Auf der Höhe der Zeit

Isabelle Faust und Philippe Herreweghe
zu Gast beim Tonhalle-Orchester Zürich

 

Von Peter Hagmann

 

Auffallend herzlich umarmte am Schluss die Geigerin Isabelle Faust den Konzertmeister Klaidi Sahatçi: ein Zeichen der kollegialen Wertschätzung, aber auch eines der Dankbarkeit. Gemeinsam und mit deutlich sichtbarem Körpereinsatz hatten die Solistin und der Mann am ersten Geigenpult das Tonhalle-Orchester Zürich durch das Violinkonzert von Johannes Brahms geführt. Nicht dass es Unstimmigkeiten irgendwelcher Art gegeben hätte, aber auf dem Dirigentenpodest stand Philippe Herreweghe, ein grossartiger Musiker und ein innovativ denkender, anregend interpretierender Dirigent – aber: kein Taktschläger. Er lässt die Musiker spielen; Einsätze gibt er nicht mit dem Zeigefinger, sondern mit den Augen. Seine Zeichengebung ist weich, sie kommt ganz aus dem Gefühl für die musikalischen Verläufe und die Wegmarken des Ausdrucks heraus, die Koordination im Orchester überlässt er gern den Musikern selbst. Das geht nicht auf Überheblichkeit zurück, es zeugt vielmehr vom Geist Claudio Abbados, für den das Musizieren im Orchester im Idealfall eine Art vergrösserter Kammermusik darstellte – Kammermusik verstanden als Momente bewussten Aufeinanderhörens.

Wirklich verstanden und in Freiheit umgesetzt werden kann das, was Herreweghe mit den Händen und dem Körper ausdrückt, wohl nur von den Mitgliedern seiner Familie, der diversen von ihm ins Leben gerufenen Formationen. Was für bewegende (und übrigens technisch ausgefeilte) Aufführungen vom Kreis um Herreweghe geboten wurden, kann anhand zahlloser, in vielen Fällen beispielhafter Tondokumente nachvollzogen werden. Es war auch in Zürich zu erleben, wo Herreweghe seit dem späten 20. Jahrhundert bei der Neuen Konzertreihe in schöner Regelmässigkeit Johann Sebastian Bachs «Matthäus-Passion» präsentiert hat – und das in einer Fasslichkeit, welche die Härte der Sitzbänke im Fraumünster glatt vergessen machte. Auch das jüngste Konzert des Tonhalle-Orchesters Zürich – ich hörte den ersten der beiden Auftritte – wurde zu einem Ereignis, das in jedem Augenblich packte und danach lange nachhallte, eben gerade weil alle Beteiligten in gesteigerter Achtsamkeit füreinander zusammenwirkten. Der Reaktion im Publikum war enorm; sie drückte die Anteilnahme an einem Abend aus, der, wie es in den Konzerten des Tonhalle-Orchesters immer häufiger geschieht, keine Pause aufwies und darum als geschlossenes Ganzes wirkte.

Übrigens auch auf der Ebene der Tonarten. Denn auf Brahms’ Violinkonzert in D-dur folgte nach einem Schritt in die Dominante die Sinfonie Nr. 7 in A-dur von Ludwig van Beethoven, dem von Brahms zutiefst verehrten Vorbild. Hier konnte das Orchester wieder einmal sein Eigentliches herzeigen: die Strahlkraft der Streicher, die dank der intensiven Kommunikation der Stimmführer untereinander zu besonderer Wirkung kam, das dunkle Fundament der Bässe, welche die Orgelpunkte in der Sinfonie Beethovens zu ungeheurer Spannung steigerten, die Wärme der Holzbläser im Verbund mit den Hörnern, die den Beginn des zweiten Satzes im Violinkonzert von Brahms zum Höhepunkt des Werks machte. All das geschah ohne Zwang, auch ohne jeden Exzess – gleichsam von selbst. Und ganz natürlich, als ob es anderes nicht gäbe, stellte Herreweghe die A-dur-Sinfonie Beethovens ins Licht heutiger Erkenntnisse zu Fragen der Aufführungspraxis. Die Besetzung war klein gehalten, der von nuanciertem Vibrato der Streicher geprägte Ton blieb beweglich, und die beiden Geigengruppen, die nicht nebeneinander, sondern einander gegenüber sassen, liessen die Motive hin- und hergehen. Spürbar frisch waren die Tempi, sie hatten darin jedoch nichts Demonstratives. Eigenartig nur, dass die Artikulation des Hauptthemas im zweiten Satz so beliebig blieb, so wenig Unterschied zwischen Hebung und Senkung aufwies. Aber die Flüsterfuge in diesem Allegretto gelang vorzüglich – wie überhaupt das Piano immer wieder seinen Namen verdiente.

In derselben Gelassenheit erschien das Geigenkonzert von Brahms – und das will etwas heissen bei einem Werk, in dem oft und gerne gedrückt und gekratzt wird. Isabelle Faust meisterte ihren Part – natürlich technisch perfekt, mit makellos intonierten Mehrfachgriffen und ohne ein einziges Glissando. Aber auch interpretatorisch verfolgte sie heutige Auffassungen, nämlich eine Reinheit und eine Einfachheit, wie sie Joseph Joachim, dem Widmungsträger und Uraufführungsinterpreten, zugeschrieben wurden. Virtuoses Auftrumpfen oder ein Kampf mit den Elementen, will sagen: mit der oder gegen die Geige, davon konnte in keinem Augenblick die Rede sein. Hell und klar, auch leuchtend blieb der Ton im ausladenden Kopfsatz – bis hin zu der hier über weite Strecken von der Pauke begleiteten Kadenz. Und sparsam das Vibrato, das sie dann im Adagio ausgeprägter einsetzte, dies in Verbindung mit subtilen Modifikationen des Tempos. Äusserst temperamentvoll, doch gleichzeitig elegant schliesslich das Finale. Was Understatement auszulösen vermag, hier war es zu erleben.

Ein Herz und eine Seele – mit Philippe Herreweghe

Bachs Matthäus-Passion in der Tonhalle Zürich

 

Von Peter Hagmann

 

Ob im Chor eine Sängerin oder ein Sänger pro Stimme das Angebrachte sei, ob es deren drei, deren fünf oder deren zwölf sein sollten, das wurde und wird im Fall der Johannes- wie der Matthäus-Passion Johann Sebastian Bachs heftig diskutiert. Die Matthäus-Passion in der Monumentalbeseztung Willem Mengelbergs ist wohl definitiv vorbei – wenn auch die historisch informierte Aufführungspraxis eines Tages auf die Idee kommen könnte, auch den Weg hin zu ihr neu zu beleuchten. Die Johannes-Passion in rein solistischer Besetzung wiederum, vor gut dreissig Jahren in Basel erprobt, war ein anregendes Experiment, das wenig Folgen zeitigte. Heute, da die historische Praxis angekommen und sozusagen Allgemeingut geworden ist, hat sich die kleine chorische Besetzung etabliert – wobei Exponenten wie Nikolaus Harnoncourt oder in jüngerer Zeit René Jacobs wieder für eine grössere Anzahl an Mitwirkenden pro Stimme optiert haben. Die definitive Lösung gibt es nicht, zu sehr hängt die Besetzungsstärke auch von der Grösse des Raums und von den stimmlichen Fähigkeiten jedes einzelnen Chormitglieds ab.

Auf dieser Ebene hat sich in den vergangenen fünfzig Jahren die wohl bedeutendsten Veränderung ereignet. Heute kommt für die Passionen Bachs in der Regel ein Chor mit geschulten, wenn nicht gar professionellen Sängerinnen und Sängern zum Einsatz. Paradebeispiel dafür ist der Dirigent Philippe Herreweghe, der seit 1998 regelmässig mit der Matthäus-Passion zur Neuen Konzertreihe Zürich gekommen ist und das auch dieses Jahr, als Abschluss einer achtteiligen Tournee mit seinen Ensembles, wieder getan hat. Von welcher Qualität sein Chor ist, zeigt sich allein in der Tatsache, dass ausser dem Evangelisten und dem Sänger des Jesus die Solisten allesamt in den Chor integriert sind. Wenn aber Chormitglieder vom Format der Sopranistin Dorothee Mields oder des Bassisten Tobias Berndt mit von der Partie sind und wenn man von diesen Einzelnen aufs Ganze schliesst, eröffnen sich allerschönste Perspektiven. Es war denn auch auf Anhieb zu hören. Der Klang wirkt in einer glücklichen Weise homogen, nicht durch die Aussenstimmen bei vergleichsweise schwächerer Mittellage bestimmt, sondern gerade dort, in seiner Mitte, kraftvoll aufgefüllt. Besonders zur Geltung kommt das bei den Chorälen, deren kunstvolle Harmonisierungen im Hören gleichsam mit Händen zu greifen sind.

Dies aber nicht, weil Philippe Herreweghe auf jenen kompakten Ton setzte, den John Eliot Gardiner mit dem Monteverdi Choir so meisterhaft evoziert. Herreweghe hatte schon immer das Fliessende und das Flexible im Blick – das vielleicht auch als ein früh erwachter Reflex gegen das Monumentale früherer Tradition. Im Collegium Vocale Gent, das für die doppelchörig angelegte Matthäus-Passion zweigeteilt wird, wirken je drei Sänger pro Stimme, zwölf im einen, zwölf im anderen Chor; dazu kommen acht Frauenstimmen für die hervorgehobenen Choralmelodien (anders als bei den beiden Einspielungen der Passion leider nicht die prägnanteren Knabenstimmen). Im Gesamtklang scheint das Individuelle der einzelnen Mitglieder spürbar zu bleiben, was zu einer auf Anhieb erkennbaren Vitalität führt. Zugleich erzielt Herreweghe – und da hat er in den zurückliegenden zwanzig Jahren ein unglaubliches Knowhow entwickelt – eben jene spezifische Homogenität, die einerseits aus dem Verzicht auf das Vibrato resultiert, die andererseits aber auch von einer hochgradigen entwickelten Legatokunst, nicht zu verwechseln mit dem Dauerlegato früherer Zeiten, und einem ganz eigenartigen Ziehen geprägt ist. Aus der Arbeit am Detail entstehen so eine stetig vorwärtstreibende Spannung und eine Emotionalität sondergleichen; jedenfalls geriet auch die jüngste Zürcher Matthäus-Passion wieder zu einem tief berührenden Erlebnis. Nicht zuletzt trägt dazu die um einen Halbton tiefere Stimmung von 415 Hertz bei.

Aus dem so speziellen Chor, bei dem sich auch die Turbae in besten Händen befinden, treten nun also die Vokalsolisten heraus. Und es sind alles veritable Solisten, anders als im Balthasar Neumann-Chor von Thomas Hengelbrock, der kollektiv hochstehend klingt, in den ebenfalls von Chorsängern bestrittenen solistischen Auftritten aber nicht restlos befriedigt (https://www.peterhagmann.com/?p=1034). Zu den Höhepunkten der diesjährigen Zürcher Matthäus-Passion gehören ohne Zweifel die beiden grossen Sopran-Arien mit Dorothee Mields, die vorführten, wie sich mit adäquater Technik, also mit fast instrumentaler Präzision der Linienführung, Emotion erzeugen lässt. Sehr anrührend auch «Erbarme dich» mit dem grossartigen Altisten Damien Guillon – und mit der Konzertmeisterin Christine Busch, die hier konzertierend brillierte, darüber hinaus aber das Geschehen insgesamt zusammenhielt. Wie überhaupt das ebenfalls zweigeteilte Orchester und ganz besonders die wieder äusserst engagiert mitgehende Continuo-Gruppe des ersten Orchesters von dem aussergewöhnlichen Niveau zeugten, das in den Ensembles rund um Philippe Herreweghe herrscht.

Ein vokal-instrumentales Meisterstück wurde «Ich will bei meinem Jesu wachen» mit Reinoud van Mechelen und seinem hellen Tenor sowie den vier Herren an der Blockflöte und der Oboe da caccia. Vom konzertierenden Zusammenspiel lebte aber auch die Bass-Arie «Komm süsses Kreuz», bei der Romina Lischka den Gambenpart versah und bei der mit Peter Kooij ein langjähriger Weggefährte Herreweghes mit von der Partie war. Weniger überzeugten dagegen die beiden Hauptsolisten. In seinem Bemühen, den rapportierenden Duktus in der Partie des Evangelisten mit Emphase aufzuladen, ging dem Tenor Maximilian Schmitt bisweilen die Kontrolle über das an sich schon sehr ausgeprägte Vibrato verloren; zudem kam in solchen Momenten eine nasale Farbe ins Spiel, die ausgesprochen störte. Geradezu als eine Fehlbesetzung erschien mir der Bariton Florian Boesch in der Partie des Jesus; mit seinem Opernpathos und seinem donnernden Forte fiel er aus der Gesamtanlage der Aufführung heraus. Gewiss geht die Matthäus-Passion, was die Figur des Jesus betrifft, einen Schritt weiter als die Johannes-Passion. An diesem Abend wurde dieser Schritt aber mit einem Paar Siebenmeilenstiefeln getan.