Hier galt’s der Kunst

Notizen zu den Salzburger Festspielen 2022

Von Peter Hagmann

 

Im Schatten der Debatten

Erstes Gesprächsthema im «Café Bazar» oder im «Triangel»: Teodor Currentzis und Russland, Russland und Teodor Currentzis. In unerbittlicher Schärfe wird die Konfrontation geführt. Ein Dirigent, der das von ihm gegründete Orchester mitsamt seinem Chor von Institutionen aus dem Umfeld des Kremls finanzieren lässt und der bis heute kein klares Wort gegen den abscheulichen Krieg der Russen in der Ukraine gefunden hat – ein solcher Dirigent habe bei den Salzburger Festspielen nichts verloren, betont die eine Seite, darunter ein deutscher Journalist, der durch seine vorlaute Ausdrucksweise auffällt. Markus Hinterhäuser dagegen, der Intendant der Salzburger Festspiele, hält eisern an Currentzis fest. Für ihn wiegt der künstlerische Verlust, der durch den Verzicht auf Currentzis einträte, zu schwer. Und er sieht das moralische Dilemma des Dirigenten, der durch ein einziges Wort die Existenz von Hunderten hochqualifizierter, erfolgreich tätiger Musiker aufs Spiel setzte. Der Fall ist komplex und nichts für den populistischen Zweihänder, der in und um Salzburg immer gern ergriffen wurde – man denke nur an die Reaktionen auf die ersten Auftritte des noch jungen Nikolaus Harnoncourt an der Mozartwoche oder auf den Amtsantritt Gerard Mortiers bei den Festspielen.

 

Endspiele

Judith (Ausrine Stundyte) und Blaubart (Mika Kares) (Bild Monika Rittershaus, Salzburger Festspiele)

Was die Kunst betrifft, und darum geht es bei den Salzburger Festspielen zuallererst, liess Teodor Currentzis keine Wünsche offen. «Herzog Blaubarts Burg» von Béla Bartók war musikalisch eine Offenbarung. Das Gustav Mahler-Jugendorchester klang warm, voll und farblich reichhaltig. Den grossen Moment in C-Dur, da Judith die fünfte Tür öffnet und in die Weite von Blaubarts Landen blickt, das dreifache Forte der riesigen Orchesterbesetzung mit den von der Seite in die Felsenreitschule hineinklingenden Blechbläsern habe ich noch nie so majestätisch gehört, derart wohlgeformt durch Mark und Bein gehend. Absolut geglückt auch die Besetzung mit Mika Kares (Blaubart) und Ausrine Stundyte (Judith). Und bezwingend die szenische Umsetzung aus der Hand von Romeo Castellucci, der die schauerliche Geschichte von der zum Scheitern verurteilten Annäherung der liebenden Frau an den in seine Vergangenheit verstrickten Mann als ein Seelenritual zeigt, das unaufhaltsam voranschreitet und dennoch in jedem Moment von vibrierender Empathie lebt.

Da waten sie denn durch das knöcheltiefe Wasser, das die Bühne bedeckt. Es mag für die unerhört direkte erotische Anziehung stehen, durch die Judith und Blaubart in dieser Inszenierung verbunden sind. Vor den ersten Tönen erklingen Laute eines Neugeborenen: Judith hat Blaubart ein Kind geboren, das im Verlauf des Stücks seine Rolle spielt. Beides, das Wasser wie das Kind, wird uns später wieder begegnen; es ist Teil jenes Denkens in Netzwerken, jenes Schaffens gleichsam unterirdischer Fährten, wie sie die Programmgestaltung Markus Hinterhäusers seit je ausgezeichnet haben. Dazu kommt, dass in den drei Neuinszenierungen dieses Sommers insgesamt sechs Einakter angesetzt waren. Denn auch Leoš Janáčeks «Katja Kabanova» ist, wiewohl abendfüllend und in Akte gegliedert, von der Wirkung her ein Einakter, während Giacomo Puccinis «Trittico», wie der Titel andeutet, drei Einakter unter einen Bogen bindet.

Dass auf «Herzog Blaubarts Burg» das Mysterienspiel «De temporum fine comoedia» von Carl Orff folgte, liess nun allerdings erstaunen. Das späte Werk des Bayern wurde zwar 1973 bei den Salzburger Festspielen aus der Taufe gehoben, und dies von keinem Geringeren als Herbert von Karajan, steht ästhetisch dem derzeit gelebten Profil der Festspiele aber denkbar fern. Gerade darum, um der Horizonterweiterung willen, mag Markus Hinterhäuser Orffs Werk gewählt haben – vielleicht aber auch wegen der höchst aktuellen Thematik. Orff schildert hier einen Endzustand der Welt, von dem wir möglicherweise weniger weit entfernt sind, als wir annehmen. Und er geht der Frage nach, warum in der Schöpfung dem Bösen, Zerstörerischen so viel Gewicht zukomme.

Orff stellt sich der Frage aus der Erfahrung zweier Weltkriege heraus. Und er begegnet ihr mit theologischem Handwerk und zugleich auf der Basis tiefen katholischen Glaubens. Verhandelt wird der Gegenstand mit den Mitteln, die der Komponist in langen Jahren entwickelt und zu seinem Personalstil gemacht hat: mit Sprechchören in stampfenden Rhythmen, mit nervös gespannten Tonrepetitionen, mit heftigen Schlägen eines Orchesters, das mit enormem Schlagwerk und zahlreichen tiefen Instrumenten besetzt ist – Teodor Currentzis ging auch hier beherzt zur Sache. Ein anderer Orff als jener der «Carmina burana» war da zu entdecken: ein Gewinn. Etwas quälend war dieser zweite Teil des Abends aber schon, trotz der vielschichtig belebten Szenerie Romeo Castelluccis. Wie am Schluss die Leiber der Verstorbenen aus dem Bühnenboden stiegen und sich die Felsenreitschule nach und nach mit Choristen in rosa Trikots füllte, wie sich endlich Lucifer in dreimaligem Ausruf seiner Schuld bekannte und sich Gottvater unterwarf, war die Erleichterung mit Händen zu greifen.

 

Sängerinnenkult

Zur Horizonterweiterung gehört auch die Wiederentdeckung Giacomo Puccinis. Hatte Gerard Mortier für sich noch festgehalten, dass Puccini in Salzburg ebenso wenig Platz finde wie Luciano Pavarotti, sieht das Markus Hinterhäuser gelassener. Ja, mehr noch, er schliesst sich den gerade in der deutschsprachigen Musikwissenschaft kursierenden Versuchen an, das Schaffen Puccinis in neues Licht zu stellen. In der ehemals prononciert progressiven, seinerzeit von Heinz-Klaus Metzger begründeten Schriftenreihe «Musik-Konzepte» zum Beispiel ist ein Band erschienen, in dem nachzuweisen versucht wird, dass Puccini keineswegs allein ein Meister im Umgang mit der Tränendrüse gewesen sei, dass sich in seiner Musik vielmehr reichlich gutes Handwerk finde – Handwerk nach deutscher Art mithin? Ob der Ansatz Zukunft hat, darf dahingestellt bleiben.

In der Salzburger Produktion von «Il trittico» war davon nichts zu spüren. Schön, gepflegt kam der Dreiteiler, in seiner vollständigen Form bei den Festspielen zum ersten Mal dargeboten, im Grossen Festspielhaus daher. Dass die drei Teile nicht in der vom Komponisten erdachten Abfolge erschienen, war freilich zu bedauern; «Il tabarro» als dräuendes Drama, «Suor Angelica» als Rührstück, «Gianni Schicchi» als witziger Kehraus – das hat seine bezwingende Logik. Der Regisseur Christof Loy dagegen stieg mit dem erheiternden Erbschaftsstreit ein, der aus Dantes «Divina commedia» stammt, stellte die tödlich endende Eifersuchtsgeschichte in die Mitte und schloss mit dem berückenden Porträt der jungen Frau, die eines unehelich geborenen Kindes wegen ins Kloster verbannt ist. Trotz Loys unverkennbarem Können und trotz der klaren Stimmungen in den Bühnenbildern von Etienne Pluss packte das nicht wirklich, es mag jedoch der übergeordneten Dramaturgie der Festspiele geschuldet sein. Tatsächlich führt Angelica nicht nur ihr Lebensende eigenhändig herbei, auf Anraten Loys blendet sie sich auch noch, worauf ihr kleiner Sohn, von dessen Tod sie erfahren hat, ebenso leibhaftig auf der Bühne erscheint wie das Kind Judiths.

Asmik Grigorian als Giorgetta (Bild Monika Rittershaus, Salzburger Festspiele)

Vor allem aber diente die Änderung in der Abfolge der heimlichen Protagonistin des Abends, denn die drei tragenden Frauenrollen im «Trittico» wurden von ein und derselben Sängerin verkörpert. Asmik Grigorian, in den letzten Jahren als Marie aus Bergs «Wozzeck», als Salome, als Chrysothemis aus Richard Strauss’ «Elektra» gefeiert, erfüllte auch diese Aufgabe hinreissend. Im Stimmlichen wie im Szenischen gleichermassen präsent, war sie das junge Mädchen Lauretta, deretwegen Gianni Schicchi (der vitale Misha Kiria) ans Totenbett des verstorbenen Buoso Donati gerufen wird, verkörperte sie dann die brennende Sehnsucht der Giorgetta im «Tabarro», berührte sie schliesslich als die unglückliche Nonne Angelica, als welche die Sängerin ihre ganze Emotionalität ausspielte. Wenig überzeugend hingegen der Auftritt der bösen Fürstin, die Angelica den Tod ihres Sohnes verkündet; als aufgeregte Managerin im grauen Hosenanzug wirkte Karita Mattila bei weitem nicht so bedrohlich, als es die Situation erforderte. Auch nicht ganz auf ihrer Höhe die Wiener Philharmoniker, die matt agierten und wenig koloristischen Reiz zeigten, zudem von Franz Welser-Möst zu einem Fortissimo von unschöner Schärfe angehalten wurden.

 

Zwangsjacke aus grauem Tuch

Die Hölle auf Erden, sie stand allenthalben im Raum – in der düsteren Burg Blaubarts, in der Apokalypse Orffs, in der Seelenpein der in unmöglicher Liebe entbrannten Giorgetta und jener der unter Nonnen gefangengehaltenen Angelica. Auch für Katja, die Titelheldin in Leoš Janáčeks «Katja Kabanova», gleicht das Leben einer Hölle. Sie ist eingemauert in einer Gesellschaft, die für enges Normendenken steht – Barry Kosky hat dafür in seiner meisterlichen Inszenierung von Janáčeks Oper ein ebenso stupendes wie treffendes Bild gefunden. Er liess die ganze Breite der Felsenreitschule vom Bühnenbildner Rufus Didwiszus vollstellen mit einer dichtgedrängten Menge an menschengrossen, von der Kostümbildnerin Victoria Behr in graues Tuch gekleideten Schaufensterpuppen, die immer wieder anders, aber jederzeit sinnreich angeordnet wurden, wenngleich nur von hinten zu sehen waren. Umso stärker wirkte die Weite der Bühne, welche die jungen Leute auf der Suche nach ihrem eigenen Leben für sich erkundeten und einnahmen.

Unter ihnen eben Katja, die mit dem offenkundig zu nichts fähigen Tichon verheiratet ist (Jaroslav Březina gibt diesen Ehemann grandios), in Wirklichkeit aber restlos unter der Fuchtel ihrer Schwiegermutter Kabanicha steht (auch Evelyn Herlitzius lässt hier keinen Wunsch offen). Eine Geschäftsreise Tichons gibt Katja den Raum, sich ihrem Herzensmann Boris (David Butt Philip) hinzugeben – was die junge Frau jedoch in derartige Gewissensnöte stürzt, dass ihr nichts anderes zu bleiben scheint als die Selbstbefreiung durch den verzweifelten Sprung in die Wolga. Da ist es wieder, das Wasser, das hier den tödlichen Endpunkt bildet, das Blaubart und Judith verband, das vor allem auch in dem von Ivo van Hove auf der Perner-Insel krass danebeninszenierten Schauspiel «Ingolstadt» nach Marieluise Fleisser eine Hauptrolle spielt. Vielleicht sind es tatsächlich diese kleinen Merker, die in dem immensen Angebot der Salzburger Festspiele für Kontextbildung sorgen.

Corinne Winters als Katja (Bild Monika Rittershaus, Salzburger Festspiele)

Zusammenhalt ergibt sich aber auch durch die Höchstleistungen einzelner Darsteller – Darstellerinnen, muss man hier sagen. Denn wie Asmik Grigorian sorgt auch Corinne Winters in der Hauptrolle von «Katja Kabanova» für einen sensationellen Auftritt. Was spielt sich in ihrem Gesicht nicht alles ab, was zeigt sie mit ihrer körperlichen Agilität nicht an innerer Bewegung, was bringt sie mit ihrer hellen, jugendlichen Stimme nicht alles zum Ausdruck. Alles ist hier Identifikation, vom Zuschauerraum aus verfolgt man es gebannt und bange, beglückt und hingerissen – dafür gehen Menschen ins Theater, ins Musik-Theater, und dafür brechen sie dann in Jubel aus. Corinne Winters hatte das Glück, von einem wunderbaren Orchester getragen zu werden. Am Werk waren erneut die Wiener Philharmoniker, nun aber unter der energischen, zielgerichteten Leitung von Jakub Hrůša, einem Dirigenten für heute und einem für morgen. Mit ihm entfalten sie ihr ganzes Potential: in der Farbenpracht, in der klanglichen Rundung, in der Kompetenz der Sängerbegleitung.

 

Mozart, ganz in der Jetztzeit

Eine Sternstunde anderer Art ereignete sich im Mozarteum – mit den drei letzten Sinfonien Wolfgang Amadeus Mozarts. Mit dabei war das Mozarteumorchester Salzburg, das vor Jahresfrist beim Lucerne Festival einen ausgesprochen mittelmässigen Auftritt hatte. Hier nun, mit Riccardo Minasi am Pult, brach Frühlings Erwachen aus: Das Orchester wuchs förmlich über sich hinaus und war nicht wiederzuerkennen. Minasi ist ein fulminanter Geiger, der sich, was die historisch informierte Aufführungspraxis betrifft, bis in die innersten Gemächer auskennt; das in den letzten Jahrzehnten ausgebaute Rüstzeug steht ihm zur Gänze und in aller Selbstverständlichkeit zur Verfügung, er weiss es auch mit einem hohen Mass an Phantasie einzusetzen. Reduktion der Besetzung, nuancierter Einsatz des Vibratos, ganztaktige Phrasierung, differenzierte Artikulation zwischen ausgespieltem Legato und scharfem Akzent, Gewichtungen innerhalb des Taktes – all das bringt er ein. Er tat es mit einer Lust am Musizieren, mit freundschaftlicher Kommunikation, mit einem Temperament, dass man selbst beim Zuhören ausser sich geriet – übrigens genau gleich wie die Orchestermitglieder, die ihrem Tun nicht nur mit hörbarem, sondern auch ersichtlichem Vergnügen nachgingen. Jedenfalls: Die Musik Mozarts klang, als wäre sie von heute; der Gegensatz zu den ausgeebneten Wiedergaben mit einem grantelnden Dirigenten am Pult hätte grösser nicht sein können. Ob das Finale der g-Moll-Sinfonie KV 550 so rasch genommen werden muss, bleibt Geschmackssache; es geriet jedenfalls untadelig. Und ebenso grossartig wie das Finale der C-Dur-Sinfonie KV 551, dessen komplexe Struktur in aller Helligkeit leuchtete. Hier galt’s der Kunst, fürwahr.

Das Don-Giovanni-Prinzip

Mozarts Oper als hinreissendes Gesamtkunstwerk bei den Salzburger Festspielen

 

Von Peter Hagmann

 

Die Friedhofs-Szene im Salzburger «Don Giovanni». Links am Rand Davide Luciano als Don Giovanni (Bild Monika Rittershaus / Salzburger Festspiele)

Los geht es, bevor es losgeht. Vor dem schwarzen d-Moll der Ouvertüre wird ein frisch renovierter, hochweiss gehaltener Kirchenraum seiner Attribute entledigt und zur neutralen Spielweise gemacht, so will es Romeo Castellucci, der «Don Giovanni» für die Salzburger Festspiele dieses Sommers auf die weite Bühne des Grossen Festspielhauses gebracht hat. Bei dem italienischen Theaterkünstler, einem phantasievoll assoziierenden Denker, der die Bühne als Ganzes in der Hand hat – bei Castellucci ist der Titelheld nicht ein Mann mit besonderem Fluidum, nicht einmal ein Mensch, er verkörpert vielmehr ein Prinzip. Begehren heisst es. Wirken kann es nur, solange es unerfüllt bleibt. Wenn es aber zur Wirkung kommt, kann es, wie «Don Giovanni» in der Lesart Castelluccis zeigt, durchaus an die Fundamente gehen. Kann ein heiliger Raum seine Funktion verlieren, kann eine Gesellschaft, wie es das erste Finale mit seinem musikalischen Durcheinander erleben lässt, in totalem Chaos versinken, kann selbst die Zeit versteinern. So führt es das Ende der Oper vor, wo sich Don Giovanni die Kleider vom Leibe reisst, sich splitternackt in weisser Farbe wälzt und zu einem jener Gipsabgüsse wird, wie sie aus den Hohlräumen gewonnen wurden, welche die Opfer des Vulkanausbruchs von Pompeji kurz nach der christlichen Zeitenwende hinterlassen haben.

Seine Wurzel hat das Begehren im Narzissmus. Der Salzburger «Don Giovanni» von 2021 zeigt denn auch wenig Aktion und schon gar keine Interaktion. Die Figuren stehen als Chiffren da, die das Zentralgestirn Don Giovanni umkreisen. Ein makellos funktionierendes Räderwerk wird da sichtbar gemacht – in einem klinischen Weiss, das durch subtile, in ihrer Weise sprechende Farbakzente gegliedert wird. Und das durch die ruhige, kongenial auf die Grösse der Bühne reagierende Choreographie von Cindy Van Acker belebt wird. Tatsächlich erhält der szenische Raum seine Modellierung durch einen Bewegungschor, durch Tänzerinnen, vor allem aber durch eine gute Hundertschaft an Frauen aus Salzburg, die vielleicht, möglicherweise, alle ihrem Don Giovanni begegnet sind. Darüber hinaus fehlt es nicht an szenischen Metaphern, die auch gezielt mit Effekt eingesetzt werden. Bevor Leporello – Vito Priante tut das ebenso vornehm wie gekonnt – davon singt, wie genug er von seiner Funktion als Schildwache bei den Abenteuern seines Arbeitgebers hat, fällt eine luxuriöse Limousine mit Getöse aus dem Schnürboden auf die Bühne. Später folgen ihr der zerbeulte Rollstuhl des Commendatore (Mika Kares gibt ihn mit enorm klangvollem Bass) und ein veritabler Flügel, auf dessen Bruchstücken sich Don Giovanni bisweilen selbst begleitet.

Bildertheater ist das. Ganz von ferne erinnert es an die szenische Handschrift Robert Wilsons, aber auch ihr Gegenteil, an die rein illustrierende Bühnentradition italienischer Provenienz. In seiner Abstraktheit, in die scharf konturierte szenische Zeichen einfahren, schafft das Gesamtkunstwerk Romeo Castelluccis Raum für das Mitdenken des Zuschauers, der Zuschauerin. Zugleich aber auch jenes freie Feld, auf dem sich die musikalische Ebene zu entfalten vermag. Sie tut das in einer Intensität und einer Schönheit ganz eigener Art – denn am Pult von musicAeterna und einem durchwegs erstklassig besetzten Ensemble steht Teodor Currentzis, der hier in Salzburg auf den Punkt bringt, was er 2016 mit einer CD-Aufnahme von «Don Giovanni» angelegt und was er 2019 beim Lucerne Festival in der unvergesslichen halbszenischen Aufführung weiterentwickelt hat. Dass der Dirigent in der dritten von insgesamt sechs Vorstellungen am Schluss einige Buhrufe einstecken musste, lässt erahnen, dass die neuen Wege, welche die Mozart-Interpretation in jüngerer Zeit eingeschlagen hat, beim Salzburger Publikum noch nicht angekommen sind. Das ist verständlich, denn wenn es bei Currentzis mit etwas gründlich vorbei ist, dann ist es der apollinisch gelöste Mozart-Ton Karl Böhms.

Currentzis geht kompromisslos zur Sache. Das Orchester ist klein besetzt, klingt jedoch in keinem Moment zu leise oder gar entfernt. Für die unerhörte Präsenz des Musikalischen sorgt der enorm animierende Zugriff des Dirigenten, der seinen Mitstreitern im Graben wie auf der Bühne ein Höchstmass an Expressivität entlockt. Und zwar im Leisen wie im Lauten, im Impulsiven wie im Zärtlichen. Überdies geschieht das ganz selbstverständlich auf der Basis der Erkenntnisse der historisch informierten Aufführungspraxis, die weitherum längst approbiert sind, im grossen Business aber nur zögerlich angenommen werden. So wird hier mit reicher Imagination und durchwegs dem Sprachverlauf entlang phrasiert. Wird nicht auf das Legato als oberstes Prinzip gesetzt, sondern vielgestaltig zwischen Gebundenem und Gestossenem unterschieden. Und wird das Vibrato – nicht von allen Sängerinnen und Sängern, aber von vielen – bewusst als Verzierung verstanden, nicht als Grundlage des sogenannt schönen Tons. Vor allem wird, wenigstens scheint es so, nach Massen extemporiert, werden die wiederholten Teile in den Da-capo-Arien virtuos verziert und die Kadenzen lustvoll ausgekostet. Hervorstechend, wie schon in Luzern, das von der grandiosen Maria Shabashova am Hammerklavier angeführte Continuo, das auch für so manche Überraschung gut ist. Nicht zu vergessen die frischen, wohlgeformt aufeinander bezogenen Tempi und die knackigen Rhythmen. So beginnt die herrliche Musik Mozarts zu sprechen, nimmt sie in ihrer klanglichen Verlebendigung neue Horizonte in den Blick und vermag sie in ungewöhnlicher Intensität zu berühren. Wer Ohren hat zu hören, verlässt den Abend tief bewegt.

Die Friedhofs-Szene gegen Ende des zweiten Akts zum Beispiel. Da verzichtet Romeo Castellucci, wie er es an mancher Stelle des Werks tut, auf das Hergebrachte, auf die Grabmale und die nickende Statue, er zeigt den Friedhof durch ein Tableau an, in dem die schwarz verhüllten Frauen der Bewegungschöre streng geordnete Rechtecke bilden, und überlässt den Raum der Musik. In diesem Augenblick steuern erst das Continuo und später die Stimmführer des Orchesters einen Ausschnitt aus dem Dissonanzen-Quartett Mozarts bei – und schon ist die Atmosphäre da, kann das Finale eingeleitet werden. Das macht staunen. In gleichem Masse übrigens, wie die Kunst von Nadezhda Pavlova bewundert werden kann, die in Salzburg wie damals in Luzern die Donna Anna gibt: als eine grosse Heroin, wenn auch ohne aufgesetztes Pathos. Blendend beherrscht sie die Partie, mit perlenden Läufen, mit perfekter Intonation auch im geraden Ton, mit einem sagenhaften Appell ans Publikum bis hin zu einem expressionistisch zugespitzten Schrei in dem Moment, da sie Don Giovanni als Mörder ihres Vaters erkennt. Angeführt vom Dirigenten, der die Verbindung zwischen dem Vokalen und dem Instrumentalen ebenso emphatisch besorgt wie im Luzerner Konzertsaal, steht das Orchester mit seiner geradezu solistischen Transparenz der Sängerin mit vitaler Zugewandtheit zur Seite.

Erstaunlich auch Michael Spyres. Natürlich erscheint sein Don Ottavio auch hier als der Vertreter der alten, ständischen Ordnung, der sich, letztlich handlungsunfähig, in seine Phantasiewelt verzieht, aber das Weichei, als das er in mancher Produktion von «Don Giovanni» auftritt, ist er nicht. Den grossen Tonumfang der Partie bewältigt er mühelos, jedenfalls besser als die Koloraturen; und wie er seinem Timbre auch heldischen Glanz beizumischen vermag, stellt einen echten Gewinn dar. Als Donna Elvira bringt Federica Lombardi Betroffenheit, aber auch etwas viel Vibrato auf die Bühne. Und alles andere als im Abseits der Nebenrollen der selbstbewusste Masetto von David Steffens und die keineswegs soubrettenhafte, schön konturierte Zerlina von Anna Lucia Richter. Davide Luciano schliesslich als Don Giovanni: ein Energiebündel sondergleichen. Glanz und Metall in der Stimme, Virilität und Agilität im körperlichen Ausdruck lassen keine Wünsche offen. Die Champagnerarie gelingt fabelhaft, auch weil das Orchester hochgefahren und durch Blitzlichtgewitter aus dem Club illuminiert wird. Noch eindrücklicher aber die Verführung Zerlinas, die von hingebungsvoller Zartheit lebt. Dass der Zerlina ein bühnennacktes Double assistiert, das die Beine streckt und anzieht, hat seine Logik, singt die junge Bäuerin doch deutlich genug von ihrem Dilemma – Romeo Castellucci lässt es ebenso unzweideutig wie diskret sehen.

Beethoven mit Currentzis  – und etwas viel Wind

 

Von Peter Hagmann

 

Das Kulturleben ist weitgehend stillgelegt, Oper und Konzert sind so gut wie ausgesetzt – versteht sich: Die Öffentlichkeit, welche die Musik braucht wie wir die Luft zum Atmen, ist noch immer gefährlich. Musikkritik muss daher ausfallen. Allein, stimmt das wirklich? Oder stimmt es vielleicht nur bedingt? In unseren multimedial durchzogenen Tagen kennt die Musik ja auch andere Formen des Daseins, mediale eben. Darum bleibt «Mittwochs um zwölf» fürs erste in Betrieb: mit Home Music, nämlich mit Hinweisen auf empfehlenswerte Neuerscheinungen oder Schätze aus dem Archiv.

 

Die Fünfte mit dem Dirigenten Teodor Currentzis und seinem Orchester MusicAeterna als Auftakt zu einer neuen Gesamteinspielung der neun Sinfonien Ludwig van Beethovens – das hatte das Zeug zu einem Hype. Das Virus hat ihn gebodigt, die physische Publikation der CD wurde hinausgeschoben und ist jetzt, da sie erfolgt ist, im allgemeinen Marktbetrieb untergegangen. Für Sony Classical ist das bedauerlich, von der Sache her erscheint es dagegen als angemessen.

In einem Booklet-Beitrag zu seiner Interpretation schlägt Teodor Currentzis grosse Töne an – das ist seine Art, auf dem Glatteis der Beethoven-Interpretation aber nicht ganz ungefährlich. Dezidiert abheben möchte er sich von der spätromantisch geprägten Tradition, die im grossen Geschäft bis heute dominiert. Das kann man sogleich unterschreiben, die Einspielungen neueren Datums mit Dirigenten wie Andris Nelsons, Christian Thielemann oder Daniel Barenboim zerreissen wahrhaft keine Stricke. Was Currentzis im Gegensatz dazu vorschwebt, ist, wie er schreibt, ein neues Hören, ein neues Erleben, ja kathartische, grundlegend reinigende Wirkung im Zuhörer. Inwieweit die Ambition durch die klingende Realität der CD eingelöst wird, ist eine andere Frage.

MusicAeterna, von Teodor Currentzis 2004 gegründet, von ihm bis heute geleitet und betrieben, agiert bei Beethoven als ein Orchester aus dem Bereich der historisch informierten Aufführungspraxis. Der Stimmton ist leicht abgesenkt, die Artikulation äusserst agil und elegant federnd. Dazu kommt eine technische Fertigkeit, die keinerlei Wünsche offen lässt. Abgesehen vom zweiten Satz halten sich die Tempi ganz selbstverständlich, jedenfalls ohne jede Verkrampfung an die Metronomzahlen, die der Komponist ab 1817 publizieren liess. Das gelingt auch im Kopfsatz, wo das eröffnende Signal keine Spur von Hast zeigt. Allein, die Zeitmasse sind straff durchgezogen, sie bleiben in einem strengen Gleichmass, das wenig Atem lässt und die Musik kaum zum Sprechen bringt – jene kleinen Zäsuren, jene fast unmerklichen Akzente, die Leben schaffen, fehlen so gut wie ganz. Das kleidet den revolutionären Duktus, den Currentzis herauszuarbeiten sucht, in ein Musizieren von stromlinienförmigem Gepräge.

Dazu kommt der auffallende Mischklang. Schön ist er, ganz ausserordentlich schön – man könnte fast an Herbert von Karajan denken. Doch dieser schöne Klang zeigt mässig Relief. Das Scherzo verspricht einiges. Dank der ausgeprägten Kultur des Leisen, die MusicAeterna zu pflegen vermag, entsteht eine Atmosphäre von verschwörerischer Spannung, die Fuge des Trios, in dem von Beethoven gedachten Tempo genommen, lässt die kurz vor der Eruption stehenden Energien spüren – und wie dräuend der Schluss des Satzes ins Finale überleitet, ist grosse Klasse.

Das Finale selbst enttäuscht dann aber. Zum ersten Mal in der Geschichte der Sinfonie werden hier Posaunen eingesetzt, Instrumente aus dem Bereich der französischen Revolutionsmusik etwa von Luigi Cherubini, wie sie auf einer anregenden CD mit dem Orchester der Mailänder Scala und dem dortigen Musikdirektor Riccardo Chailly zu hören ist. Auch Piccolo und Kontrafagott erscheinen erstmals im sinfonischen Kontext. Bei Currentzis ist das kaum zu hören; das Kontrafagott knurrt bisweilen vernehmlich, das Piccolo dagegen tritt kaum heraus, die Posaunen bleiben ins Tutti integriert und machen sich erst gegen Ende des Satzes bemerkbar. Der Schluss freilich mit seinen unendlichen Ausrufezeichen ist grossartig ausgeformt.

Das neue Kapitel in der Interpretation von Beethovens Fünfter wird von Currentzis nicht aufgeschlagen, das taten andere. Auswege aus der spätromantischen Interpretationsästhetik haben avantgardistisch denkende Dirigenten von Arturo Toscanini bis zu Michael Gielen gezeigt, im Bereich der historisch informierten Aufführungspraxis haben seit dem Orchester des 18. Jahrhunderts mit Frans Brüggen – vor immerhin bald vierzig Jahren – zahlreiche Ensembles bemerkenswerte Perspektiven eröffnet. In seinen späten Jahren hat Nikolaus Harnoncourt noch einmal kraftvoll in die Diskussion eingegriffen, und mit seinem Dirigenten Giovanni Antonini hat das Kammerorchester Basel eine Gesamtaufnahme der Sinfonien Beethovens vorgelegt, welche die Latte ausgesprochen hoch gelegt hat. Warten wir ab, wie es bei Teodor Currentzis weitergeht.

Ludwig van Beethoven: Sinfonie Nr. 5 in c-moll op. 67. MusicAeterna, Teodor Currentzis (Leitung). Sony Classical 19075 884972 (CD, Aufnahme 2018, Produktion 2020).

Musik als Theater

Lucerne Festival IV: Mozarts Da Ponte-Zyklus mit Currentzis

 

Von Peter Hagmann

 

Christina Gansch (Zerlina) mit dem Solo-Cellisten von MusicAeterna und Ruben Drole (Masetto) in Mozarts «Don Giovanni» / Bild Peter Fischli, Lucerne Festival

Das Lucerne Festival als ein Ort der Oper? Gewiss – wenn auch nicht so, wie es für die Salzburger Festspiele gilt, wo als Schwerpunkt des Programms vier bis fünf Neuinszenierungen herausgebracht und in einer Mischung zwischen Stagione- und Repertoirebetrieb über Wochen hinweg gezeigt werden. In Luzern dagegen liegt der Akzent nach wie vor bei dem einzigartigen Gipfeltreffen der grossen Orchester der Welt, doch haben unter der Leitung von Michael Haefliger andere Schauplätze an Gewicht erhalten. Zum Beispiel die neue Musik mit der von Mark Sattler betreuten Reihe «Moderne» und der Lucerne Festival Academy, die mit Wolfgang Rihm über eine prominente Galionsfigur verfügt, die im Bereich der Interpretation seit dem abrupten (und bis heute unerklärten) Abgang des Dirigenten und Komponisten Matthias Pintscher jedoch eine spürbare Vakanz aufweist. Einen anderen Schauplatz dieser Art stellt das Musiktheater dar. Seit Haefligers Amtsantritt 1999 findet in Luzern Jahr für Jahr auch Oper statt. Nicht als konventionelle Inszenierung auf der Guckkastenbühne, sondern in den verschiedensten Formen konzertanter und halbszenischer Darbietung. Das mag als Notlösung erscheinen in einem Raum wie dem Konzertsaal im KKL, der sich nicht wirklich zur Bühne umbauen lässt, ist aber weit mehr als das (vgl. dazu NZZ vom 20.07.19).

Oper ohne Bühne

Oper am Lucerne Festival stellt vielmehr den kontinuierlich und phantasievoll vorangetriebenen Versuch dar, dem Musiktheater andere Formen der Existenz zu erschliessen – Formen jenseits des Szenischen. Sie verzichten auf Bühnenbild und Kostüm, auf Bebilderung und optisch wahrnehmbare Interpretation, sie fokussieren auf das rein Musikalische. Dabei tritt zutage, dass der Verzicht auf das Gesamtheitliche von Wort, Musik, Bild und Körpersprache nur auf den ersten Blick einen Verlust mit sich bringt. Bei näherem Zusehen erweist sich nämlich, in welch hohem Mass das Theatrale der Oper allein in der vom Text getragenen Musik lebt. Eine Darbietung, die das Szenische nur andeutet, das Musikalische dafür schärft und in den Vordergrund stellt, führt – so paradox das erscheinen mag – näher an den Gehalt des Kunstwerks heran.

Das hat sich in den konzertanten oder halbszenischen Opernaufführungen beim Lucerne Festival vielfach bestätigt – nicht zuletzt bei der epochalen Wiedergabe von Richard Wagners «Ring des Nibelungen» unter der Leitung von Jonathan Nott im Sommer 2013 oder bei der unvergesslichen Monteverdi-Trilogie mit John Eliot Gardiner von 2017. In dem von Teodor Currentzis geleiteten Zyklus der drei Opern, die Wolfgang Amadeus Mozart und sein Textdichter Lorenzo Da Ponte in den Jahren rund um die Französische Revolution geschaffen haben, ist es erneut und in überwältigender Weise zur Geltung gekommen. Ein fulminanter Schlusspunkt und eine denkbar starke Konkretisierung des Leitgedankens «Macht», unter dem das Luzerner Festival diesen Sommer stand.

Halbszenisch in unterschiedlicher Schattierung

Natürlich gab es an diesen drei restlos ausverkauften Abenden im KKL auch etwas zu sehen – und dies in durchaus unterschiedlichem Mass. Bei «Le nozze di Figaro» – die drei Opern wurden in der Reihenfolge ihrer Entstehung aufgeführt – lag der optische Akzent auf den Kostümen, die diskret, aber unmissverständlich die gesellschaftliche Schichtung und den Verlauf des Geschehen unterstrichen. Der Graf im Smoking, sein Figaro in grobem Tuch – so weit, so klar. Anders die Gräfin und ihre Kammerdienerin Susanna, die als heimlich Verbündete Kleid und Jupe in ähnlicher Farbe trugen, sich mehr noch durch ihre Schuhe unterschieden, die hier hohe, dort tiefe Absätze aufwiesen – was in der Verkleidungsszene zu einem fast unmerklichen Rollentausch genutzt werden konnte.

Bei «Don Giovanni» fehlten solche Elemente. Der Herr und der Diener trugen beide Smoking, eine Art Konzertkleidung, Don Giovanni allerdings einen mit rotem Innenfutter und mit ebenfalls rotem Einstecktuch – dies als Hinweis auf jene gesellschaftlichen Unterschiede, die durch Leporello entschieden relativiert werden. Beim nächtlichen Mittelstück der Trilogie wurde dafür mehr mit Lichtwirkungen gearbeitet – bis hin zu jener vollständigen Dunkelheit, in welcher der Auftritt des Dirigenten erfolgte. Der steinerne Komtur im weissen Dinner Jacket vor den leer gelassenen Sitzreihen der Orgelempore verfehlte seine Wirkung nicht.

«Così fan tutte» schliesslich erschien am stärksten den Konventionen verpflichtet. Dort wurde gestisch doch ziemlich auf den Putz gehauen und durften für die beiden Verkleidungsszenen, für die Auftritte Despinas als Doktor und als Notar, weder das Erste-Hilfe-Köfferchen noch das allgemeine Zittern, weder der Talar noch das näselnde Singen fehlen – leider, muss man sagen. An allen drei Abenden aber nutzten die Regisseurin Nina Vorobyova, die Kostümbildnerin Svetlana Grischenkova und der Lichtdesigner Alexey Koroshev, die sich dem Publikum nicht zeigten, den engen Raum zwischen dem Orchester und dem Podiumsrand geschickt aus. Und sorgten in allen drei komischen Opern für erheiternde Momente – etwa dort, wo Figaro als scheinbar verspäteter Konzertbesucher bei schon laufender Ouvertüre seinen Platz sucht, um dann singend das Podium zu erklimmen.

Historische Praxis 3.0

Wie in all den Luzerner Opernabenden halbszenischer Art blieb mächtig Raum für die Musik, für ihre hochgradig intensivierte Darbietung und ihre dementsprechend gesteigerte Wahrnehmung. Teodor Currentzis, kompromisslos und umstritten, war hier genau der Richtige. Seine Prämisse ist unüberhörbar die historisch informierte Aufführungspraxis, wie sie durch Nikolaus Harnoncourt vor einem guten halben Jahrhundert neu angestossen worden und wie sie heute, beträchtlich weiterentwickelt, so etwas wie Allgemeingut geworden ist. Anders als bei Mozarts «Idomeneo» an den Salzburger Festspielen dieses Jahres (vgl. «Mittwochs um zwölf» vom 14.08.19), bei dem das Freiburger Barockorchester einen sagenhaften Auftritt hatte, stand Currentzis in Luzern vor Chor und Orchester der von ihm begründeten, inzwischen nicht mehr mit der Oper Perm verbundenen, sondern selbständigen, privat finanzierten Formation MusicAeterna.

Mit seinen 33 Mitgliedern verbreitet der Chor dank klar zeichnender, nicht durch übermässiges Vibrato beeinträchtigter Linienführung bemerkenswerte Leuchtkraft. Das klein besetzte Orchester wiederum verwendet auf dem tiefen Stimmton von 430 Hertz Instrumente nach der Art des ausgehenden 18. Jahrhunderts und die dazu gehörigen Spielweisen: Streicher mit Darmsaiten (aber nicht Barockbögen), Bläser in enger Mensur und ohne die heute üblichen Ventile, Pauken mit reinen Holzschlägeln. Was die historisch informierte Aufführungspraxis hervorgebracht hat, versteht sich hier von selbst und gilt als Basis. Die Streicher spielen nicht immer, aber in der Regel ohne Vibrato, was die Dissonanzen schärft und deren Auflösung in die Konsonanz stärker als gewöhnlich empfinden lässt. Ebenso hörbar wird die Belebung, die von der nuancierten Artikulation und der kleinteiligen, klar am Sprachverlauf orientierten Phrasierung ausgeht. Das alles auf technisch höchstem Niveau: Was dieses Orchester an Agilität und Präzision im hochgetriebenen Prestissimo zu leisten vermag, lässt immer wieder staunen.

Es erlaubt Teodor Currentzis, dem Akrobaten auf dem Dirigentenpodium, den musikalischen Ausdruck ganz unerhört zuzuspitzen: im Leisen wie im Lauten, im Schnellen wie im Langsamen. Er gehört damit zu den (mehr oder weniger) Jungen Wilden der klassischen Musik, wie sie von der Geigerin Patricia Kopatchinskaja prominent vertreten werden. Mit seiner zum Teil erschreckend harschen Attacke, dem reinen Gegenteil der apollinischen Verklärung Mozarts in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg, schliesst Currentzis durchaus an Harnoncourt an. Zugleich nutzt er aber auch die vielen Freiheiten, die noch von Harnoncourt selbst, besonders aber von seinen Nachfolgern entdeckt und verbreitet wurden. Die Tempi werden nicht einfach im Gleichschlag durchgezogen, sondern vielmehr reichaltig und ganz dem expressiven Moment entsprechend nuanciert – was durchaus neueren Erkenntnissen der Interpretationsforschung entspricht. Und wie es René Jacobs tut, setzt Currentzis auf einen sehr vitalen, sehr präsenten Basso continuo – nicht nur in den Rezitativen, sondern überall. Was Marija Shabashova am Hammerklavier mit ihren witzigen Anspielungen, was der Lautenist Israel Golani und der Cellist Alexander Prozorov in Luzern hören liessen, war von hohem Reiz.

Dazu kommt, dass in der Mozart-Da Ponte-Trilogie des Lucerne Festival nicht nur das Instrumentale, sondern auch das Vokale dem aktuellen Stand des Wissen entsprach – nicht bei allen Mitgliedern der drei Ensembles, aber doch bei vielen. Dass bei zwei gleich hoch liegenden Tönen Appogiaturen gemacht, dass in wiederholten Teilen Verzierungen angebracht und unter den grossen Fermaten Kadenzen eingefügt werden können, war ebenso selbstverständlich wie das unterschiedlich gestaltete Vibrato und die vokale Formung aus dem Text heraus, also mit Hebung und Senkung sprechend und nicht, wie zu Karajans und Böhms Zeiten, auf die weit gespannte Linie und das durchgehende Legato hin ausgerichtet. Mit einigen Sängerinnen und Sängern scheint Currentzis intensiv gearbeitet zu haben, andere animierte er durch seine ungewöhnliche, durchaus gewöhnungsbedürftige körperliche Präsenz auf dem Podium. Wie überhaupt durch jene Nähe zwischen den Akteuren, die der Konzertsaal bietet, eine Verzahnung von Vokalem und Instrumentalem entstand, wie sie selten genug zu erleben ist.

Glanzpunkte, Schwachstellen

Der langen Vorrede kurzer Sinn: Die drei Luzerner Abende mit Mozart und Da Ponte waren ein hinreissendes Erlebnis. Sie zeigten, dass Oper auch jenseits der Bühne Oper sein kann. Und wie Musik allein zu Theater werden kann – dann nämlich, wenn das Ausdruckspotential der Partituren so explizit genutzt wird, wie es Teodor Currentzis tat. Vor allem aber waren die Darbietungen von glanzvollen vokalen Leistungen getragen; sie liessen nicht zuletzt erkennen, wie sehr die drei unerhört aufmüpfigen Opern Mozarts in ein und dieselbe Richtung weisen und wie individuelle Züge sie zugleich tragen. Im «Figaro» von 1786, dessen Ouvertüre nicht elegant tänzelnd, sondern vorrevolutionär rasselnd erklang, gab es neben dem souveränen, wenn auch etwas routinierten Figaro von Alex Esposito die herrlich schillernde Susanna von Olga Kulchynska sowie neben dem etwas unverbindlichen Grafen von Andrei Bondarenko die sehr innige, in ihrer Weise ehrliche Gräfin von Ekaterina Scherbachenko mit ihrem üppigen Vibrato und ihrem reichen Portamento. Vor allem kamen in diesem Stück die kleineren Rollen ans Licht: der Cherubino von Paula Murrihy und die zarte Barbarina von Fanie Antonelou, die auf der CD-Einspielung mit Currentzis die Susanna singt. Schade nur, dass hier die Übertitel pauschal blieben – zu pauschal für eine Interpretation, die so ausgeprägt aus dem Text hervorwuchs.

Auch in dem nächtlichen «Don Giovanni» von 1787 traten zwei Partien heraus, die gewöhnlich etwas im Schatten bleiben. In der Stimme quirlig, aber auf Distanz zum Soubrettenton, und in der Körpersprache geschmeidig, bot Christina Gansch einen sehr differenzierten Blick auf die junge Bäuerin Zerlina, im Geist eine Schwester der Susanna. Als ein besonders starrköpfiger Masetto hatte Ruben Drole einen prächtigen Auftritt; sein kraftvoller Bass liess das Vorhaben Masettos, den ihn bedrängenden Lüstling um die Ecke zu bringen, als durchaus glaubhaft erscheinen. Auffallend, dass Kyle Ketelsen als aufbegehrender Diener Leporello ähnlich unscharfes Profil gewann wie Figaro am Abend zuvor. Umso ansprechender dafür Dimitris Tiliakos als ein nicht mit metallener Virilität agierender, sondern ausgesprochen lyrisch angelegter Don Giovanni. In «La ci darem la mano» liess er gegenüber Zerlina seine ganzen Verführungskünste spielen, während die Champagner-Arie erwartungsgemäss überschäumend geriet. Vor allem aber schlug hier die Stunde von Nadezhda Pavlova, die mit ihrer grossartigen Singkunst die Figur der Donna Anna zu einem geradezu expressionistisch zugespitzten Charakter machte. Witzig, dass die Oper, wie es Mozart für die Wiener Zweitaufführung von 1788 vorgesehen hatte, mit dem Untergang des Protagonisten zu enden schien, was verunsicherten Beifall auslöste – dass das finale Sextett dann aber doch noch nachgereicht wurde, freilich als Oktett unter tatkräftiger Mitwirkung der beiden Toten.

Weniger überzeugend «Così fan tutte» von Anfang 1790. Zum einen der halbszenischen Einrichtung wegen, die doch etwas grobkörnig geraten war. Zum anderen darum, weil Cecilia Bartoli in der Partie der Despina als Star vorgeführt wurde und sich auch so gab – beides wollte nicht so recht ins Konzept passen. Zumal ihr halsbrecherisches Parlando nach wie vor stupend wirkte, die stimmliche Kontrolle an diesem Abend aber nicht restlos gegeben war. Auch nicht ganz auf der Höhe Konstantin Wolff als Don Alfonso; der philosophierende Strippenzieher war hier ein junger Mensch wie seine vier Opfer, er litt unter einem etwas bedeckten Timbre und blieb gerne auf den Schlusssilben sitzen, was im Umfeld dieser Produktion besonders als altmodisch auffiel. Neben Paul Murrihy (Dorabella), die das im «Figaro» erreichte Niveau würdig hielt, fiel noch einmal Nadezhda Pavlova auf, die als Fiordiligi fabelhafte Sicherheit in den Sprüngen, wunderschöne Rubato-Kunst, spannende Verzierungen und grandiose Koloraturen zum Besten gab. Und von dem etwas röhrenden Guglielmo von Konstantin Suchkov hob sich der Ferrando von Mingjie Lei angenehm ab; seine Arie «Un’ aura amorosa» aus dem ersten Akt geriet zu einem Meisterstück vokal-instrumentalen Konzertierens.

Eine gewaltige Reise war das, eine von erschöpfender Kraft und nachhaltiger Denkwürdigkeit. Einmal mehr erwies sich, dass das Lucerne Festival auch für Anhänger des Musiktheaters eine Destination sein kann.

Männermacht und Frauenleid

Salzburger Festspiele (I): Opern von Mozart, Cherubini und Enescu

 

Von Peter Hagmann

 

Die künstlerisch hochstehende Interpretation, sie versteht sich in Salzburg von selbst. Für die Begegnung mit selten gespielten, zu Unrecht verkannten Werken gilt das schon weniger. Beides zusammen aber, und dies in enger dramaturgischer Verzahnung und mit zwingendem Blick auf die Welt unserer Tage – das sind die Salzburger Festspiele im dritten Jahr der Intendanz von Markus Hinterhäuser. «Der Mythos» wölbt sich als Leitgedanke über das im Zentrum der Festspiele stehende Opernprogramm. Elektra und Medea, Ödipus und Orpheus treten auf, das durch Neptun verkörperte Meer bringt Flut und Zerstörung oder löscht lodernde Flammen. Das klingt nach solider Bildungsbürgerlichkeit, ist aber das reine Gegenteil davon. Natürlich bilden die mythologischen Erzählungen, wie Hinterhäuser sagt, «das Archiv unserer Welterkenntnis». Ebensosehr verhandeln sie aber Grundfragen menschlicher Existenz: unser Verhältnis zu den Mächten der Natur, unser Umgang miteinander. Da wird, was auf den ersten Blick als klassisches Erbe erscheinen mag, mit einem Mal zur reinen Gegenwart.

«Idomeneo»

Paula Murrihy als Idamante / Bild Ruth Walz, Salzburger Festspiele

Schon gleich in Wolfgang Amadeus Mozarts «Idomeneo», der Eröffnungsproduktion dieses Jahres, trat das zutage. Denn am Regiepult stand, wie vor zwei Jahren bei Mozarts «Clemenza di Tito», Peter Sellars. Der amerikanische Bühnenkünstler sieht «Idomeneo» als ein Stück über den Klimawandel und den an ihm ausbrechenden Generationenkonflikt wie über die Flüchtlingskrise. Die von George Tsypin für die Salzburger Felsenreitschule konzipierte Bühne ist verstellt von grösseren und kleineren Gegenständen aus Plastik; sie erinnern an das drängende Abfallproblem, aber auch an die Tierwelt der Ozeane, der vom Menschen so nachhaltig Schaden zugefügt wird. Und drastisch wird die trojanische Prinzessin Ilia, die von der Chinesin Ying Fang feinfühlig gesungen wird, durch den Kostümbildner Robby Duiveman als eine Flüchtlingsfrau gezeigt, die in einer hochnotpeinlichen Verhörsituation ihr Leid klagt. Idamante freilich, der junge griechische Königssohn, der die Trojanerin liebt, schenkt den Kriegsgefangenen die Freiheit und läutet damit einen tiefgreifenden gesellschaftlichen Umbruch ein – die Irin Paula Murrihy zeigt in dieser für einen Kastraten geschriebenen Partie eindrückliches vokales Potential.

Fürs erste scheitert Idamante jedoch, denn Idomeneo – Russell Thomas leidet auch in dieser Partie unter einer engen Höhe – mag nichts von der Verständigung wissen. Fest hält er die Zügel in der Hand, wovon nicht zuletzt seine elegante Galauniform zeugt. Er hadert mit Neptun (Jonathan Nemalu), dem er zum Preis für die Errettung aus der tobenden Flut den ersten Menschen, dem er am Ufer begegnen werde, als Opfer versprochen hat – und dieses versprochene Opfer ist sein Sohn Idamante. Keinen Sinn hat er auch für die Liebe Idamantes zu Ilia, er hält vielmehr fest an der Verlobung seines Sohnes mit der griechischen Adligen Elettra, die sich aber getäuscht sehen wird – und da sind wir beim Glanzpunkt des Abends. Denn was Nicole Chevalier, die Violetta in der singulären Luzerner Produktion von Giuseppe Verdis «Traviata», an Bühnenpräsenz, dramatischer Ausstrahlung und stimmlicher Agilität einbringt, ist von hinreissender Wirkung. Dass Elettra an ihrer Wut nicht zugrunde geht, sondern sich folgsam ins Ensemble zurückzieht, stellt nur eine der Merkwürdigkeiten der Inszenierung dar. Mehr als das der Aufklärung verbundene Weltbild Mozarts scheint sie mir die gutmenschliche Grundhaltung des Regisseurs zur Geltung zu bringen.

Was dem Abend jedoch einzigartiges Profil verleiht, ist seine instrumentale Seite. Wie schon vor zwei Jahren ist als Dirigent Teodor Currentzis verpflichtet. Er steht allerdings nicht vor der MusicAeterna, der von ihm 2004 in Nowosibirsk gegründeten Formation, sondern vor dem Freiburger Barockorchester, dem ein sensationeller Auftritt gelingt. Herrlich der Klang der ohne Vibrato gespielten, in tiefer Stimmung gehaltenen Darmsaiten, zumal bei den vielen Liegetönen im Hintergrund, wunderbar die Tempi, gerade in der subtil überpunktiert genommenen Ouvertüre und in den Märschen, berührend die sensibel ausgeformten Übergänge. Die Akzente fallen so, wie sie bei Currentzis fallen: scharf und pointiert; aber in keinem Augenblick verliert sich etwas von der eigenartigen Wärme, die das Orchester erzielt. Auffallend auch der virtuose Generalbass mit dem Lautenisten Andrew Maginley und, vor allem, mit Marija Shabashova am Hammerklavier, die sich in der von Currentzis eingeschobenen Konzertarie «Ch’io mi scordi di te?» (KV 505) besonders profiliert. Sehr eigenartig dagegen der Gestentanz des aus Samao stammenden Choreographen Lemi Ponifasio, der zur abschliessenden Ballettmusik gezeigt wird.

«Médée»

Elena Stikhina (Médée) mit ihren beiden Kindern, links Pavel Černoch (Jason) / Bild Thomas Aurin, Salzburger Festspiele

«Idomeneo» nimmt, was die Beliebtheit beim Publikum betrifft, einen hinteren Rang ein. Erst recht gilt das für «Médée», die düstere Oper von Luigi Cherubini – die im Salzburger Grossen Festspielhaus nun allerdings zu einer unerhört spannenden Auslegung gekommen ist. Das Werk des in Frankreich naturalisierten Italieners – es erklingt in der französischsprachigen Originalfassung von 1797, allerdings ohne die dort vorgesehenen Sprechtexte – wird gemieden, weil seine musikalische Faktur als sperrig gilt und weil die Titelrolle besetzt ist durch den Geist von Maria Callas, die in dieser Partie ihren Höhepunkt an Identifikation und Ausstrahlung gefunden hat. Auch die Salzburger Festspiele hatten diesbezüglich ein Problem. Denn Sonya Yoncheva, die vielversprechende Wahl für die Rolle der Médée, hatte ihr Engagement zurücklegen müssen, weil sie in wenigen Wochen ein Kind zur Welt bringen wird. An ihre Stelle trat die junge Russin Elena Stikhina, die ihre Aufgabe auf hohem Niveau gemeistert hat. Ihr vokales Expansionsvermögen und ihr expressives Temperament versahen die komplexe Persönlichkeit, als die Medea in der Oper Cherubinis erscheint, mit fasslichen Zügen. Und zugleich passte ihre stimmliche Wärme genau zu dem Deutungsansatz, den der Regisseur Simon Stone im Sinn hatte.

Als die Ouvertüre anhob, setzten auch die vom Regisseur erstellten Filmsequenzen in Schwarz-Weiss ein – was sich einmal mehr als problematisch erwies. Auf die Musik Cherubinis muss man sich einlassen können, zumal in der Auslegung durch die Wiener Philharmoniker und den Dirigenten Thomas Hengelbrock, die den klassizistischen Duktus in keiner Weise beschönigten, ja ihn durch die sorgfältige Ausleuchtung der strukturellen und klangfarblichen Details noch unterstrichen. Die bewegten Filmsequenzen, welche die Gesichter sehr stark heranholten, forderten da jenes Zuviel an Aufmerksamkeit ein, das im bildlastigen Regietheater üblich ist. Allein, je weiter der Abend voranschritt, desto logischer erschienen die filmischen Einschübe. Jedenfalls wirkte, was sich Simon Stone zusammen mit dem Bühnenbildner Bob Cousins und der Kostümbildnerin Mel Page für diese anspruchsvolle Produktion erdacht haben, so eindringlich, dass die Parameter der Aufführung rasch zu neuer Ordnung fanden.

Stones Auslegung holt das das Geschehen aus der Vorzeit des Mythos heraus und versetzt es radikal in die Gegenwart – so wie es der Regisseur in jener erweiterten Neufassung der «Medea» des Euripides getan hat, die vor einem halben Jahr im Wiener Burgtheater zu sehen war: ein unglaublich bedrückender, weil in schneidender Schärfe gehaltener Abend, der von der überragenden Hauptdarstellerin Caroline Peters geprägt war. In diesem szenischen Projekt richtet Stone das Beziehungsgeflecht so ein, dass Medea jeder Zug ins Pathologische abgeht. Sie erscheint vielmehr als eine ganz normale junge Frau und Mutter, die ihrem Gatten Jason in vertrauensvoller Liebe zugetan ist. Die aber auch als brillante Forscherin Aufmerksamkeit erregt – mehr Aufmerksamkeit als der auf demselben Gebiet tätige Jason. Die Gattin um einige Zentimeter höher als der Gatte, damit hat Jason ein Problem. Er wendet sich der Tochter des Firmenchefs zu und wechselt damit in eine Liaison, die nicht nur eine neue Partnerschaft ohne Kinder, sondern auch steile Aufstiegschancen in Aussicht stellt. Womit die Dinge ihren schrecklichen Lauf nehmen – bis hin zu jenem Schlusspunkt, da Medea das gemeinsame Einfamilienhaus mitsamt der zwei Kinder in Flammen setzt.

Genau so zeigt Simon Stone die Médée Cherubinis: als eine Liebende, die nichtsahnend aus hohem Lebensstandard ins Nichts abstürzt. Am Ende bleiben der Ausländerin, die ihren Aufenthaltsstatus verloren hat und gehen musste, nichts als die verzweifelten Sprachnachrichten auf die Combox des Ex-Gatten, die Amira Casar aus dem Off vorträgt. Jason wiederum, Pavel Černoch lässt das überzeugender sehen, als er es singt, wird als das Ekel vom Dienst vorgestellt. Er ist nicht nur scharf auf Dircé (Rosa Feola), so heisst die Tochter des Königs von Korinth bei Cherubini, zwischendurch vergnügt er sich auch mit Damen anderer Art. Während Créon in seinen perfekt sitzenden Anzügen ganz der unerbittliche Machthaber ist – dank seinem sonoren Bass und seiner furchterregenden Körpersprache gelingt Vitalij Kowaljow hier ein grandioses Rollenporträt. In scharfem Realismus und zum Teil schauerlichen Bildern wird die Geschichte von Medea und Jason als eine durchaus heutige erzählt. Die Audienz, in der Medea dem finsteren Kreon das Aufenthaltsrecht für einen Tag abringt, wird als eine vom Fernsehen live übertragene Szene am Flughafen gezeigt, die Wiederbegegnung der Mutter mit ihren Kindern an einer tristen Bushaltestelle, das Ende mit dem Mietwagen an einer Zapfsäule, der Medea vor den Augen Jasons und einer entsetzten Menge das zur Selbstverbrennung benötigte Benzin entnimmt. Das sind Bilder, die sich einbrennen, der Mythos tritt einem bedrohlich nahe. Der Musik Cherubinis freilich bleibt am Ende vielleicht doch zu wenig Raum.

«Œdipe»

John Tomlinson (Tirésias) und Christopher Maltman (Œdipe) / Bild Monika Rittershaus, Salzburger Festspiele

Das ist bei «Œdipe», der über lange Jahrzehnte hinweg entstandenen Oper des rumänischen Violinvirtuosen und Komponisten George Enescu, entschieden nicht der Fall. Dafür sorgt zusammen mit den Wiener Philharmonikern, mit der Konzertvereinigung Wiener Staatsopernchor und einem erstklassig besetzten Ensemble der Dirigent Ingo Metzmacher, der sich mit der ihm eigenen Energie in die Partitur hineingekniet hat und sie nicht nur in voller Länge, sondern auch in aller Farbenpracht erstehen lässt. Nein, «auferstehen» muss man sagen, denn «Œdipe», 1936 in der Pariser Oper aus der Taufe gehoben, wird ausserordentlich selten gespielt. Und wird noch viel seltener in einer so überwältigenden szenischen Fassung gezeigt, wie sie der immerhin 85 Jahre alte Theaterzauberer Achim Freyer auf die Bühne der Salzburger Felsenreitschule gebracht hat.

Auch in Enescus Oper tritt Kreon in Erscheinung; es ist zwar nicht Kreon von Korinth, sondern Kreon von Theben (Brian Mulligan), aber auch der ist ein undurchsichtiger Intrigant. Im Zentrum steht freilich Ödipus, dessen Leben von der Geburt bis zum Tod erzählt wird – vom Aufwachsen als Findelkind, vom Mord am nicht erkannten Vater und der Ehe mit der ebensowenig erkannten Mutter, vom Sieg über die Sphinx und von der Zeit als König in Theben bis hin zum Niedergang als Folge der Aufdeckung all der in Unwissenheit begangenen Untaten – ja bis hin zu der, so wollten es Enescu und sein Librettist Edmond Fleg, Verklärung im Tod. Auch hier findet der Mythos lebendige Präsenz, nur geschieht es auf ganz andere Art. Achim Freyer, der wie stets Inszenierung und Ausstattung aus einem Guss gestaltet hat, versetzt die Vita des Ödipus in seine Phantasiewelt, die von übergrossen Gestalten in ausladenden Kostümen bevölkert ist und durch Requisiten in starken Farben bereichert wird. Im weit ausgreifenden Eröffnungsakt, der allein den Freudengesängen rund um die Geburt des Ödipus gilt, liegt Baby Œdipe mit Riesenschädel noch auf dem Rücken und versucht strampelnd, auf die Beine zu kommen – Katha Platz macht das grossartig. Bald schon tritt aber, verkörpert durch den noch immer mit Donnerstimme versehenen Altmeister John Tomlinson, der blinde Seher Tirésias auf und verkündet das drohende Unheil, dem die Sehenden blind entgegeneilen. Inszenierung nicht als Interpretation, wie sie Simon Stone unternimmt, sondern als assoziatives Ins-Bild-Setzen, dies freilich auf allerhöchstem Niveau.

Schon ist Œdipe erwachsen, und schon schlägt die Stunde von Christopher Maltman, dem dieser Auftritt zur Sternstunde gerät. Unglaublich kernig sein Bariton, dabei sorgsam abgestuft in Timbre und Dynamik, dank gepflegter Diktion auch so gut wie jederzeit verständlich. Freyer lässt ihn als Ur-Mann erscheinen, als muskelprotzender Boxer, dem man an keiner Kreuzung in den Weg geraten möchte. Mit den blossen Fäusten erledigt er seinen Vater Laïos (Michael Colvin) und dessen Begleiter; nach jedem Schlag auf eines der Boxkissen, die aus dem Bühnenhimmel heruntergeschwebt sind, erhält er einen dicken Boxerhandschuh – so rot wie der grosse rote Schuh, der als szenisches Erinnerungsmotiv aus mancher Inszenierung Achim Freyers bekannt ist. Hier mag es der Schuh seiner Gattin und Mutter Jocaste (Anaïk Morel) sein, der ihm als Retter und König seiner Vaterstadt zukommt. Als solcher ist Œdipe die Macht selbst – Freyer denkt und arbeitet zwar als bildender Künstler, ist aber genau so viel Theatermann, der in Zusammenarbeit mit seinen Darstellern starke Bühnenfiguren schafft. Eine solche Figur ist die Sphinx (Eve-Maud Hubeaux), ein Monsterkasten von Frau, dem nach der Überwältigung durch Œdipe dann aber eine kleine Person mit Riesenbrüsten entsteigt.

Sehr schön gegliedert die Massenszenen, brillant eingesetzt die Arkaden der Felsenreitschule – und das alles nicht nur in nächtlichem Schwarz, sondern auch in ganz natürlich wirkender Zeitlupe. So, wie die weiten Bögen, in denen Ingo Metzmacher atmet, sich gleichsam von selbst entfalten. Ganz ruhig gleitet der Dirigent durch die riesige Partitur, und die Wiener Philharmoniker antworten ihm mit einem klanglichen Reichtum sondergleichen. Übrigens auch mit einem Fortissimo in denkbar schönster Kraftentfaltung – was sie, wie an diesem Ort schon mehrfach zu erleben war, nicht allen Dirigenten schenken. Ein Meilenstein, dieser Abend; wenn Festspiele einen Sinn finden, dann in einer Produktion wie dieser. In ihrer enormen Ausstrahlung, auch ihrer glücklichen Verbindung zwischen dem Musikalischen und dem Szenischen erinnert sie an «Saint-François d’Assise» von Olivier Messiaen im Sommer 1992, dem ersten Jahr unter der Leitung von Gerard Mortier und Hans Landesmann. Damals standen zwei junge Leute mit etwas speziellen Ideen vor der Tür zur Direktionsetage. Einer von ihnen wirkt heute als Intendant der Salzburger Festspiele.

Tschaikowskys «Pathétique» – subjektiv und textgetreu

Eine Neuaufnahme mit dem Dirigenten Teodor Currentzis

 

Von Peter Hagmann

 

Im Fall von Peter Tschaikowskys Sinfonie Nr. 6, der «Pathétique», galt (und gilt) die Aufnahme, die Jewgeny Mrawinsky 1982 mit den damaligen Leningrader Philharmonikern erarbeitet hat, als das Mass aller Dinge. Jetzt hat diese legendäre Einspielung Konkurrenz erhalten. Wie das im russischen Perm domizilierte Orchester Music Aeterna und sein griechischer Dirigent Teodor Currentzis dieses düstere, nur selten durch lichtere Momente aufgehellte Werk Klang werden lassen, setzt neue Massstäbe. Spieltechnisch lässt die bei Sony erschienene Interpretation keinen Wunsch offen; das Orchester agiert mit stupender Wachheit, zudem mit einem weiten dynamischen Spektrum und einer Vielfalt an Klangfarben, die von den ersten Takten an aufhorchen lassen. Dazu kommt eine Aufnahmetechnik, die ein ungewöhnliches Mass an Transparenz erzielt und so tief ins Innere der Partitur hineinhorchen lässt, ohne dass der Blick auf das grosse Ganze verloren ginge.

Gleich im eröffnenden Adagio fällt ins Ohr, von welchem Pianissimo aus das Geschehen in Fahrt kommt, wie subtil der Klang abgestuft ist und welch kernige Pracht die hier geteilten Bratschen entfalten. Im Allegro tritt dann zutage, wie vielgestaltig Currentzis das Orchester artikulieren lässt – ohne Zweifel eine Frucht der Beschäftigung mit älterer Musik. Ob die Noten Punkte tragen, ob Punkte unter Bögen oder Bögen allein, das macht einen Unterschied, der im philharmonisch homogenisierenden Klang leicht untergeht, der hier aber packende gestische Deutlichkeit schafft. Zudem ist das Orchester in deutscher Art aufgestellt, mit den Ersten und den Zweiten Geigen links und rechts vom Dirigenten, das lässt die Aufnahmetechnik nach Massen hören; bisweilen ist fast wie in einer Raumklang-Installation nachzuvollziehen, wie die Motive durch das Orchester wandern. Das wirft Licht auf die kompositorische Faktur, die hier deutlicher wahrgenommen werden kann als in Aufnahmen, die auf die emotionale Wirkung allein setzen.

An Emotionalität fehlt es Currentzis, was Wunder, allerdings keineswegs. Nicht zuletzt äussert sich das in den Tempi und deren durchaus subjektiver Ausgestaltung. Den mit «molto moderato» überschriebenen Abschnitt im ersten Satz nimmt der Dirigent äusserst getragen; die rhythmisch pointierte Begleitfigur in den hohen Streichern hebt er deutlich hervor, was enorm Spannung erzeugt, die Pauke klingt trocken und weist auf drohendes Ungemach voraus, worauf das Orchester in ein fünffaches Piano absteigt, das sich im nicht mehr Hörbaren verliert. Und dann: eine Explosion, die einen förmlich vom Stuhl reisst; krachend die Bögen, das Tempo hochgetrieben, zugespitzt die klanglichen Ballungen, wobei die einzelnen Instrumentalfarben jederzeit erkennbar bleiben – bewundernswert, was das Orchester, aufgepeitscht von seinem zischenden und fauchenden Dirigenten, hier leistet.

Tatsächlich «con grazia» kommt das Allegro des zweiten Satzes daher. In der Eleganz des 5/4-Taktes bilden der weite Atem der Phrasierungen und die schlechterdings sensationelle Kantabilität der Violinen die zentrale Attraktion. Einen scharfen Kontrast dazu schafft dann das Allegro molto des dritten Satzes. Förmlich vom Boden abspringend die Energie, unerbittlich durchgezogen der Verlauf, das Schicksalsmotiv von einer Schärfe sondergleichen. Nicht erst hier, hier aber ganz besonders kann man an Jewgeny Mrawinsky denken – doch setzt Currentzis die Blechbläser weit weniger krass in Szene, als es der grosse Russe tat. Und die Aufnahmetechnik, die für reichlich Hall sorgt, tut das Ihre dazu, indem sie das Blech auf Distanz hält. Martialisch wie bei Mrawinsky wird es bei Currentzis nie.

Höhepunkt ist auch in dieser Aufnahme das Finale, das sich emotional wie klanglich enorm verdichtet. Auf die Tränendrüse gedrückt wird freilich nirgends. Das ist ja das Besondere an Teodor Currentzis: Er stellt sich als Inbegriff des Exzentrikers dar, der dazu neigt, manche Passage, die vom Komponisten schon explizit genug erfunden wurde, doppelt zu unterstreichen. Tatsächlich kann man sich da und dort fragen, ob das Stück diese Art der interpretatorischen Tautologie benötige, und rasch ist das natürlich verneint, wir sind ja nicht mehr dort, wo sich die Interpreten des frühen 20. Jahrhunderts aufhielten. Wer jedoch genau zuhört und vielleicht gar einen Blick in den Notentext wagt, wird sogleich feststellen, dass Currentzis bei allem Subjektivismus einen gleichsam modernen Ansatz verfolgt. An Fett fehlt es hier vollkommen, was dominiert, ist die Struktur. Wenn dann aber die gestopften Hörner ihre messerscharf schneidenden Klänge von sich geben, ist ein Moment des Erschreckens nicht zu vermeiden.

Peter Tschaikowsky: Sinfonie Nr. 6. Music Aeterna, Teodor Currentzis (Leitung). Sony 88985404352 (1 CD).

Geist der Erneuerung, Lust an der Debatte

Salzburger Festspiele I – Mozarts «Clemenza di Tito» zur Eröffnung des Opernprogramms

Von Peter Hagmann

 

Mozarts «Clemenza di Tito» in Salzburg mit Florian Schuele (Bassettklarinette) und Marianne Crebassa (Sesto) / Bild Ruth Walz, Salzburger Festspiele

 

Dass die Salzburger Festspiele 2017, die erste Ausgabe unter der Gesamtleitung von Markus Hinterhäuser, ihr Opernprogramm mit «La clemenza di Tito» eröffneten, hat seine eigene Logik. Die Oper Wolfgang Amadeus Mozarts stand 1992, als Gerard Mortier als Intendant und Hans Landesmann als Geschäftsführer und Konzertdirektor die Salzburger Festspiele neu auszurichten begannen, an dritter Stelle im Opernprogramm – nach «Aus einem Totenhaus» von Leoš Janáček und der unvergesslichen Produktion von Olivier Messiaens Riesen-Oper «Saint-François d’Assise». Mit der Wahl von «La clemenza di Tito» verbeugt sich Hinterhäuser vor seinen Vorgängern, in deren Ära er selbst in die Welt der Salzburger Festspiele hineingewachsen ist – damals mit dem «Zeitfluss», dem Festival im Festival, das Mortier und Landesmann um so lieber in ihr Programm aufnahmen, als sie in seinem Anliegen viel von ihren ästhetischen und gesellschaftlichen Auffassungen wiederfanden. Zugleich zeigt sich in der Entscheidung für diese etwas abseits vom Kanon stehende Oper Mozarts, welcher Geist an den Salzburger Festspielen in den kommenden Jahren wieder herrschen soll. Es ist der Geist der ästhetischen Erneuerung und der inhaltlichen Debatte – deutlicher könnte der Kontrast zur jüngeren Vergangenheit der Festspiele nicht ausfallen.

Im Zeichen der Rückkehr zu einer qualifizierten Vorstellung dessen, was ein Festival sein soll, stehen auch die Namen auf dem Programmzettel. Für die Inszenierung von «La clemenza di Tito» kehrten der Regisseur Peter Sellars und der Bühnenbildner George Tsypin nach Salzburg zurück, die in der Ära Mortier/Landesmann für manchen Akzent gesorgt hatten. Und die musikalische Leitung hatte Teodor Currentzis übernommen, der mit den vokalen und instrumentalen Kräften von MusicAeterna aus dem russischen Perm angereist war. Gewiss, auch Peter Ruzicka hatte seine fünfjährige Intendanz 2003 mit Mozarts «Titus» eröffnet, und auch er hatte mit Nikolaus Harnoncourt einen prominenten, von Salzburg lange ferngehaltenen Vertreter der historisch informierten Aufführungspraxis ans Pult gebeten. Currentzis jedoch steht für eine Enkelgeneration der Arbeit mit alten Instrumenten und den ihnen entsprechenden Spielweisen, vor allem aber für einen pointierten Umgang mit den Notentexten und eine eigenwillige Expressivität. Widerspruch tut sich da keiner auf. Wenn die historisch informierte Aufführungspraxis zu den Quellen zurückging, so tat sie das, um dem schrankenlosen Subjektivismus zu entgehen, den die Interpreten der Spätromantik kultiviert hatten, und um andererseits dem scheinbar objektiven Musizieren entgegenzutreten, das sich nach dem Zweiten Weltkrieg als das Mass aller Dinge etabliert hatte. Interpretation war aber auch im Bereich der historischen Praxis stets eingeschlossen, denn ohne Interpretation keine Musik.

Und interpretiert wird in der neuen Salzburger Produktion von «La clemenza di Tito» sehr ausgeprägt. Das von Mozart in allerhöchstem Auftrag komponierte und unter grösstem Zeitdruck zu Papier gebrachte Werk, das im Herbst 1791 anlässlich der Prager Krönungsfeierlichkeiten für den Habsburger Leopold II. zur Uraufführung kam, erscheint hier in keinem Augenblick als die feierliche Huldigungsoper, als die es gemeint sein mochte. Sellars und Currentzis haben sich dem Libretto von Caterino Tommaso Mazzolà zugewandt und es auf die Veränderungen hin geprüft, die Mozarts Textdichter an seiner Vorlage, einem von 1734 stammenden Libretto Pietro Metastasios, vorgenommen hat. Auf dieser Basis stellen sie «La clemenza di Tito» als Hohelied der Aufklärung heraus; sie zeigen, wie subtil und zugleich eindeutig das Werk Einspruch erhebt gegen die Prinzipien der absolutistischen Herrschaft – Leopold II. ist in der Geschichte ja als der Übergangskaiser bekannt, der viele der gesellschaftlichen Lockerungen, die sein 1790 verstorbener Bruder Joseph II. eingeführt hatte, wieder rückgängig gemacht hat. Machtausübung und Unterdrückung, so sehen Sellars und Currentzis die Botschaft der Oper, führe unweigerlich zu Gewalt; nur das Prinzip der Gleichheit aller Menschen und gegenseitiger Respekt liessen ein gedeihliches Zusammenleben entstehen. Das Loblied auf die Güte des Herrschers demnach als Aufforderung an ihn.

Und als Aufforderung an uns alle, die wir diese Jetztzeit bewohnen. Sellars siedelt «La clemenza di Tito» auf der abstrakt gehaltenen Bühne der Salzburger Felsenreitschule nicht in der fernen Antike an, sondern in der Gegenwart der Menschenströme und der Terroranschläge. Der (übrigens wieder ganz ausgezeichnete) Chor erscheint in den Kostümen von Robby Duiveman als eine Gruppe von Flüchtlingen, wie sie jeden Tag an einer Grenze erscheinen. Tito Vespasiano, der von Russell Thomas mit leuchtendem Timbre, aber wenig Koloraturensicherheit gesungen wird, ist kein Kaiser, sondern ein Präsident von heute mit Publio (der würdige Willard White) als seinem Sicherheitschef. Von Vitellia, einer auch in dieser Produktion exaltierten, von Golda Schultz mit etwas viel Druck gegebenen Frau, welche die Aufmerksamkeit des Herrschers als Zeichen der Liebe missversteht und sich zurückgesetzt fühlt, geht der Aufruf zur Gewalt aus, den Sesto (die sängerisch wie darstellerisch hinreissende Marianne Crebassa) zusammen mit einer Gruppe junger Rucksackträger ausführt. Titus wird schwer verwundet; anders als im originalen Text kämpft er im zweiten der zwei Akte auf einem mächtigen Spitalbett um sein Leben, erliegt am Ende aber seinen Verletzungen. Die Oper mündet in Salzburg also in schwarzes c-moll – und in einen Abgesang auf die Werte der Aufklärung?

Sellars Deutung fordert einige Verrenkungen, zu denen man stehen kann, wie man will. Die Aufrechterhaltung der dramaturgischen Stringenz erfordert zudem musikalische Eingriffe, die man goutieren kann oder nicht. Legitim sind sie aber vielleicht allemal; nicht nur war das im 18. Jahrhundert gängige Praxis, Mozart selbst hat, weil er unter so starkem Zeitdruck stand, für die Rezitative die Hilfe Franz Xaver Süssmayrs in Anspruch genommen. Die Zutaten von fremder Hand wollten Sellars und Currentzis entfernen, sie haben dafür Teile aus der c-moll-Messe, Adagio und Fuge in c-moll und einen Abschnitt aus der Maurerischen Trauermusik eingefügt. Das hatte zuallererst einen beinah subversiven Effekt – insofern nämlich, als auf Anhieb hörbar wurde, um wie viel die eingeschobene Musik in der kompositorischen Substanz die Oper überragt. Das wurde durch die Interpretation noch unterstrichen. Im Kyrie aus der c-moll-Messe, das zu Beginn des zweiten Akts erklang, liess einen die Sopranistin Jeanine De Bique, in der Oper mit der Partie des Annio betraut, durch ihr grossartiges Zurücknehmen von Spitzentönen geradezu den Atem anhalten. Indes gab es auch in der Oper selbst tief berührende Momente. Etwa das Duett zwischen Annio und Servilia, bei dem die junge Sopranistin Christina Gansch durch den Liebreiz ihrer Stimme, die Mühelosigkeit in der Höhe und die Sicherheit in den Koloraturen berückte. Oder die grosse Arie des Sesto im ersten Akt, für die sich Florian Schuele mit seiner Bassettklarinette auf die Bühne begab.

Durch die Einschübe ergab sich allerdings eine Tendenz zum Sakralen, die sich als ironisierende Überhöhung verstehen liess, die aber auch eine Spur Kitsch enthielt. Wenn der Kaiser ohne Zorn auf Servilia verzichtet und dann durch das «Laudamus te» aus der c-moll-Messe verherrlicht wird – wie soll man sich da fühlen? Auch macht es sich Peter Sellars, der im Programmbuch sehr anregend über seine Arbeit nachdenkt, wohl doch etwas zu einfach, wenn er behauptet, hinter jedem Sprengstoffgürtel stecke ein Problem der mangelnden Wahrnehmung; es gibt ja auch den blinden, fanatischen Hass und die Gehirnwäsche. Dessen ungeachtet setzt die Begegnung mit «La clemenza di Tito» in Salzburg, die ein hohes Mass an sinnlicher Erfüllung bringt, den Denkapparat mächtig in Gang. Das ist, was Markus Hinterhäuser schon immer gesucht hat, auch im «Zeitfluss», auch in den Programmen, die er als Konzertdirektor entworfen hat. Und was sich im Opernspielplan der Salzburger Festspiele 2017 vorbildlich verwirklicht. «Macht» heisst das Thema dieses Sommers. Mozarts späte Opera seria hat dazu eine so vielschichtige wie eindeutige Wortmeldung abgegeben.

«Die Entführung ohne Serail», aber mit Mozart

 

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Allein unterwegs: Belmonte (Pavol Breslik) in der Zürcher «Entführung» / Bild Opernhaus Zürich, T+T Fotografie

 

Peter Hagmann

Der Mann als solcher

Mozarts «Entführung aus dem Serail» im Opernhaus Zürich

 

Keine Sorge, das Opernhaus Zürich benötigt in den kommenden Wochen und Monaten keinen besonderen Schutz. Es bringt zwar Wolfgang Amadeus Mozarts Oper «Die Entführung aus dem Serail», in der es auch um die verschiedenen Gesichter des Islam geht, doch davon ist an diesem Abend nicht die Rede. Es ist überhaupt nicht die Rede. Vom Libretto wird Mozarts Oper zwar ein «Singspiel in drey Akten» genannt, in Zürich aber ist der Sprechtext von Christoph Friedrich Bretzner in der Einrichtung von Johann Gottlieb Stefanie dem Jüngeren – zur Gänze gestrichen. Umstandslos folgen sich die insgesamt 21 Arien, Ensembles und Chöre. Verbunden werden sie durch das szenische Geschehen, das vollkommen stumm bleibt, vor allem aber durch die eigenartigen Geräusche von Malte Preuss; ihr Summen und Brummen erinnert an die «Truckera», jenes Hintergrundrauschen, das John Cage für seine «Europeras» ersonnen hat, indem er Hunderte von Opernaufnahmen aufeinanderlegte und zu einer Art Lastwagenlärm vermengte.

Stummes Singspiel

Das ist nun die reine Gegenposition zu der Aufnahme von Mozarts «Entführung», die der Dirigent René Jacobs 2014 für Harmonia mundi erstellt hat (http://www.peterhagmann.com/?p=781). Im Gegensatz zur landläufigen Auffassung von Regisseuren glaubt Jacobs nicht nur an den Sprechtext der «Entführung», er gewinnt ihm sogar vieles ab, gerade weil er von den Sängern, selbst von den fremdsprachigen, so ungeheuer gut, nämlich konkret und fasslich gesprochen wird. Das Stück wird da jedenfalls ungeheuer, wenn auch unaufdringlich aktuell. Für derlei Ansätze hat eine Oper wie die in Zürich weder Sinn noch Zeit. Zudem ist mit David Herrmann ein junger Regisseur gerufen worden, der seine eigene Geschichte, nicht die Mozarts, erzählen möchte – und damit den Reflexions- und Erkenntnisprozess rund um «Die Entführung aus dem Serail» zu bereichern gedenkt. Das ist sein Recht, wenn nicht sogar seine Pflicht, denn auch Regisseure sind Interpreten – selbst dann, wenn sie bloss illustrieren. Die kleine Frage ist einfach, was von Mozarts Werk noch übrig bleibt, wenn seine eine Hälfte kurzerhand weggelassen und durch Erfindungen des Regisseurs ersetzt wird. Mozart? Herrmann?

Von Vorteil ist immerhin, dass durch den Ansatz David Herrmanns «Die Entführung aus dem Serail» aus der Islam-Debatte dieser Tage gelöst wird. Als Mozart das Stück schrieb, bildeten die Belagerung Wiens durch die Türken und die damit verbundenen Grausamkeiten noch absolut Teil des kollektiven Gedächtnisses. Der Klang der türkischen Schlaginstrumente bis hin zum Schellenbaum evozierte mehr oder weniger lustvolles Schaudern. Heute stehen wir an einem ganz anderen Ort, hat die Diskussion um den Islam und seine Auslegungen in Theorie und Praxis ganz andere Dimensionen angenommen. David Herrmann belässt es dabei, die couleur locale des Türkischen in Anspielungen und szenischen Randbemerkungen anklingen zu lassen: sie durch eine Kette arabischer Schriftzeichen zu evozieren, durch einen kurzen Auftritt von Choristen in Burkas und durch einen Anklang an Szenenbilder aus dem Theaterlexikon, ein liebevolles, sanft brechendes Zitat gegen Schluss der Oper. Das ist hic et nunc wohl doch eine sehr vertretbare Lösung.

Selbst der Bassa ist kein Pascha, zumal er ja nicht spricht. Er wird von Sam Louwyck verkörpert – und das in wörtlichem Sinn, denn der belgische Schauspieler, schlank, gross gewachsen, viril und agil, verfügt über eine sagenhafte szenische Präsenz. Er ist das, wovor sich Belmonte fürchtet, er ist jener Andere, der seiner Konstanze vielleicht auch noch gefiele. Womit angedeutet ist, was die Zürcher «Entführung» verhandelt: nicht die «Entführung», sondern Belmonte, seine Schwierigkeiten mit sich selber und sein Problem mit den Frauen. Nein, man muss noch einen Schritt weiterdenken: Es geht mehr noch um den Mann ganz allgemein, den Mann unserer Tage und seine heikle Befindlichkeit – denn Pedrillo und seine Blonde sind von der Kostümbildnerin Esther Geremus aufs Haar gleich eingekleidet. Beide Männer tragen die gleichen grauen Anzüge heutigen Schnitts, beide Frauen dieselben violetten Kleider. Der Unterschied zwischen dem hohen Paar und dem niederen der Diener ist eliminiert, die beiden Paare sind sozial so nivelliert, wie es diesen Tagen entspricht. Und von den beiden Männern ist der eine wie der andere: Hasenfuss und Grossmaul zugleich.

«Die Entführung aus dem Serail» demnach als Versuch, die Geschichte ganz aus der Sicht Belmontes zu erzählen, als seine ganz persönliche Imagination. Seinen Ausgang nimmt der Abend von dem Quartett am Ende des zweiten Akts, in dem die Fragilität der Beziehungen bei den beiden Paaren unverstellt ans Licht kommt. Das vermeintliche Gerücht, von dem Belmonte dort singt, ist der erste Satz. Er platzt mitten in die Ouvertüre hinein, und ausgesprochen wird er in einem gut besuchten Restaurant. Konstanze und Belmonte sitzen sich gegenüber; ihre Körpersprache lässt keinen Zweifel an der dicken Luft, die zwischen ihnen herrscht. «Man sagt», hebt er an, «nun weiter», antwortet sie – und dann schiesst es aus ihm heraus: «dass du die Geliebte des Bassa seist.» Worauf sie ihm ihr Mineralwasser ins Gesicht schleudert, sich erhebt sich und in der Toilette verschwindet: auf Nimmerwiedersehen.

Das ist das Trauma, aus dem sich im weiteren Verlauf die Geschichte eines fortwährenden Suchens, eines ängstlichen Beobachtens, eines selbstquälerischen Vermutens entwickelt – und das am Ende zur Wiederkehr des Anfangs führt. Wie auf einer Geisterbahn geht es zu. Zum surrenden Geräusch zwischen den Arien dreht sich die spektakuläre, in aller Einlässlichkeit ausgestaltete Bühne von Bettina Meyer, auf der das Öffentliche des Restaurants vom Privaten eines Schlafgemachs durch eine schmale Gasse zwischen hohen weissen Vorhängen getrennt ist. Und wie im Spiegelkabinett stösst Belmonte gegen Türen, die verschlossen bleiben, wo sie sich doch eben noch geöffnet haben, und tapst er an grosse Glasfenster, die ihn Dinge sehen lassen, die er besser nicht sähe.

Wunschkonzert mit Niveau

Das ist alles zum Teil sehr witzig angelegt und hochvirtuos durchgeführt – an guter Unterhaltung fehlt es nicht. Dennoch bleibt die Frage nach der Plausibilität; dies nicht zuletzt unter dem Eindruck, dass sich das Szenische wieder einmal verselbständigt und sich das Werk für die eigenen Interessen zunutze gemacht habe. Ist Belmonte tatsächlich die Hauptfigur, als den ihn die Inszenierung portiert? Ist er nicht vielmehr Teil eines von Mozart und seinen Librettisten sehr sorgfältig austarierten Ensembles, das durch den interpretatorischen Zugriff in Schräglage gerät? Oder dient er gar als Projektionsfläche für den Regisseur? Anlass zum Zweifel ist der Umstand, dass die dramatis personae für sich selbst genommen nicht wirklich das Profil erhalten, das ihnen der Komponist entwickelt hat.

Pavol Breslik vermeidet erfolgreich jede Larmoyanz, sein Belmonte bleibt aber trotz aller szenischen Präsenz mehr Figur als Charakter. Dasselbe gilt, logischerweise und abgewandelt, für Pedrillo als der Doppelgänger Belmontes, obwohl (oder gerade weil) Michael Laurenz sich während der Vorbereitungen zur Flucht polternd Mut macht. Dass diese Arie, in der sich Pedrillo frisch zum Kampfe ruft, ein heikles Unterfangen beschwört, den Versuch nämlich, den meist als Oberkellner kaschierten, allgegenwärtigen Aufpasser Osmin lahmzulegen und dann die beiden Damen zu befreien, das macht die Bühne nicht deutlich, man muss es wissen oder sich das Wissen vor der Vorstellung aneignen: Mozarts «Entführung» für Eingeweihte? Im übrigen ist der bedrohlich garstige Osmin von Nahuel Di Pierro neben seinem stummen Dienstherrn der einzige Mann vor Ort, der Biss hat. Äusserst klangvoll seine Stimme, fest in ihrer Tiefe verankert, dabei aber nie orgelnd – da könnte einem schon bang werden, gäbe er sich nicht am Ende als Theatertürke mit ordentlichem Krummsäbel zu erkennen.

Konturierter wirken die beiden Frauen – vor allem Konstanze. Olga Peretyatko für diese Partie zu verpflichten, war nicht ohne Risiko; ihre wunderbare Stimme hat Dimensionen angenommen, die über ein Kammerspiel wie die «Entführung» deutlich hinausreichen. Zwischendurch gibt sie ordentlich Gas, bleibt dabei aber doch stets im Rahmen der Gesamtbalance. Jedenfalls stören die Spitzen nicht, sie unterstreichen vielmehr den emanzipatorischen Zug, der in ihrer Figur angelegt ist – und was sie an technischen Wundern in ihren Auftritt einbaut, darf echt bewundert werden. Befremdlich nur, dass sie ihre beiden grossen Arien des zweiten Akts, die eine in g-moll und die Martern-Arie in C-dur, unvermittelt hintereinander zu singen hat – da führt sich des Regisseurs Versuch ad absurdum. Schade auch, dass Claire de Sévigné mit ihrem hellen, aber durchaus körperhaften Timbre die Blonde zur automatisch getriebenen Puppe machen muss. Das denunziert diese Erscheinung, die als Frau wie als Dienerin doch eigentlich einen doppelten Befreiungsversuch wagt.

Zum Schluss der Premiere schenkte das Publikum dem Bühnenteam ein heftiges Buh-Konzert, das hat in Zürich inzwischen wieder Tradition. Beim Erscheinen des Dirigenten gab es keinen Widerstand, dabei hat dieser schmächtige Junge in seinem zu grossen Anzug nicht weniger persönlich interpretiert und nicht weniger an den Rezeptionsmustern gekratzt als der Regisseur und seine Kolleginnen. Maxim Emelyanychev heisst der junge Mann; er ist kurzfristig in die Stelle von Teodor Currentzis getreten, der aus gesundheitlichen Gründen von seiner Mitwirkung hatte absehen müssen. Historisch informierte Aufführungspraxis ist hier kein Programm, sondern gelebtes Leben. Man hört es der Scintilla an, der Barockformation des Zürcher Opernhauses mit ihren alten Instrumenten, die so herrlich farbig klingen. Man entnahm es auch Einzelheiten wie den phantasievoll ausgeführten Kadenzen oder den Trillern, die nicht einfach ausgelassen, sondern explizit ausgeführt wurden – nämlich oft mit dem zugespitzt verlängerten Nebenton angefangen und dann brillant gesteigert wurden. Und an manchen Stellen hat der junge Dirigent Tempi angeschlagen, die im wörtlichen Sinn aufhorchen liessen. Wenn «Die Entführung aus dem Serail» auf der Zürcher Bühne ihren Boden verliert und zum szenisch aufgepeppten Wunschkonzert wird, so tut sie das doch auf denkbar anregendem Niveau.

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La Scintilla – respektive die Bläserformation des Orchesters, die sich La Scintilla die fiati nennt – hat Mozarts «Entführung» bei Solo Musica (im Vertrieb von Sony) auf CD aufgenommen, dies in der ausnehmend schönen Bearbeitung für Harmoniemusik aus der Fürstlich Fürstenbergischen Hofbibliothek in Donaueschingen. Sehr zu empfehlen.

«Macbeth» in Zürich

 

Verfolger und Verfolgter: Macbeth (Markus Brück) auf der Zürcher Bühne / Bild Monika Rittershaus, Opernhaus Zürich

 

Peter Hagmann

Ehrgeiz, Machtrausch und Verfolgungswahn

Verdis «Macbeth» mit Teodor Currentzis und Barrie Kosky am Opernhaus Zürich

 

Zu sehen gibt es da rein gar nichts. Oder, konkreter und korrekter, nur sehr wenig. Dabei befinden wir uns doch im Opernhaus Zürich und in einem Stück musikalischen Theaters. Doch der Regisseur Barrie Kosky wollte «Macbeth», die Oper Giuseppe Verdis, als ein Geschehen zeigen, das sich allein im Innern der beiden Protagonisten abspielt: als eine Geschichte von Ehrgeiz, Machtrausch und Verfolgungswahn. Eben genau so, wie er das Stück hört. Kosky, der Nachfolger Andreas Homokis an der Komischen Oper Berlin und ein Theatertier voller unkonventioneller Ideen, empfindet «Macbeth» nicht als ein Schauerstück voll von Mord und Totschlag; die schauerlichen Kämpfe, von denen Shakespeare berichtet, spielen sich für ihn vielmehr als psychische Reflexe ab. Diesen durchaus subjektiv interpretierenden, aber gerade darum hochinteressanten Ansatz bringt er mit hinreissender Konsequenz und einer Radikalität sondergleichen auf die Bühne.

Klangwunder aus dem schwarzen Loch

Auf eine Bühne, die ein schwarzes Loch ist. Klaus Grünberg, der auch die ungewöhnliche, mit überraschen Effekten aufwartende Beleuchtung konzipierte, machte das Spielfeld zu einem ansteigenden, sich im Unendlichen verlierenden Tunnel, der an den beiden Seiten durch kurze, dämmerig glühende Lichtsäulen begrenzt wird. Den Vordergrund beherrscht eine mächtige, hier tief, dort höher hängende Dose, aus der trüber Schein fällt; das Licht erhellt den dramatischen Ort, der allein durch zwei karge Holzstühle markiert ist. Jeder Anschein von Realismus ist da getilgt. Es gibt keinen Aufzug des amtierenden Königs, der kurze Zeit nach seiner Ankunft von Gastgeber erschlagen wird, kein grosses Fest, an dem sich der Mörder blossstellt, kein Schlafzimmer, in dem die furchterregende Strippenzieherin schliesslich doch die Contenance verliert. Allein die Hexen werden eine Spur fassbarer – aber doch nicht wirklich, ist dieser als Schemen erscheinende Bewegungschor doch aus nackten Wesen gebildet, die Mann und Frau zugleich sind. Alles, was das grosse Bild erzeugt, kommt aus dem Dunkel des Hintergrunds und der Bühnenseiten, und das rein akustisch, dafür effektvoll in den Raum rund ums Publikum gesetzt.

So erscheint «Macbeth» hier als ein veritables dramma in musica – und das heisst, dass das Instrumentale, durchaus der Partitur gemäss, nicht begleitende, untermalende Funktion erfüllt, sondern zu einem zentralen Parameter wird. Ebenso sehr, wie es die Darsteller auf der Bühne tun, ist es das Orchester, das die Geschichte erzählt – die Philharmonia Zürich tut das brillant: mit aufgerauhten Klängen, beissend scharf bisweilen, aber auch flüsterleise. Kein Wunder, am Pult steht nämlich Teodor Currentzis, der Grieche aus Russland oder der Russe griechischer Herkunft, der seiner aufschiessenden musikalischen Phantasie freien Lauf lässt. Wüst stellte sich Verdi seine Oper vor, und er bezog das in erster Linie auf die vokale Darstellung. Currentzis, mit seinem Ensemble Musica Aeterna als ein wilder, ja frecher Vertreter der historisch informierten Aufführungspraxis bekannt geworden, nimmt sich das für seine Aufgaben nicht weniger radikal zu Herzen, als es der Regisseur auf seinem Feld tut.

Er geht Verdis Musik aus dem Geist ihrer Entstehungszeit an und lässt sie gerade darum ganz heutig wirken. Das Spiel ohne Vibrato zum Beispiel, für das Zürcher Opernorchester eine Selbstverständlichkeit, gehört absolut dazu – und mehr noch: es wir dazu einem der wirkungsvollsten Ausdrucksmittel. Ganz gläsern können da die Klänge werden, und sie nehmen dabei eine Bedrohlichkeit sondergleichen ein. Dazu kommen noch nie gehörte Effekte, etwa ein Flüstern des Chors gleichzeitig zu seinem Singen oder ein Gejohle des Volks, in dem die hinter Bühne agierende Band völlig untergeht. Nicht zuletzt aber die Vielfalt der Artikulation, auch der Unterscheidung zwischen schweren und leichten Tönen, sowie die Spannweite in der Wahl der Tempi – alles mit dem Ziel, die Musik Verdis in einem Zustand fiebriger Erregung klingen zu lassen. Das alles weitaus freier, souveräner als in der Pariser Produktion von 2009, die auf DVD vorliegt. Man muss es gehört haben, um es zu begreifen.

Extrem und schön zugleich

Wie auf der Bühne gesungen wird, steht dem in keiner Weise nach. Der grosse Chor des leidenden Volkes, mit dem Verdi an seinen Erfolg mit «Nabucco» anzuschliessen suchte, wird vom Chor und dem Zusatzchor der Oper Zürich zu einer Eindringlichkeit gebracht, die das legitime Anliegen des Moments und die Fragwürdigkeit seiner Umsetzung in gleicher Weise fühlbar macht. Und die beiden Protagonisten kommen dem, was sich Verdi an Verbindung zwischen dem Extremen und dem Schönen gedacht haben mag, in packender Weise nahe. Was besonders darum beeindruckt, da die schwarzen, durchgehend gleich geschnittenen Kostüme von Klaus Bruns nicht die Individualitäten unterstreichen, sondern vielmehr die Figuren als Chiffren stehen lassen. Um so effektvoller, wenn Lady Macbeth im Schlafzimmer in unschuldigem Weiss und Macbeth am Ende in seinem verschmutzten Unterhemd als eine Art Saddam Hussein nach dem Herauskommen aus dem Erdloch erscheinen.

Als Lady Macbeth bringt Tatiana Serjan einen in der Tiefe ruhenden, opulent leuchtenden Sopran ein, der keinen Zweifel daran lässt, wer in diesem Haushalt die Hosen trägt. Die Schlafwandlerszene zeigt dann aber grossartig, wie nahe Stärke und Schwäche nebeneinander liegen können. Umgekehrt ist Macbeth hier ganz aufbrausender Schwächling. Etwas kleiner als seine Gattin und gern mit rundem Rücken sitzend, hängt er sich an den Rocksaum der Frau, die für ihn eher eine Mutter zu sein scheint – eine horribel strenge Mutter, in deren Schlafzimmer sich der Sohn/Gatte nicht mehr wagt. Markus Brück verkörpert das darstellerisch grandios, und sein vielfarbiger, kraftvoller Bariton erlaubt ihm, das Körpersprachliche ungeschmälert hörbar zu machen. Dazu kommen bei ihm eine stilistische Versatilität und eine derart idiomatische Diktion, das man ihn geradewegs für einen geborenen Italiener halten könnte. Nicht weniger überzeugend sind in dieser Produktion die kleineren Partien besetzt, etwa der Banco von Wenwei Zhang, der Macduff von Pavol Breslik, der Malcolm von Airam Hernandez oder die Kammerfrau von Ivana Rusko.

Gegen Ende gibt es sogar noch etwas zu sehen, etwas durchaus Spektakuläres. Es sind fünf Krähen, die den Abgang des Schreckenspaars begleiten. Zunächst hält man sie für echt und runzelt angesichts des Tierschutzes die Stirn; wie sie jedoch so ungerührt dasitzen und dann ihre Schnäbel in einer Weise öffnen, als setzten sie zum Singen an, blickt man durch und erkennt eine stupende Leistung der Abteilung Theaterplastik der Zürcher Oper. Und einen genialen dramaturgischen Trick. In einem Zug sind die drei Stunden dieses Abends vorbei: in einer Aufführung, die nicht anders als weltstädtisch genannt zu werden verdient.