«Notre Dame» vor und hinter der Rosette von Notre-Dame

Die selten gespielte Oper von Franz Schmidt als Freiluftaufführung der St. Galler Festspiele

 

Von Peter Hagmann

 

Bild Toni Suter T+T Fotografie, Theater St. Gallen

Im grossen Repertoire blieb «Notre Dame» stets eine Randerscheinung. Umso verdienstvoller, dass die vom Theater St. Gallen zum Ende seiner Spielzeit jeweils durchgeführten Festspiele die 1903 abgeschlossene Oper von Franz Schmidt nach dem Roman von Victor Hugo ans Licht zogen. Tatsächlich konnten diese Festspiele, deren Herzstück eine auf dem Platz vor der St. Galler Kathedrale gebotene Opernaufführung bildet, in diesem Jahr eröffnet werden. Allerdings mit einem Sicherheitskonzept, das nur zwei Drittel der eintausend Sitze zur Besetzung freigab und Pause wie Gastronomie ausschloss, dafür aber von der Maskenpflicht am Platz befreite. So liess sich denn einigermassen ungestört ein musikalisch hochinteressantes Stück erkunden, das in einer bemerkenswerten Produktion gezeigt wurde.

Dass in diesen Freiluftaufführungen der Klang des Orchesters aus dem Lautsprecher kommt und sich dort mit den ebenfalls verstärkten Stimmen der Sängerinnen und Sänger vermischt, muss man in Kauf nehmen. Kompensiert wird die Einschränkung durch die einzigartige Atmosphäre, durch das zauberhafte Licht des Sommerabends, durch die Beteiligung der im Bühnenbild hausenden Vögel und durch die stumme, aber effektvolle Mitwirkung des barocken Bauwerks im Hintergrund. Den Vordergrund machte an diesem Premierenabend die mächtig vergrösserte Rosette der Notre-Dame aus – dies durchaus in Anspielung auf den derzeitigen Zustand der 2019 durch ein Feuer verwüsteten Pariser Kirche, also in Bruchstücken. Damit schuf der Bühnenbildner Rifail Ajdarpasic den Raum für jene vom Kostümbildner Christophe Ouvrard prachtvoll ausstaffierten Tableaux, in denen die Kirche ihre Macht herzeigt.

Die Hauptperson bei diesen Aufzügen fehlt jedoch, ein Auftritt des Erzbischofs wurde von Franz Schmidt und seinem Co-Librettisten Leopold Wilk nicht vorgesehen. Als umso einflussreicher und bedrohlicher erscheint der Archidiakon, der Stellvertreter des Pariser Kirchenoberhaupts. Simon Neal leiht diesem gefährlichen Dogmatiker seine mächtige Stimme, zeigt zugleich aber eindrücklich, wie unheilvoll der Priester der schönen Esmeralda verfallen ist – gleich wie seine drei Mitbewerber vor der Tür der geheimnisvollen Tänzerin. Esmeralda, die von Anna Gabler mit den herrlichsten Tönen und sehr lasziv über die Rampe gebracht wird, erleidet den Feuertod, obwohl nicht sie, sondern ihr heimlicher Geliebter Gringoire (Cameron Becker gibt ihn in jugendlicher Agilität) den adligen Offizier Phoebus (Clay Hilley) angegriffen hat und obwohl Phoebus nur verletzt, nicht getötet worden ist. Die schauerliche Folge dieses Missverständnisses vermag auch der Glöckner Quasimodo nicht abzuwenden; ebenfalls mehr als nur angetan von Esmeralda, bietet er der Verfolgten Kirchenasyl in einem geheimen Raum oberhalb der Rosette – was trotz der eindringlichen Darstellung durch David Steffens schiefläuft, weil der Archidiakon als sein Vorgesetzter das Instrument des Asyls ausser Kraft setzen liess.

Der Regisseur Carlos Wagner bringt diese Geschichte in spannende szenische Abläufe – die er, wie es das Freilufttheater erfordert, gemeinsam mit dem Choreographen Alberto Franceschini durch vital bewegte Nebenfiguren anreichert. Ebenfalls sehr lebendig agiert unter der Leitung von Michael Balke, dem Ersten Kapellmeister des Hauses, das Sinfonieorchester St. Gallen. Weil der Cellist Franz Schmidt seine Oper in hohem Masse sinfonisch angelegt hat, ist das von Bedeutung. Es wird in dieser Produktion vorbildlich eingelöst.