Entdeckungen bei Gabriel Fauré – mit dem Sinfonieorchester Basel

 

Von Peter Hagmann

 

Das Kulturleben ist stillgelegt, Oper und Konzert sind ausgesetzt – versteht sich: Die Öffentlichkeit, welche die Musik braucht wie wir die Luft zum Atmen, ist noch immer gefährlich. Musikkritik muss daher ausfallen. Allein, stimmt das wirklich? Oder stimmt es vielleicht nur bedingt? In unseren multimedial durchzogenen Tagen kennt die Musik ja auch andere Formen des Daseins, mediale eben. Darum bleibt «Mittwochs um zwölf» fürs erste in Betrieb: mit Home Music, nämlich mit Hinweisen auf empfehlenswerte Neuerscheinungen oder Schätze aus dem Archiv.

 

Als Komponist von Orchesterwerken ist Gabriel Fauré nicht bekannt geworden; die grosse Sinfonie, wie sie César Franck, Camille Saint-Saëns oder Ernest Chausson gepflegt haben, fehlt in seinem Werkverzeichnis. Akzente setzte der 1845 geborene Franzose im Bereich der kleineren Besetzungen, beim Lied, vor allem aber bei Kammer- und Klaviermusik. Gern gespielt und gehört sind etwa die Violinsonate Nr. 1 in A-dur von 1875, aber auch die Quartette und Quintette mit Klavier.

Dennoch haben sich das Sinfonieorchester Basel und sein seit 2016 amtierender, mit viel Geschick wirkender Chefdirigent Ivor Bolton vorgenommen, den wenig bekannten Orchesterkomponisten Gabriel Fauré zu erkunden. Drei Compact Discs unter dem Titel «The Secret Fauré», allesamt auch im Streaming greifbar, sind so entstanden – und die dritte ist wohl die attraktivste unter ihnen. Dies nicht zuletzt darum, weil sich auf dieser CD, als Höhepunkt und Abschluss des Projekts, das berühmte Requiem Faurés findet, das zum Tod des Komponisten 1924 in der von ihm als Organist betreuten Pariser Kirche La Madeleine aufgeführt wurde. Es wird hier in der Originalfassung mit Orchester dargeboten.

Dieses Requiem gehört zum Besten, was die spätromantische Musik aus Frankreich hervorgebracht hat. Die Musik Faurés zeichnet sich ja dadurch aus, dass sie gelassen und entspannt in sich ruht, dass sie weder den neuen Horizont sucht noch den zugespitzten Ausdruck, sondern sich natürlich und in einer sehr persönlichen Weise entfaltet – in der Schönheit der Harmonien und der Sinnlichkeit der Klangfarben. Ivor Bolton ist für diese musikalische Sprache genau der Richtige, seine Auslegung des Requiems lässt es hören.

Der Richtige ist er, weil er, so paradox das erscheinen mag, aus der alten Musik kommt. Und dort gelernt hat, Notentexte zu prüfen und Aufführungsgewohnheiten zu hinterfragen. Hell und leicht klingt das Sinfonieorchester Basel, so hell und leicht wie der Balthasar-Neumann-Chor. Ganz selbstverständlich pflegen die Streicher das Spiel mit wenig Vibrato; sie erzeugen einen obertonreichen, fast gläsernen Klang. Bestens mischt er sich darum mit den Farben der für die Aufnahme im Goetheanum Dornach eingesetzten elektronischen Orgel, die all die Spezialitäten beizusteuern vermag, wie sie die 1846 fertiggestellte Cavaillé-Coll-Orgel in La Madeleine bietet. Für das Gelingen einer Aufführung von Faurés Requiem ist dieser Aspekt von entscheidender Bedeutung. Zumal im letzten der sieben Sätze, wo man geradewegs ins Paradies entführt wird.

Überhaupt wartet das Sinfonieorchester Basel mit Geschmeidigkeit des Tons und Wandelbarkeit der Farbgebung auf – gerade bei den Bläsern. Schade nur, dass keines der drei Booklets eine Liste der mitwirkenden Orchestermitglieder enthält (wohingegen die Sängerinnen und Sänger des Balthasar-Neumann-Chors namentlich aufgeführt sind). Man möchte doch wissen, wer in der Orchestersuite «Pelléas et Mélisande» auf der ersten der drei CDs und in der «Pavane» auf der zweiten so herrlich die Flöte bläst – für Informationen solcher Art hätte man gut und gerne auf die Allgemeinplätze verzichten können, die der Basler Autor Alain Claude Sulzer zum Projekt beigesteuert hat. Auch die solistischen Beiträge sind ausgezeichnet aufgehoben, etwa bei der Sopranistin Olga Peretyatko, beim Pianisten Oliver Schnyder, der in der Ballade für Klavier und Orchester (in Vol. II) mit sensiblem Rubato zu Werk geht, oder bei Benjamin Appl und seinem strahlenden, allerdings von etwas viel Vibrato geprägten Bariton.

Manch Unbekanntes gibt es bei «The Secret Fauré» zu entdecken, unter anderem die reizende «Messe des pêcheurs de Villerville» für Frauenchor und kleines Orchester, die Fauré während eines Sommeraufenthalts in der Normandie zusammen mit seinem Freund André Messager geschrieben hat. Repertoire wurde erforscht, bisher unbeachtete Quellen zur Aufführungspraxis wurden beigezogen – mit dem Resultat einer anregenden Horizonterweiterung. In dieselbe Richtung weist eine parallel zum Fauré-Projekt erschienene Doppel-CD, die Luciano Berio und seinen Adaptionen für Orchester gilt. Zum Beispiel den «Quattro versioni originali della “Ritirata Notturna di Madrid” di Luigi Boccherini», die Berio 1975 mit Humor bearbeitet und für Orchester eingerichtet hat. Und auf der zweiten CD erscheinen sogar die Beatles mit vier ihrer Songs, die es dem italienischen Komponisten seinerzeit besonders angetan haben.

Die vier CD-Publikationen lassen erkennen, dass sich das Sinfonieorchester Basel mit Ivor Bolton sehr positiv entwickelt und zu ausgezeichneter Verfassung gefunden hat. Das gilt auch für die Rahmenbedingungen seiner Tätigkeit. Soeben hat das Orchester einen neuen Probenraum auf halbem Weg zwischen dem Konzertsaal und dem Kunstmuseum bezogen, demnächst wird – auch hier: so Corona will – der renovierte, für seine Akustik berühmte  Musiksaal im Basler Stadtcasino, der von Herzog & De Meuron genial erweitert worden ist, wieder in Betrieb genommen. Allerdings bauen sich auch Gewitterwolken auf, stösst doch die Aufteilung der Subventionen, die das Orchester stark bevorzugt, bei kleineren Klangkörpern und namentlich bei den Vertretern der Popularmusik zunehmend auf Widerstand. Es ist allerdings nicht auszuschliessen, dass die Musikstadt Basel ihrer Tradition auch auf dieser Ebene treu bleiben wird.

The Secret Fauré. Vol. III: Geistliche Werke, insbesondere das Requiem. Vol. II: Orchesterwerke und Konzerte. Vol. I: Suiten und Orchesterlieder. Olga Peretyatko (Sopran), Benjamin Bruns (Tenor), Benjamin Appl (Bariton), Oliver Schnyder (Klavier), Balthasar-Neumann-Chor, Sinfonieorchester Basel, Ivor Bolton (Leitung). Sony Classical (Aufnahmen 2017-2019, Produktionen 2018 bis 2020).

Luciano Berio: Transformation. Werke von Bach, Boccherini, Brahms, Mahler etc. in Adaptionen von Luciano Berio. Sophia Burgos (Sopran), Benjamin Appl (Bariton) Daniel Ottensamer (Klarinette), Sinfonieorchester Basel, Ivor Bolton (Leitung). Sony Classical (Aufnahme 2018, Produktion 2019).