemps. Maurice Ravel: Boléro. Naïve 5332
  • Richard Wagner: Der Ring des Nibelungen (Auszüge, mit Nina Stemme). Erato 93414227
  • Maurice Ravel: Daphnis et Chloé. Erato 166848
  • Modest Mussorgsky / Maurice Ravel: Bilder einer Ausstellung. Sergej Prokofjew: Symphonie classique. Erato 295877910
  • Arnold Schönberg: Moses und Aron. BelAir 136

Aufnahmen mit den Wiener Symphonikern und Philippe Jordan:

  • Peter Tschaikowsky: Symphonie Nr. 6. WS 006
  • Franz Schubert: Symphonie Nr. 7 in h-moll, D 759 («Unvollendete») und Symphonie Nr. 8 in C-dur, D 944 («Grosse»). WS 009