Mit Charles Gounod zwischen Himmel und Erde

«Roméo et Juliette» im Stadttheater Bern

 

Von Peter Hagmann

 

Zwölf Opern hat Charles Gounod geschrieben. Praktisch nichts davon ist geblieben, keines dieser Werke hat die Popularität der Cäcilienmesse oder gar des «Ave Maria» zum C-Dur-Präludium aus dem ersten Band von Johann Sebastian Bachs Wohltemperiertem Klavier erreicht. Eine einzige Ausnahme gibt es – leicht zu erraten: «Roméo et Juliette». Das fünfaktige Drame-lyrique, 1867 in erster Fassung in Paris, im Théâtre-Lyrique an der Place du Châtelet, aus der Taufe gehoben, wird von allen Seiten geliebt, nicht zuletzt von den Sängerinnen und Sängern, aber auch vom Publikum, das sich der Emotionalität des Stoffes wie der musikalischen Schönheit von Gounods Partitur immer wieder lustvoll hingibt.

Wie es jetzt wieder im Berner Stadttheater geschieht, in dem die Bühnen Bern eine Inszenierung von «Roméo et Juliette» zeigen, die für die Pariser Opéra-Comique entworfen und gemeinsam mit den Theatern in Bern, Rouen, Washington und Bari koproduziert wurde. Die Herkunft aus Paris erklärt auch den Umstand, dass die Liebesgeschichte zwischen einer jungen Frau und einem jungen Mann aus zwei einander in erbitterter Feindschaft gegenüberstehenden Familien in keiner Weise mit der aktuellen Situation im Nahen Osten in Verbindung gebracht ist. Der Theaterkünstler Eric Ruf, zurzeit Direktor der Comédie-Française, siedelt das Geschehen vielmehr in Italien an, nicht gerade in Verona, eher in Apulien. Darauf schliessen lassen die mächtigen, wenn auch deutlich bröckelnden Türme, mit denen Ruf als sein eigener Bühnenbildner die unterschiedlichen Spielorte gliedert. Und damit für Atmosphäre sorgt.

Bild Janosch Abel, Bühnen Bern

Sogar eine Art Balkon wie jener in Verona kommt vor; es ist eine ganz in der Höhe liegende Umfassung, auf die sich Juliette hinauswagt – nur leicht bekleidet und barfuss, also ungeschützt, in Wirklichkeit aber zweifellos durch ein unsichtbares Seil gesichert. Die Szene, von ferne erinnert sie an eine ähnliche Stelle in Claude Debussys Oper «Pelléas et Mélisande», sorgt für Schauder und Berührung. Erst recht gilt das für das Finale der Oper, das in einer süditalienischen Totenkammer spielt. In den prächtigsten Gewändern – die unerhört wirkungsvollen Kostüme hat der Modeschöpfer Christian Lacroix entworfen – hängen dort die vor sich hintrocknenden Leichen, auch die nur in tiefsten Schlaf versenkte Juliette, zu deren Füssen Roméo den Gifttrank zu sich nimmt, während sie, erwacht, schliesslich zum Dolch greift.

Über allem herrscht der Geist soliden Handwerks und genuinen Theatersinns. Weniger gilt das für die Ausgestaltung der einzelnen Figuren, die da und dort Luft nach oben offenlässt. Recht eigentlich misslungen wirkt der Einstieg ins Stück mit einer polternden, vom Dirigenten Sebastian Schwab weder dynamisch noch klangfarblich hinreichend kontrollierten Ouvertüre, einer durch waberndes Vibrato gezeichnete Nummer des von Zsolt Czetner einstudierten Chors sowie dem vom Berner Symphonieorchester einigermassen klobig begleiteten Walzer der Juliette. «Je veux vivre» singt da die junge Russin Inna Demenkova, wie es Violetta Valéry in der wenige Jahre vor «Roméo et Juliette» entstandenen «Traviata» von Giuseppe Verdis tut; sie zeigt dabei forsche Kraft zeigt und formt die Spitzentöne gern in einen Schrei um – nicht gerade das, was à la française wäre. Wesentlich näher an den meist feingliedrigen Ton Gounods kommt Ian Matthew Castro. Als Roméo gelingt dem ebenfalls jungen Tenor aus Puerto Rico eine vorzügliche Leistung; er bringt ein leichtes, offenes Timbre von hellem Glanz ein, das ihn die Höhe mühelos erreichen lässt. Und das zu manchem ergreifendem Moment führt.

Je weiter der Abend voranschreitet, desto mehr nähert sich Inna Demenkova einer idiomatisch adäquaten Auslegung der Juliette (wiewohl ihr Französisch ein unverständliches Kauderwelsch bleibt). Die vier zentralen Duette der Oper gelingen jedenfalls eindrucksvoll. Ebenfalls plausibel gelöst sind die grossen Szenen zwischen dem Ball des Anfangs und der fatalen Hochzeit am Ende. Und die von Stéphano, der ausgezeichneten Evgenia Asanova, provozierten Kampfszenen mit ihren zwei Toten sind von Glysleïn Lefever ebenso geschickt wie effektvoll choreographiert. Rasch ist der Abend vorbei – das ist, bei allen Einschränkungen im Einzelnen, das denkbar beste Zeichen.

Gefühl, in Kunst verwandelt

«Roméo et Juliette» von Gounod in Zürich

 

Von Peter Hagmann

 

Der Ball / Bild Herwig Prammer, Opernhaus Zürich

Der erste Blick auf die Bühne schockiert. Statt der erwarteten Szenerie für den prunkvollen Ball, mit dem «Roméo et Juliette» anhebt, öffnet sich im Opernhaus Zürich ein rechteckiger, weit in den Hintergrund gezogener Raum, lindgrün gehalten, leer, wären da nicht jene zwei einander gegenüberstehenden, parallel nach hinten verlaufenden Reihen von Tessinerstühlen. In die Seitenwände eingelassen hat der Bühnenbildner Andrew Lieberman raumhohe Türen; aus denen treten nach und nach, einzeln, sehr zeremoniell, die Gäste ein: Damen in gehobener Kleidung heutigen Schnitts, von Annemarie Woods entworfen, Herren in betont elegantem Dinner Jacket oder in Galauniform. Zu ihren Plätzen geführt werden sie von einem eifrigen Tanzmeister – nein, so stellt sich bald heraus, es ist der Hausherr selbst, das Oberhaupt der Familie Capulet (David Soar). Bald kommt es zu dem erst strengen, dann kultiviert ausartenden Eröffnungswalzer, den Pim Veulings choreographiert hat. Und erklingt «Je veux vivre», die Arie der Juliette, mit der sich Julie Fuchs als eine zweite Violetta Valéry in die Herzen des Publikums singt.

Wie unterm Brennglas lässt sich an diesem Anfang verfolgen, was die neue Zürcher Produktion von Charles Gounods Oper intendiert und was sie erfolgreich verwirklicht. An Schmelz fehlt es in keiner Hinsicht, wohl aber an Schmalz. Was dem stolzen Werk im Wege steht, ist die Rührseligkeit, die ihm durch zahllose Interpreten beigefügt worden ist; nichts davon ist an diesem formidablen Abend zu erleiden. Was hier rührt, und es ist nicht wenig, geht auf die Erfindung der Librettisten Jules Barbier und Michel Carré, auf die Musik Gounods und die unprätentiös sachgerechte Umsetzung in die szenisch-musikalische Wirklichkeit zurück. Der Regisseur Ted Huffman erzählt die Geschichte von der blitzschnell aufflammenden und unerbittlich in die Katastrophe führenden Liebe zwischen zwei jungen Menschen aus zwei verfeindeten Familien in einem neutralen Ambiente der Jetztzeit. Plüsch und Samt fehlen ebenso wie der Duck auf die Tränendrüse; an deren Stelle treten die Genauigkeit und die Empathie in der Ausgestaltung der handelnden Figuren – sie könnten Menschen von nebenan sein, gewinnende Erscheinungen, denen das Mitgefühl ihrer Umgebung sicher ist.

Genau gleich hält es der Dirigent Roberto Forés Veses. Hell und klar leuchtet in dem von ihm erzeugten Licht die Partitur Gounods, warm und pulsierend klingt sie, und zugleich gibt sie ihr ganzes Raffinement zu erkennen – im tief abgesenkten Graben des Opernhauses erbringt die Philharmonia Zürich eine erstklassige Leistung. Gounod war nicht nur ein genuiner Franzose, er war nicht nur zutiefst in den musikalischen Traditionen seines Landes verankert, wie es die Ouvertüre vorführt. Er hatte auch Sinn für das, was sich ihm durch die intensive Begegnung mit der deutschen Musik erschlossen hat. Für den Kontrapunkt beispielsweise, aber auch für Nebenstimmen in unterschiedlichen Farben. Ausdrucksvoll, im Geist des musikalischen Sprechens lässt Gounod die Holzbläser, das Horn oder ein konzertierendes Cello intervenieren – so fasslich, wie es in dieser Produktion geschieht, ist das selten zu hören.  Möglich wird es, weil der Dirigent zwar schon auf die Rundung und die Geschlossenheit des Klangs hinarbeitet, im selben Mass jedoch Freiräume offenlässt, in denen die instrumentalen Kommentare zur Geltung kommen. Unter dem Strich ergibt das eine Vitalität eigener Art.

Roméo (Benjamin Bernheim) / Bild Herwig Prammer, Opernhaus Zürich
Juliette (Julie Fuchs) / Bild Herwig Prammer, Opernhaus Zürich

Mag sein, dass das auf der Bühne Folgen zeitigt, jedenfalls findet die tragische Geschichte eine Authentizität, wie sie nicht alle Tage vorkommt. Benjamin Bernheim und Julie Fuchs sind das Traumpaar der Stunde – ähnlich wie es vor vielen Jahrzehnten Eva Lind und Francisco Araiza und später, in anderem Zusammenhang, Agnes Baltsa und José Carreras waren. Sie gehen förmlich auf im coup de foudre; sie spielen ihn nicht, sie leben ihn. Und sie singen auf Augenhöhe: beide gleichermassen sicher in der Performanz und stark in der Ausstrahlung, beide ausserdem mit ähnlich gelagerten Timbres, mit einem sagenhaften Reichtum an Obertönen und kaum je angestrengt wirkender Kraft. Und dann das Legato, das er einbringt, die Koloraturen, mit denen sie brilliert. Ganz ausgezeichnet auch das Ensemble, das die beiden Protagonisten trägt – etwa der ernsthafte Frère Laurent, der in einer schlichten Wortzeremonie die heimliche Trauung vollzieht und dann in ergreifender Solidarität das so fatal falsch wirkende Fläschchen bereithält. Einen besonderen Auftritt hat die junge Mezzosopranistin Svetlina Stoyanova in der Hosenrolle des Stéphano, des Pagen des Titelhelden. In quirliger Natürlichkeit präsentiert sie ihre Arie – der Szenenapplaus ist ihr sicher.

Das alles ereignet sich in einer Inszenierung, die augenfällig macht, wie sich die Schlinge zuzieht. Diskret tut sie das, etwa mit einer Kampfszene, die, so schreckliche Folgen sie zeitigt, doch in jedem Augenblick attraktive Kunst bleibt. Intelligent auch die szenische Sprache, die sie spricht. Eine besondere Rolle spielen die Tessinerstühle. Versinnbildlichen sie anfangs in ihrem strengen Gegenüber die scharfe Konfrontation zwischen den Capulets und den Montagues, stehen sie während der Trauung, im Moment der nächsten Nähe zwischen den beiden Familien, in einer Reihe nebeneinander. Und erst gegen den Schluss hin fällt auf, dass die Rückwand des anfänglich so weiten Raums mehr und mehr nach vorne gerückt ist, sich der Blickwinkel zusehends verengt hat, bis für den Tod der beiden Liebenden nur mehr ein schmaler Streifen der Bühne übrigbleibt. Der einfache szenische Handgriff stellt die konzise Dramaturgie von «Roméo et Juliette» in hellstes Licht. Auch darum kann man nach diesem Abend seine Ansichten zu Gounods lange Zeit missachteter Oper neu sortieren.

Von Luzern nach Luzern

Regula Mühlemann in «Roméo et Juliette» von Gounod

 

Von Peter Hagmann

 

Bild Ingo Hoehn, Luzerner Theater

 

Vorab dies: Das Stadttheater Luzern ist zu klein für «Roméo et Juliette». Charles Gounod hat für seine Oper von 1867 eine opulente Orchesterbesetzung vorgesehen, die nicht nur Platz im Graben verlangt, sondern auch Volumen im Zuschauerraum. Vier Hörner, drei Posaunen, Schlagzeug, dazu Streicher, die ein Gegengewicht zu den Bläsern bilden – die Partitur braucht Luft, um in ihrer ganzen Wärme zum Klingen zu kommen, und sie benötigt eine gewisse Pedalwirkung, welche die Farben des Orchesters mischt und sie in sinnvollen Bezug zum vokalen Geschehen auf der Bühne bringt. In Luzern ist das nur partiell möglich. Von da her gesehen ist es ein Wunder, was der Luzerner Musikdirektor Clemens Heil und das hellwache Luzerner Sinfonieorchester in der neuen Produktion von «Roméo et Juliette» zustande bringen.

Regula Mühlemann jedenfalls konnte sich im Orchesterklang aufgehoben fühlen. An der Premiere von «Roméo et Juliette» kam die junge Sopranistin zu einem grossartigen Erfolg – nicht nur, weil sie als Luzernerin nach Luzern zurückgekehrt ist, sondern auch und vor allem, weil sie künstlerisch gewaltig vorwärts gemacht hat. Seit ihrem Debüt bei den Salzburger Festspielen 2012, dort allerdings in einer Freilicht-Aufführung im Residenzhof, und ihrem Rezital im Rahmen der Debüt-Reihe des Lucerne Festival 2013 hat ihre Stimme merklich an Kontur gewonnen. In ihrem glockigen Ansatz erinnert sie noch immer an jene von Edith Mathis, einer anderen Luzernerin, das besorgt ihr einen ganz eigenen Reiz. Inzwischen jedoch hat sich das Farbenspektrum erweitert und hat sich auch das Volumen vergrössert – ohne dass die Eigenheiten des Timbres verlorengegangen wären. Nach wie vor bringt Regula Mühlemann neben der ganz selbstverständlichen Beweglichkeit einen ungewöhnlichen Reichtum an Obertönen ein und kennt sie eine Kultur des Leisen, wie sie gerade in der Oper nicht eben häufig anzutreffen ist. Der Vergleich ist zu hoch gegriffen, das versteht sich, aber man darf ihn wagen – und ihren vokalen Charakter in jenem Bereich ansiedeln, der von Alfredo Kraus so eindrucksvoll repräsentiert wurde.

Der Luzerner Produktion von Gounods «Roméo et Juliette» bringt das manchen Vorteil. Natürlich ist der Enthusiasmus der ersten Liebe spürbar, gewiss geht die Verzweiflung über den unglücklichen Ausgang des glücklichen Aufbruchs direkt unter die Haut – aber ihren besonderen Zug erhält die Luzerner Juliette durch das Zarte, das Scheue, die Innigkeit, die Regula Mühlemann der Partie entlockt. Sie bildet damit den perfekten Gegensatz zu dem in italienischer Manier stemmenden Tenor von Diego Silva, der seinem Roméo etwas unerhört Drängendes verleiht. Das szenische Potential, das sich aus dem vokalen Kontrast ergibt, hat der junge Regisseur Vincent Huguet geschickt zu nutzen gewusst. Er nimmt ihn insofern auf, als er der Liebe über die Grenzen eine Familienfehde hinaus die in ihren Normen und ihren Ansprüchen erstarrte Gesellschaft der Capulets und der Montaigus gegenüberstellt. Zeugnis davon bieten die allgegenwärtigen Gipsstatuen, mit denen die Bühnenbildnerin Aurélie Maestre die Szenen strukturiert, vor allem aber die körperlichen Konfrontationen; die Kampfszene zwischen Mercutio (Bernt Ola Volungholen) und Tybalt (Robert Maszl) wie jene zwischen Tybalt und Roméo entwickeln jedenfalls gewaltige Sprengkraft.

Ihre Energie gewinnt die Produktion nicht zuletzt durch die sorgfältig ausgestalteten Figuren, die das Ensemble rund um die beiden Protagonisten bilden. Jason Cox versieht den Chef des Hauses Capulet mit herrischen Zügen, als Frère Laurent zeigt Vuyani Mlinde einen Geistlichen, der das Lavieren beherrscht, aber doch eindeutig handelt, während Flurin Caduff der undankbaren Rolle des Grafen Pâris mit allem Sinn für Komik begegnet und Abigail Levis aus dem jungen Stéphano einen tollen Feuerkopf macht. Bisweilen schiesst der Regisseur übers Ziel hinaus, etwa in der eröffnenden Ballszene, die mit ihrer zu vollen Bühne und den zu überdrehten Bewegungsmustern provinziell wirkt, oder im Finale, wo des Ringens und Stöhnens zu viel ist. Das ist Oper von gestern; in ihrem Grundzug bleibt die Deutung aber absolut heutig.