«Pelléas et Mélisande» orchestral

Debussys Oper als Sinfonische Dichtung – von und mit Jonathan Nott

 

Von Peter Hagmann

 

Schon damals, als Radio und Fernsehen, als Langspielplatte und Compact Disc, YouTube und Streaming noch nicht existierten – schon damals gab es Strategien der Vermarktung. Von gross besetzten Werken, in erster Linie von Opern, Oratorien und Sinfonien, wurden Klavierauszüge zu zwei und vier Händen hergestellt. Auch Fassungen für klein besetzte Ensembles, wie sie im Salon und im Wohnzimmer üblich waren, wurden angefertigt; «Le nozze di Figaro» in der reizvollen Fassung für Streichquartett von Franz Danzi mag dafür als Beispiel stehen. Bei den Werken des Musiktheaters weit verbreitet war zudem die Einrichtung von Orchestersuiten – nicht selten durch die Komponisten selbst. Alban Berg hat für «Wozzeck» wie für «Lulu» Teile aus den Partituren zu konzertanten Satzfolgen gefügt. Besonders bekannt geworden sind die Orchestersuiten zu Opern von Richard Strauss, etwa zum «Rosenkavalier» oder zur «Frau ohne Schatten».

Auch zu «Pelléas et Mélisande» von Claude Debussy gibt es eine Menge an Bearbeitungen, selbst eine Einrichtung für Klaviertrio, die 2011 mit dem Trio Parnassus auf CD erschienen ist. Auch an orchestralen Suiten fehlt es nicht. Das liegt insofern nahe, als das Werk zahlreiche Vor- und Zwischenspiele enthält; der Komponist sah seine Oper bewusst als ein Ganzes und hat zur Überbrückung der Umbaupausen für Musik gesorgt. Immer wieder gespielt wird die Suite, die der Dirigent Erich Leinsdorf 1938 erstellt und 1946 mit dem Cleveland Orchestra aufgenommen hat; gefolgt sind ihm 1991 Serge Baudo mit der Tschechischen Philharmonie und, mit einigen Modifikationen, Claudio Abbado mit den Berliner Philharmonikern 1998. Leinsdorfs Einrichtung basiert im Wesentlichen auf den Vor- und Zwischenspielen – was Jonathan Nott nun gerade nicht interessiert. Eine solche Zusammenstellung lasse den den Kontext ausser Acht und bringe nicht ans Licht, was diese rein orchestralen Teile von «Pelléas et Mélisande» verbänden.

Nott hat darum eine eigene Einrichtung erstellt. Sie formt die Oper Debussys zu einer recht eigentlichen Sinfonischen Dichtung um, in der das Orchester die emotionalen Stationen, die Pelléas, Mélisande und Golaud durchleben, in seiner eigenen Art und Weise erzählt. Dabei sind die Singstimmen bisweilen durchaus integriert, indem entscheidende Momente charakteristischen Instrumentalfarben anvertraut sind. Sehr geschickt hat Nott den musikalischen Verlauf der zweieinhalb Stunden währenden Oper in einen rein instrumentalen Verlauf von fünfundvierzig Minuten verdichtet. Wer die Oper kennt, kann sie hier in einer kondensierten und dementsprechend intensiven Version erleben; eine fassliche Einführung dagegen kann erhalten, wer das Stück kennenlernen möchte. Die Düsternis auf Schloss Allemonde und die Furcht Mélisandes bei der ersten Begegnung mit Golaud, das helle Licht der noch verborgenen Liebe zwischen Pelléas und Mélisande, das fatale Spiel mit dem Ehering, der in den Brunnen fällt, und die brutalen Konsequenzen, die sich daraus ergeben – die von Jonathan Nott erstellte Sinfonische Dichtung bringt es in aller Konkretheit zum Ausdruck. Und während die Oper je nach Aufführung da und dort etwas stehenzubleiben droht, herrscht bei Nott formidable Spannung.

Vorgestellt wird die neue «Pelléas et Mélisande»-Sinfonie in einer (selbstverständlich auch online greifbaren) CD-Box, die der 1903 abgeschlossenen Oper Debussys die Sinfonische Dichtung «Pelleas und Melisande» von Arnold Schönberg aus dem Jahre 1905 gegenüberstellt. Nicht nur begegnen sich hier zwei Kulturkreise, die, wenn man Debussys Wagnérisme in Rechnung stellt, ebenso viel Gemeinsames wie Trennendes haben. Zu erleben sind auch zwei grundsätzlich unterschiedliche Zugänge zu dem um 1900 in der musikalischen Welt sehr beachteten Schauspiel Maurice Maeterlincks von 1902. Anders als Debussy und zugespitzt in der gestenreichen, kraftvollen, ja dramatischen Suite Notts stellt die rauschhaft spätromantische Sinfonische Dichtung Schönbergs die Emotionen und Situationen der Hauptfiguren parataktisch zueinander. In der direkten Nachbarschaft zu Debussy erfährt das im Konzertleben vernachlässigte Werk Schönbergs eine höchst erwünschte Aufwertung.

Nicht zuletzt geht das zurück auf die in jeder Hinsicht hochkarätigen Interpretationen durch das Orchestre de la Suisse Romande und seinen Musikdirektor Jonathan Nott – der nicht nur eine blendende Idee hatte, sondern sie auch meisterlich umzusetzen verstand. Opulent, dabei jederzeit klar und transparent klingt das Orchester; hörbar und mit Gewinn agiert es in deutscher Aufstellung, während die Technik dafür gesorgt hat, dass die Bratschen ausgezeichnet hörbar werden. Nott pflegt einen ganz spezifischen, individuellen Ton, der in seiner Sinnlichkeit und seinem Strukturbewusstsein auch in dieser Aufnahme ungeschmälert zutage tritt. Er streichelt die Musik, und das Orchester leuchtet in prächtigen Farben. Mit diesem anregenden Projekt, das hoffentlich rasch seine Kreise ziehen wird, hat das Orchestre de la Suisse Romande zu alter Grösse zurückgefunden – zu jenem bedeutenden Profil, das es mit Ernest Ansermet und Armin Jordan erreicht hat.

Claude Debussy: Pelléas et Mélisande, als Sinfonische Dichtung eingerichtet von Jonathan Nott. Arnold Schönberg: Pelleas und Melisande. Orchestre de la Suisse Romande, Jonathan Nott (Leitung). Pentatone 5186782 (2 CD, Aufnahmen 2019 (Schönberg) und 2020 (Debussy), Produktion 2021).

Huis-Clos

«Pelléas et Mélisande» in Basel

 

Von Peter Hagmann

 

Andrew Foster-Williams (Golaud) und Elsa Benoit (Mélisande) auf der Basler Bühne / Bild Priska Ketterer, Theater Basel

 

«Wagnérisme», das ist das Stichwort in der wunderbaren neuen Produktion von Claude Debussys Oper «Pelléas et Mélisande» am Theater Basel. Grenzenlos war die Bewunderung, die Debussy für Wagner empfand, und zugleich musste er sich als Franzose, dessen Nationalgefühl dreissig Jahre nach der bitteren Niederlage von 1871 wieder erstarkt war, mit allen Kräften gegen die ästhetische Übermacht des Deutschen zur Wehr setzen – will sagen: sich von ihm abheben. Selten kann man dieses Spannungsfeld so stark erleben wie jetzt in Basel, wo sich Erik Nielsen, der Musikdirektor des Hauses, der Partitur Debussys mit einer Ruhe sondergleichen nähert. Die langsamen Tempi, die der Komponist vorgesehen hat, nimmt Nielsen so, wie sie sein sollen; die ekstatischen Momente fahren darum besonders stark ein. Und sorgsam tariert er das Farbenspiel aus. Aufgelichtet und zugleich kernig präsent die Bässe und die Celli, in herrlicher Rundung mischen sich die Hörner in den Streicherklang, farbenreich die Holzbläser und die samten unterstreichenden Posaunen ­– das alles dank dem Sinfonieorchester Basel, das mit dem Feinsten vom Feinen aufwartet. Kein Wunder, horcht man mehr als einmal auf, um einen Anklang an «Tristan und Isolde» zu vernehmen. Oder noch mehr: um sich dem Neuen zu öffnen, das Debussy entwickelt hat.

So kommt denn auch der Sprechgesang ganz ausgezeichnet zur Geltung – zumal die Diktion des Französischen wenig Wünsche offen lässt. Und das Ensemble hervorragend besetzt ist. Rolf Romei gibt einen scheuen, ganz seinem Urinstinkt gehorchenden Pelléas; sein heller Tenor verfügt über jene fast baritonale Tiefe, die diese Partie so heikel macht. Seinen Gegenspieler Golaud verkörpert Andrew Foster-Williams mit einem strahlenden Bariton von ausnehmend pointierter Lineatur; grossartig, wie er den Verlauf der Seelenzustände, die dieser düstere Mann über die gut drei Stunden Spieldauer durchmacht, empfinden lässt. Arkël, der undurchsichtige Grossvater, der die Strippen bei sich zusammenlaufen lässt, sie in den entscheidenden Momenten aber nicht wirklich in den Händen hält, befindet sich bei Andrew Murphy und seinem dunkel timbrierten Bariton in besten Händen. Dunkel und klangvoll auch die Geneviève von Jordanka Milkova. Das Glanzlicht der Produktion setzt jedoch Elsa Benoit als Mélisande. Intensiv zeichnet sie die Figur dieser verletzlichen, verletzten und gleichwohl ganz in sich verankerten, mithin starken Frau – und sie tut das mit einem weiten Fächer an vokalen Farben.

Ihre Mélisande ist weder blond noch langhaarig. Der Regisseurin Barbora Horáková Joly geht es in keinem Augenblick um irgendeine Spur von Realismus. Die schwarze Holzhütte der Ausstatterin Eva-Maria Van Acker, die langsam und lautlos zerfallen kann und so den Zustand jener fundamentalistischen Familie abbildet, in die Mélisande gerät – diese Holzhütte bildet den erschreckend engen Raum, in dem sich das Geschehen in sozusagen neutraler Färbung ereignet. An konkreten Hinweisen fehlt es gleichwohl nicht. Mélisande, davon zeugen zu Beginn die Blutspuren an ihrem Kleid wie ihren Beinen, hat im Wald ein ungewolltes Kind zur Welt gebracht – nun gut. Weniger dringend erscheint die Unterstützung jener Szene, in der Golaud die schwangere Mélisande malträtiert, durch ein Video (Sarah Derendinger), in dem einem Fisch der Bauch aufgeschlitzt wird; die Szene ist von der Musik und der Aktion her so drastisch eingerichtet, dass sie diese Bebilderung keineswegs benötigt. Dass Mélisande ihren Ring lange, bevor es die Partitur andeutet, in eine Badewanne fallen lässt, dass der nahezu blinde Arkël einen Brief liest, dass in dem Kellerverliess, in das Golaud seinen Halbbruder Pelléas führt, ein frisch geschlachtetes Schwein hängt, aus dem dann Blut hervorschiesst – das alles ist fragwürdige Zutat, die bestenfalls auf künstlerische Vorbilder der Regisseurin verweist. Es verdeckt die Vorzüge einer Inszenierung, in der die Figuren mit ausgeprägter Empathie geführt sind. In der die Beziehung zwischen Pelléas und Mélisande in ihrer ganzen Zartheit aufscheint. Und in der mit Händen zu greifen ist, wie in diesem morbiden Huis-Clos jeder an jedem vorbeiredet. Unter dem Strich überwiegt der szenische Gewinn.