Vom Orchesterfest zum Zukunftslabor?

Glanzlichter und Gefahren am Lucerne Festival

 

Von Peter Hagmann

 

Während die Salzburger Festspiele explizit den Willen zur Bewahrung ihrer künstlerischen Leitlinien verkünden (vgl. «Mittwochs um zwölf» vom 18.08.21) und damit auch in diesen schwierigen Zeiten auf hohe Resonanz stiessen, scheinen beim Lucerne Festival die Zeichen auf Wandel zu stehen. Hauptsache waren bisher die Auftritte berühmter Orchester mit bedeutenden Dirigenten, was dem Luzerner Sommerfestival sein spezifisches Profil als weltweit wichtigster Marktplatz orchestraler Kunst verlieh. Rund um diese Hauptsache ist in den gut zwanzig Jahren der Intendanz von Michael Haefliger jedoch ein reich bestückter Garten von Nebensachen entstanden. Neue Musik und die Förderung des musikalischen Nachwuchses stehen da im Vordergrund – zwei Spezialgebiete, die Michael Haefliger seit seinen Anfängen als Intendant beim Davos Festival mit besonderer Aufmerksamkeit verfolgt. Ein Jahr nach der auf eine Anregung Claudio Abbados zurückgehenden Gründung des Lucerne Festival Orchestra wurde im Sommer 2004 die Lucerne Festival Academy eröffnet, die ehedem von Pierre Boulez, heute von Wolfgang Rihm künstlerisch geleitete Meisterschule für neue Musik, deren Angebot sich an junge Musikerinnen und Musiker richtet. Parallel dazu – und neben der von Mark Sattler kompetent und phantasievoll betreuten Reihe «Moderne» mit dem «Composer in Residence» – wurden neue Konzertformate erprobt; die prominentesten unter ihnen sind die kommentierten Kurzkonzerte, die unter dem Titel «40Min» ein grosses Publikum anziehen.

Dieses Jahr nun hat dieser Garten merklich an Aufmerksamkeit gewonnen. Mit der Bestellung von Felix Heri als neuem Manager der Academy wurde auch eine neue Strukturierung des Angebots vorgenommen (und die offizielle Festivalsprache durchgehend aufs Englische umgestellt…). Neben den Orchesterkonzerten, die inzwischen «Symphony» heissen, gibt es den grossen Bereich «Contemporary» und einen Sektor «Music for Future», welch letzterer auch alle Aktivitäten der Publikumsbildung und -bindung umfasst – von den Auftritten der Jugendorchester vor dem eigentlichen Beginn des Festivals über die mittägliche Reihe «Debut» und die verschiedenen Förderpreise bis hin zu den Sitzkissenkonzerten. Die bedeutendste Veränderung besteht darin, dass es das Lucerne Festival Academy Orchestra, das sich aus den jeweils an der Akademie eingeschriebenen Mitgliedern zusammengesetzt hat, nicht mehr gibt. An seine Stelle ist das Lucerne Festival Contemporary Orchestra getreten, das sich aus dem globalen, inzwischen auf über zwölfhundert Absolventen der Akademie angewachsenen Netzwerk nährt. Netzwerkdenken führt aber auch weiter in die Programmgestaltung. Statt dem liquidierten, flugs vom Luzerner Sinfonieorchester übernommenen Klavierfestival im Herbst soll es im kommenden November eine neue, kleine Veranstaltungsreihe mit dem Titel «Lucerne Festival Forward» geben, das verschiedene innovative Ansätze verfolgt. Unter anderem soll dort keine durch eine einzelne Person verkörperte künstlerische Leitung mehr wirksam werden; stattdessen sollen die Programme aus dem Contemporary-Netzwerk heraus, in einer partizipativen, auf digitaler Kommunikation beruhenden Art entwickelt werden. Mal sehen, was daraus wird.

Im Vergleich zu diesem Energieschub sehen die Orchesterkonzerte alt aus. Und leider war es, zumindest teilweise, auch zu hören – selbst bei den Berliner Philharmonikern. Auch diesen Sommer präsentierten sie sich als ein technisch höchststehendes, klanglich unverkennbares, auch sehr selbstbewusstes Orchester. Das trat schon in Carl Maria von Webers «Oberon»-Ouvertüre heraus, nur blieb hier der gestalterische Zugriff des Chefdirigenten Kirill Petrenko noch unbestimmt, zögerlich. Schön war das, aber nicht mehr. Anders die darauffolgende Wiedergabe von Franz Schuberts «Grosser» C-Dur-Sinfonie D 944, die durchaus kontroverse Reaktionen auszulösen vermochte. Petrenko hatte sich dazu entschieden, die Wiederholungen, die gerade im dritten Satz zu den berühmten «himmlischen Längen» führen, anders als viele Dirigenten durchgehend zu berücksichtigen. Er konnte es sich erlauben, basierte seine Interpretation doch auf frischen Tempi. Schon die langsame Einleitung deutete es an, das vom Komponisten vorgegebene Alla breve war jedenfalls klar zu spüren. In subtilen Schritten erreichte Petrenko dann das Allegro des Hauptteils – und da manifestierte sich des Dirigenten Sinn für Arbeit an den Zeitmassen. Immer wieder stattete er einzelne Gesten mit kleinen Beschleunigungen oder Verzögerungen aus, so wie es zu Schuberts Zeit und noch bis hin zu den Interpreten der Spätromantik üblich war. Indes blieb es in diesem Bemühen bei Ansätzen, die nicht konstitutiv wirkten.

Vor allen Dingen aber trieb Petrenko das Finale in einen förmlichen Geschwindigkeitsrausch hinein, was zur Folge hatte, dass die kleinen Tonbewegungen des Satzes nicht mehr wahrzunehmen waren. Hier wurde auch der Klang so kompakt und massiv, dass das spezifische Kolorit Schuberts auf der Strecke blieb. Vielleicht ist die bisweilen melancholische, auch fragile Klangwelt Schuberts nicht das, was Kirill Petrenko naheliegt. So gedacht am zweiten Abend, der mit einem Feuerwerk anhob: mit dem frechen, wild himmelstürmerischen Klavierkonzert Nr. 1 in Des-Dur von Sergej Prokofjew. Was Anna Vinnitskaya da an Fingerfertigkeit und metallener Kraft, auch an Klangsinnlichkeit aufbot, war stupend – und die Berliner gingen mit, hellwach und ohne je mit der Wimper zu zucken. Er recht bei sich war Kirill Petrenko in der Sinfonischen Dichtung «Ein Sommermärchen» von Josef Suk. Beredt, schwerblütig schildert der Komponist einen Tag in seinem traurigen Leben nach dem Tod des Schwiegervaters Antonín Dvořák und jenem seiner Gattin. Er tut das in Geist und Ton der Spätromantik, wenn auch mit gelegentlichen Anklängen an modernere Strömungen, etwa den Impressionismus. Leicht zu hören ist das Werk nicht, es fügt sich nicht von selbst ins Ohr. Allein, die fabelhafte Auslegung durch die Berliner Philharmoniker und Kirill Petrenko verhalf dem Werk zu pulsierendem Leben. Die Farben in enormer Pracht entfaltet, die Bögen von weitem Atem getragen, die Verlaufskurven so griffig geformt, dass Suks Schöpfung förmlich zu erzählen begann.

Ganz und gar konkret wurden auch die Bamberger Symphoniker mit ihrem Chefdirigenten Jakub Hrůša – und das bei Musik aus den letzten sechs Jahren, nämlich im «Räsonanz»-Konzert der Ernst von Siemens-Musikstiftung. Auch dieses Orchester ist hervorragend aufgestellt, seit langem übrigens: Hrůša hat ja das erstklassige Erbe von Jonathan Nott angetreten und steht im Begriff, es in einer sehr persönlichen Weise weiterzuentwickeln. Wie wörtlich das zu verstehen ist, erwies der Abend im KKL Luzern. Wo andere Dirigenten bei neuer Musik, weil sie eben neue Musik ist, die Emphase scheuen, bringt sich Hrůša als Interpret ebenso kraftvoll ein wie bei Werken von Dvořák oder Smetana. Das in Uraufführung erklingende «Offertorium» von Iris Szeghi, Teil eines gross besetzten Requiems, offenbarte seine feinnervige Faktur in aller Subtilität – auch dank der Mitwirkung der Sopranistin Juliane Banse. Im Violinkonzert von Beat Furrer, in dem Ilja Gringolts den Solopart versah, waren die klanglichen Reize und der klare Bogen von einem leisen Beginn über einen eruptiven Mittelteil zurück zum Leisen packend herausgearbeitet. Von besonderer Haptik war jedoch das Orchesterwerk «Move 01-04» von Miroslav Srnka. Der vielbeachtete Komponist aus Prag arbeitet mit Tonschwärmen, die zeichnerisch entworfenen Modellen folgen, und bringt auf dieser Basis das in grosser Besetzung angetretene Orchester zu betörend üppigem, gleichzeitig unerhört beweglichen Klang. Die Bamberger und Hrůša waren mit vollem Einsatz bei der Sache und erspielten sich einen rauschenden Grosserfolg.

Dasselbe gilt für den ersten der beiden Auftritte der Wiener Philharmoniker. Am Pult stand diesmal Herbert Blomstedt – unverwüstlich mit seinen 94 Jahren. Und angesagt war die vierte Sinfonie Anton Bruckners. Was für ein Fest. Da stimmte einfach alles. Das Orchester schenkte dem Dirigenten, was es zu schenken vermag: den kräftigen, aber doch offenen Ton, Glanz und Strahlkraft im Lauten wie flüsternde Zartheit im Leisen, restlos stimmige Übergänge, ja überhaupt ein orchestrales Zusammenwirken vom Feinsten. In einem einzigen, unglaublich geschlossenen Bogen zogen die vier Sätze von Bruckners «Romantischer» durch Raum und Zeit, und zugleich gab es in jedem Moment zu hören, was die Partitur nahelegt. Dass die Interpretation einen Zug ins Altväterische trug, dass Herbert Blomstedt bei Bruckner nicht die Schritte tut, die er bei Beethoven wagt (vgl. «Mittwochs um zwölf» vom 19.08.20), wer wollte es ihm verdenken? Im späten 20. Jahrhundert wurden neue Zugänge zu Bruckners Musik entwickelt, wurde das Geschmeidige neben dem Parataktischen, das Fragile neben dem Festgefügten entdeckt. Mit Herbert Blomstedt kehrte ein Bruckner-Bild früherer Zeiten zurück: die Sinfonie als ein in die Weite der klanglichen Flexibilität geführtes Orgelwerk, die Musik im Zeichen gründerzeitlicher Selbstgewissheit. Das geschah allerdings in einem Geist, der in seiner Konsequenz, seiner Achtsamkeit und seiner Präzision das Signum des Einzigartigen trug. Jubel und Stehapplaus.

Gefeiert wurde auch Mirga Gražinytė-Tyla – sehr zu Recht. Im Zyklus der Sinfonien Robert Schumanns, den das Luzerner Sinfonieorchester und das Tonhalle-Orchester Zürich eröffnet hatten (vgl. «Mittwochs um zwölf» vom 01.09.21), dirigierte sie die Nr. 1 in B-Dur, die «Frühlingssinfonie», und die Nr. 2 in C-Dur. Sie tat das mit einer derartigen Energie, mit einem solchen Schwung, dass man ein Mal übers andere ins Staunen geriet. Das doch sehr unterschiedliche Klima in den beiden Sinfonien traf sie überzeugend, und die vom Klavier her gedachte, aber orchestral meisterlich ausgefächerte Faktur liess sie von innen her prachtvoll leuchten. Gewiss, nicht alles gelang. In der C-Dur-Sinfonie blieb das wunderschöne Adagio espressivo des dritten Satzes seltsam unbeteiligt. Obwohl die Dirigentin meist die Achtel schlug, wurde der Zwei-Viertel-Takt doch spürbar, nur kamen die geteilten Bratschen, die sich synkopisch zwischen die Ober- und die Unterstimme legen, nicht wirklich zur Geltung. Und die beiden grossartigen Aufschwünge in der Mitte dieses Satzes entbehrten der Spannkraft. Mag sein, dass das auch auf das Mozarteum-Orchester Salzburg zurückging, eine in jeder Hinsicht mittelmässige, schläfrig wirkende Formation, die sich auch durch den unerhörten Körpereinsatz der zierlichen Frau am Pult nicht aufrütteln liess. Warum ein solches Orchester beim Lucerne Festival auftritt, ist ein Rätsel; es dient weder der charismatischen jungen Dirigentin noch dem Festival und seinem Publikum.

Nicht nur das, es ist auch Symptom: Das Herzstück des Lucerne Festival schwächelt. Es hat an Bedeutung wie an Ausstrahlung eingebüsst; unter den «Essentials» des Festivals wird es im Generalprogramm nicht einmal erwähnt. Keine Frage, in diesen Zeiten der Pandemie mit ihren Einschränkungen und Planungsunsicherheiten ein Orchesterfest durchzuführen, ist alles andere als einfach. Das Lucerne Festival liess sich nicht unterkriegen und hat Erstaunliches zustande gebracht. Die Zeichen der Ermüdung, die merklich kontrastieren mit dem Aufbruch in anderen Bereichen des Programms, sind freilich nicht auf die Pandemie zurückzuführen, sie haben ästhetische, wenn nicht systemische Gründe. Neben den Höhepunkten, von denen hier die Rede war, gibt es einen Überhang an Immergleichem und leider auch an Gewöhnlichem. Dreimal Barenboim, zweimal mit dem Diwan-Orchester, einmal mit der Staatskapelle Berlin, das ist entschieden zu viel. Und am Pult kommen Dirigenten zu Wort, die den Betrieb aufrechterhalten, aber wenig zu sagen haben, während künstlerisch aufsehenerregende Vertreter, zumal solche jüngerer Generation, ausgeschlossen bleiben. Wo ist das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks, wo die Dresdener Staatskapelle oder das Gewandhausorchester? Und wo ist ein Dirigent wie François-Xavier Roth, der im Kölner Gürzenich hervorragende Arbeit leistet und ausserdem mit Les Siècles ein aufregendes Orchester mit Instrumenten aus der Entstehungszeit der gespielten Kompositionen betreut? Das SWR-Sinfonieorchester Stuttgart mit seinem Chefdirigenten Teodor Currentzis kommt zwar ins KKL, aber nicht im Rahmen des Lucerne Festival – warum? Und warum tritt das Concertgebouworkest nicht einmal mit Krzysztof Urbánski oder Santtu-Matias Rouvali statt mit einem der Entbehrlichen auf? Erneuerung tut not. Auf dass das Orchesterfest das bleibe, was es für das Lucerne Festival sein soll: «Das Gipfeltreffen der Besten».

Lucerne Festival (3) – PrimaDonna

 

Mirga Gražinytė-Tyla am Pult des Chamber Orchestra of Europe / Bild Peter Fischli, Lucerne Festival

 

Peter Hagmann

Ein Ende? Ein Anfang?

Am Pult der Orchester verlieren die Männer ihre Vormacht

 

Ausser beim zweitbesten Orchester der Welt, jenem aus Wien, das bis vor wenigen Jahren ausdrücklich den Herren der Schöpfung vorbehalten war, das inzwischen aber auch schon zwei, drei Vertreterinnen des schwachen Geschlechts aufgenommen hat, ist die Präsenz von Frauen auf den Konzertpodien der Welt kein Thema mehr. In einigen Klangkörpern bilden die Musikerinnen mittlerweile sogar die Mehrheit, und selbst Instrumente wie Kontrabass, Posaune oder Schlagzeug sehen sich heute bisweilen in zarten Händen. Solistischen Ambitionen steht das Geschlecht höchstens noch insofern im Weg, als die für das gedeihliche Vorankommen erforderliche Präsenz allenfalls mit der Familienplanung kollidiert. Ohnehin ist nicht zu übersehen, dass an den musikalischen Ausbildungsstätten Studentinnen mindestens ebenso präsent sind wie Studenten.

Mit links

So wäre denn die Gleichberechtigung in musicis erreicht? Das wäre nun doch eine arge Täuschung, denn wenigstens in zwei Bereichen des Musiklebens kann davon keine Rede sein. Komponistinnen, die zu den zentralen Figuren des Betriebs gehören, also keine noch so angesehene Aussenseiterposition einnehmen, sind noch immer eine Seltenheit. Erst recht aber gilt es für Frauen am Pult von Orchestern. Gewiss sind wir weiter als zu jenen Zeiten, da das Erscheinen einer Dirigentin Befremden, wenn nicht Gelächter auslöste. Heute gehören Dirigentinnen wie Laurence Equilbey, Julia Jones, Karen Kamensek oder Simone Young ganz einfach dazu; sie stehen im Betrieb und nehmen prestigeträchtige Chefpositionen ein. Aber sie bilden noch immer mit Erstaunen quittierte Ausnahmen.

Das Lucerne Festival schlägt hier nun eine kräftige Bresche. Es stellt seine diesjährige Sommerausgabe unter das Thema «PrimaDonna» – wobei in den Publikationen das «i» durch eine klar als solche erkennbare weibliche Hand ersetzt ist, die einen Taktstock hält. Dass es eine linke Hand ist, mag sich aus graphischen Gründen aufgedrängt haben, zumal sich dadurch ein «accent aigu» ergeben hat. Es ist aber auch von leiser Ironie, wie überhaupt das Thema ohne jeden demagogischen Zug, vielmehr geradezu spielerisch durchgeführt wird. Weniger amüsant sind die fleissigen Bienen aus dem Orchester, die dem von weiblicher Hand geführten Taktstock zu gehorchen haben – da bleibt die Graphik hinter den Errungenschaften des Festivals zurück.

Aber es wird ernst gemacht mit der Primadonna, nicht auf der Bühne, sondern am Pult. Ein gutes Dutzend Dirigentinnen treten diesen Sommer in Luzern auf, und das durchaus nicht an Nebenschauplätzen. Die Wiener Philharmoniker bitten Emmanuelle Haïm zum Gastspiel und lassen sich durch die französische Spezialistin für alte Musik, die nicht zuletzt von William Christie und Simon Rattle gefördert wurde, durch Händels «Wassermusik» führen. Susanna Mälkki, inzwischen Chefdirigentin bei den Philharmonikern von Helsinki, dirigierte das Orchester der Lucerne Festival Academy und hob ein neues Werk von Olga Neuwirth, dieses Jahr «composer in residence», aus der Taufe. Und Marin Alsop war nicht mit dem Orchester von Baltimore, das sie seit 2007 leitet, sondern mit dem von ihr 2012 übernommenen São Paulo Orchestra zu Gast.

Showtalent

Und dann: Barbara Hannigan. Die gefeierte Sopranistin, die das Lucerne Festival 2016 mit dem Solostück «Djamila Boupacha» von Luigi Nono einleitete und dann eine vielleicht etwas lange, aber sehr persönliche Eröffnungsrede im Gedenken an Pierre Boulez hielt, Barbara Hannigan stellte sich auch als Dirigentin, ja selbst als dirigierende Sängerin vor. Das war nicht das Gelbe vom Ei, um ehrlich sein. Als Sängerin in neuem Repertoire, etwa bei der Uraufführung von Toshio Hosokawas «Matsukaze» an der Brüsseler Monnaie-Oper 2011, ist sie unübertroffen, zumal auch in ihrer körperlichen Agilität und ihrer darstellerischen Präsenz. Selbst in der Titelpartie von Alban Bergs «Lulu» am selbenn Haus war sie eine Besonderheit. Aber Dirigentin muss sie erst noch werden, wie die farblose Wiedergabe von Joseph Haydns Pariser Sinfonie in D-dur, Hob. I:86 erwies.

Bei der Tondichtung «Luonnotar» von Jean Sibelius wirkte sie gar in Doppelfunktion: als Dirigentin wie als Solistin. Neu ist das nicht; es kommt etwa bei Klavier- oder Violinkonzerten Mozarts vor, wo es in der Regel, aber durchaus nicht immer, problemlos funktioniert, weil sich der dirigierende Solist meist mitten unter den Musikern aufhält. Hier bei Sibelius ging es daneben. Wenn sich Barbara Hannigan auf ihrem Podium zum Publikum hin umdrehte und als Dirigentin zu singen anhob, wirkte das geradezu grotesk; singend führte sie einem lahmen Vogel gleich halbe Armbewegungen aus, während der Konzertmeister das Mahler Chamber Orchestra bei der Stange zu halten suchte. Weil sie als Sängerin mit dem Rücken zu den Musikern und gleichzeitig vor ihnen stand, litt die Verbindung zum Orchester, was Mängel der klanglichen Balance und der Intonation in diesem harmonisch schwierigen Stücks hören liessen. Um so auffälliger dagegen die Show, die Barbara Hannigan aus dem Moment machte: mit effektvoller, aber nicht unbedingt effizienter Körpersprache und mit barfüssigem Auftritt.

Rollenbilder

Dass es all das nicht braucht, erwies der Erlebnistag dieses Sommers, der das Podium ganz den PrimaDonnen überliess. Der Knoten sei zerschlagen, versicherte Michael Haefliger, der Intendant des Lucerne Festival, in dem von der Radioredaktorin Gabriela Kaegi witzig moderierten Podiumsgespräch – und er hatte recht damit. Um ernst zu machen mit dem Thema, hatte das Festival das Chamber Orchestra of Europe, das Orchester und Ensembles der Lucerne Festival Academy sowie die Festival Strings engagiert und sechs Damen jüngerer Generation zum Dirigieren eingeladen – zu einer Art Vordirigieren vielleicht, so konnte einem die friedliche Konkurrenz in der dichten Abfolge der Ereignisse vorkommen. Das Pech wollte (oder war es ganz maliziös beabsichtigt?), dass dabei auch fest verankerte Rollenbilder gepflegt wurden. Zum Beispiel von der Geigerin Arabella Steinbacher, die sich neben den irritierend beiläufig spielenden Festival Strings mit den «Vier Jahreszeiten» von Antonio Vivaldi befasste: ohne ernsthaften Kontakt mit dem Ensemble und ohne Auseinandersetzung mit neueren Strömungen der musikalischen Interpretation – als Geigensternchen alter Schule eben.

Echt weiblich halt. Wer so dachte, durfte sich an diesem Sonntag von den übrigen Damen in leitender Funktion auf den Boden einer ganz anderen Realität holen lassen. Von der Estin Anu Tali zum Beispiel, die mit einem Fräcklein erschien, festen Schrittes dem Podium zueilte und dort mit feurigem Temperament, äusserst eifrig und mit herrscherlicher Führung des Taktstocks zu erkennen gab, dass Frau in dieser Domäne durchaus ihren Mann zu stellen weiss. In der Sinfonie Nr. 1 von Sergej Prokofjew, der «Symphonie classique», fand das Chamber Orchestra of Europe darum zugespitzte Kontraste und einen kompakten Ton, was dem gelassenen Blick zurück, der in diesem Stück herrscht, doch merklich widersprach. Auch die Griechin Konstantia Gourzi schien die Geschlechterfrage bewusst aus dem Spiel lassen zu wollen. Sie gab sich in Erscheinung und Zeichengebung ausgeprägt neutral und liess in ihrem ganz auf die Moderne ausgerichteten Programm mit dem Orchester der Lucerne Festival Academy Werke wie «Le Sacrifice» von Iannis Xenakis oder das frühe «Concert Românesc» von György Ligeti in blendender, aber auch nüchterner Klarhheit erklingen.

Die Kraft der Begabung

Ganz anders dagegen Mirga Gražinytė-Tyla. Die dreissigjährige Dirigentin aus Litauen macht kein Aufhebens darum, dass sie als Frau ans Dirigentenpult tritt; ihre Weiblichkeit kommt ganz selbstverständlich und natürlich zur Geltung. Zartgliedrig, wie sie ist, bleiben ihr autoritäre Züge im Auftreten verschlossen, ihre Zeichengebung zielt vielmehr auf die Auslösung energetischer Prozesse. Den Taktstock führt sie mit feinem Griff, ihre Linke dagegen spricht in vielerlei Gestalt. So machte sie Ludwig van Beethovens Sinfonie Nr. 6 in F-dur, die «Pastorale», zu einem Gang durch ein äusserst belebtes Landleben.

Das Chamber Orchestra of Europe war klein besetzt und sprach leise, für diesen Klangkörper mit seiner reichen Beethoven-Erfahrung vertrautes Terrain. Bemerkenswert aber die Ausdrücklichkeit, die Mirga Gražinytė-Tyla im Rahmen der ziselierten Diktion erzielte. Dass sie dabei die Tempi, die sich Beethoven gewünscht hat, nur annährend erreichte, war nicht von Belang; die vom Komponisten stammenden Metronomzahlen stellen kein Dogma dar, sie sind vielmehr aus dem Kontext heraus zu verwirklichen. Und dieser Kontext war hier von enormer Stimmigkeit: reich an struktureller Einsicht wie an emotionaler Dichte. Intensiv wuchs das Geschehen aus dem Geflecht der Stimmen, auch der Binnenstimmen, und der instrumentalen Farbwirkungen heraus; und es lebte von manch überraschendem Einfall – etwa von dem ganz und gar ungewohnt von oben genommenen Triller, mit dem sich vor der Reprise des Kopfsatzes die Ersten Geigen vernehmen lassen. Die Szene am Bach, in leichtem Fluss gehalten, geriet zu einem bunten Vogelkonzert, die Tänze der Landleute steigerten sich in so heftiges Temperament, dass der Wechsel in die bedrohliche Stimmung vor dem Gewitter von geradezu dramatischer Wirkung war, während sich das Unwetter selbst dann elementar entlud. Nichts von dem geriet jedoch überzeichnet, in jedem Moment herrschten vielmehr die authentische Hinwendung der Dirigentin zum Text und ihre Ausstrahlung an die Adresse der äusserst animiert wirkenden Orchestermitglieder.

Zutiefst berührend war das. Dieser Tage tritt Mirga Gražinytė-Tyla ihr neues Amt als Chefdirigentin des City of Birmingham Symphony Orchestra an; in dieser Funktion folgt sie Vorgängern wie Simon Rattle oder Andris Nelsons – und kommenden Sommer wird sie mit dem Orchester aus Birmingham in Luzern gastieren. Dass es eine Frau ist, die im Begriff steht, zu einer grossen Karriere abzuheben, ist absolut bedeutungslos; im Vordergrund steht die einzigartige Begabung. Wenn sie sich so selbstverständlich durchsetzt, wie es bei Mirga Gražinytė-Tyla den Anschein hat, zeugt das aber doch von einem gewissen Wandel in der Frage nach der PrimaDonna. Das Lucerne Festival darf sich da durchaus seiner Verdienste rühmen.