Türkisch, aber sehr anders

Mozarts «Entführung» mit Luk Perceval in Genf

 

Von Peter Hagmann

 

Belmonte und Konstanze mit ihren Begleitern in Genf / Bild Carole Parodi, Grand Théâtre de Genève

Guten Gewissens lasse sich «Die Entführung aus dem Serail» nicht mehr auf den Spielplan setzen, so eine weit verbreitete Ansicht. Sie betrifft natürlich nicht die Musik Wolfgang Amadeus Mozarts, wohl aber das Libretto von Johann Gottlieb Stephanie dem Jüngeren. Vom Mohrenland ist dort die Rede, von einem türkischen Harem wird berichtet, in dem ein lächerlich furchterregender Moslem zwei junge Frauen christlichen Glaubens gefangen hält, von einem grossmütigen Herrscher, der für eine andere, eine aufgeklärte Art Islam steht – und das alles vorgetragen im Ton einer harmlosen Komödie. Dass die durch Triangel und Glockenspiel unterstrichene Munterkeit auf Missverständnissen beruht, die weniger mit dem Stück als mit lange Zeit gängiger Aufführungspraxis zu tun hat, darauf hat Nikolaus Harnoncourt schon vor vierzig Jahren hingewiesen.

Für Aviel Cahn, der nach zehn Jahren erfolgreicher Tätigkeit an der Spitze der Oper von Antwerpen und Gent die Leitung des Genfer Grand Théâtre übernommen hat und dort durch alle Fenster frische Luft einziehen lässt (vgl. «Mittwochs um zwölf» vom 06.05.19) – für Aviel Cahn ist eine Produktion der «Entführung» im Massstab eins zu eins ausgeschlossen. Turban, Pluderhose und Krummsäbel verblieben im Fundus, die Begegnung mit dem gefährlichen Türken vor den Toren der Stadt der belagerten Stadt Wien, der all jenen, deren er habhaft werden konnte, umstandslos den Kopf abschlagen liess, fand nicht statt. Das Stück erfuhr vielmehr eine zugespitzte, äusserst persönliche Interpretation – denn für die Inszenierung war kein Geringerer als Luk Perceval verpflichtet, der wie von ihm erwartet aus dem Singspiel des 18. Jahrhunderts ein szenisches Projekt der Jetztzeit machte. Und dies nicht nur mit Billigung, sondern mit aktiver Unterstützung des Dirigenten Fabio Biondi, der ans Pult des Orchestre de la Suisse Romande trat und dort für neue Töne sorgte. Das für seine konservative Haltung bekannte Genfer Premierenpublikum mochte das nicht goutieren; der Protest, der dem szenischen Team galt, war einhellig und heftig.

Ganz unverständlich ist es nicht. So undenkbar eine «Entführung» alten Stils heute ist, so wenig hat die Genfer «Entführung» neuen Stils mit der Oper Mozarts zu tun. Ausgelassen sind nicht nur zwei Arien Osmins und da Finale, gestrichen ist auch der gesamte Sprechtext, der im Singspiel an die Stelle der Rezitative tritt und das inhaltliche Gerüst der Oper bildet. Genau gleich war es bei der Produktion von Mozarts «Entführung» 2016 in der Oper Zürich (vgl. «Mittwochs um zwölf» vom 09.11.16), und so sind jetzt auch in Genf die Probleme dieselben wie damals. Auch wenn in beiden Produktionen der gestrichene Sprechtext durch Einfügungen anderer Art ersetzt wurde, so ergab sich doch hier wie dort der Eindruck, einem Arienabend beizuwohnen oder einen der zur Langspielplattenzeit beliebten Querschnitte aus dem Lautsprecher zu vernehmen. Wenn im zweiten Aufzug nach «Traurigkeit ward mir zum Lose», der Arie der Konstanze, unvermittelt die ebenfalls von ihr gesungene Martern-Arie folgt, fehlt eben doch, was die Abfolge der beiden musikalischen Nummern verständlich macht: die an Konstanze gerichtete Frage des Bassa Selim, ob sie sich nun für ihn habe entscheiden können.

Auf der anderen Seite denkt man natürlich mit wenig Vergnügen an die Sprechtexte, die bisweilen von des Deutschen unkundigen Sängern geradebrecht wurden. Das ist in der Genfer «Entführung» nicht der Fall. Dort wird zwar auch gesprochen, das aber in herrlichstem, über Lautsprecher verstärktem Französisch – und zwar von vier Schauspielern, die als Doubles zu den Hauptfiguren Konstanze und Belmonte, Blonde und Osmin treten. Françoise Vercruyssen, Joris Bultynck, Iris Tenge und Patrice Luc Doumeyrou denken in meist stillen Monologen über ihr Gestern, ihr Heute, ihr Morgen nach und setzen die Gedanken überaus eindrücklich in Körpersprache um. Bultynck, der als alt gewordener Belmonte auftritt, lässt das Aufziehen der Gebrechlichkeit herzerweichend sehen, während Doumeyrou den Osmin, mit Gipsfuss im Rollstuhl sitzend, als einen wildgewordenen, jeder Hemmung baren Randständigen zur Geltung bringt.

Verhandelt werden in der Inszenierung Luk Percevals neben einer enormen Fülle zeitgeistiger Anspielungen zwei der Themen, die von der «Entführung» angesprochen werden: die Entfremdung, zum Beispiel durch das erzwungene Exil, in das sich Konstanze und Blonde getrieben sehen, und die Sehnsucht, sei es die nach dem fernen, fehlenden Partner, sei es die nach einem inneren Kern des Daseins. Perceval übt scharfe Gesellschaftskritik – Kritik an der Hektik eines Lebens, in dem unablässig gestrebt wird: nach Erfolg und Anerkennung, nach Geld und Einfluss. So rennen in der Choreographie von Ted Stoffer die Mitglieder eines Bewegungschors ohne Unterlass um den monströsen, in seinem Innern mit einer strengen Anordnung von Tischen und Bänken versehenen Holzturm, den der Ausstatter Philipp Bussmann auf die ebenfalls intensiv genutzte Drehbühne gestellt hat. Sie haben keine Zeit für nichts, jeder ist für sich, das Alleinsein in der Masse greift um sich – Einsamkeit als Zeichen der Zeit. Die Hektik auf der Bühne steht allerdings in eigenartigem Gegensatz zu den Texten der türkischen, im deutschen Exil lebenden Autorin Aslı Erdoğan, die dem Regisseur ihren Roman «Der wundersame Mandarin» zur Verfügung gestellt hat. Aus diesem Band stammen die Texte zwischen, bisweilen auch zu den Arien und Ensembles. Da wäre es wieder, das Türkische, allerdings nicht im Gewand des reizvoll Exotischen.

Die Texte von Aslı Erdoğan erzeugen eine emotionale Anmutung von ausserordentlicher Stärke – nur: mit Mozart und seiner «Entführung» haben sie bloss am Rand zu tun. Sie nehmen Motive aus Mozarts Oper auf und fügen sie zu einem Bild ganz eigener Kraft – was so anregend wie problematisch ist. Dass nicht ganz untergeht, was an einem Abend mit Mozarts Oper die Hauptsache sein sollte, dafür sorgt der Dirigent Fabio Biondi. Mit einer Liebe sondergleichen geht er die Partitur an. Noch und noch dringt er in unerhörte Dimensionen des Ausdrucks vor, nuanciert er die Tempi, dass man einem atmenden, will sagen: lebendigen Körper gegenüberzustehen glaubt – das reine Gegenteil zu der mechanistischen, ja autistischen Herangehensweise, die Christian Curnyn bei Mozarts «Figaro» in Basel pflegt (vgl. «Mittwochs um zwölf» vom 22.01.20). Zugleich hat er das erstaunlich tief im Graben sitzende, weich artikulierende und warm klingende Orchester so aufgestellt, dass die couleur locale, wie sie sich im Schlagwerk äussert, zurückgedrängt wird zugunsten der kontrapunktischen Momente, die auch diese Partitur reich beleben.

Auf solcher Basis können sich die Sängerinnen und Sänger aufs Schönste entfalten. Als Konstanze bringt Olga Pudova, die aus der Schule des Marinsky-Theaters kommt, einen im Timbre fest gefügten, zugleich leichten, beweglichen und stilistisch sicher geführten Sopran ein – ihre fulminante Auslegung der Martern-Arie bildet gewiss den Höhepunkt des Abends. Ganz anders, wie es die Rolle eben verlangt, Claire de Sévigné als Blonde: eine helle Stimme und quicklebendige Darstellerin. Belmonte dagegen wirkt eigenartig zurückhaltend – vielleicht darum, weil Julien Behr seinen ebenmässigen Tenor doch zu sehr aufs Legato ausrichtet, was in diesem musikalischen Umfeld retrospektiv wirkt. Denzil Delaere meistert die einzige Arie des Pedrillo untadelig. Herausragend indessen Nahuel de Pierro, der einen sehr gezügelten, fast artifiziellen Osmin geben kann und dabei sein tiefes D sonor klingen lässt.

Da die originalen Sprechtexte getilgt sind, darf Bassa Selim zu Hause bleiben. Darum entfallen auch das finale Quintett und der Huldigungschor auf den gnädigen Herrscher. An ihre Stelle hat Fabio Biondi ein Duett Mozarts («An die Hoffnung», KV 309) und Ausschnitte aus «Ascanio in Alba» gesetzt, die dem melancholischen Abend ein stilles Ende setzen.

Szenenwechsel in Genf

Aviel Cahn übernimmt die Leitung des Grand Théâtre

 

Von Peter Hagmann

 

Über das Grand Théâtre müsse gesprochen werden, sagt Aviel Cahn. Ein simpler Satz. Ein wichtiger Satz.

Für den 44-jährigen Zürcher, der vom kommenden Herbst an die Genfer Haus leiten wird und jetzt sein Programm vorgestellt hat, bedeutet er: Oper ist Musiktheater. Und Musiktheater ist eine Kunstform, die sich nicht an die oberen Zehntausend richtet, die sich nicht in der Welt der Vergangenheit vergräbt, die nicht der emotionalen Ersatzbefriedigung dient und nicht aus dem Gesang allein lebt. Musiktheater ist vielmehr eine Kunstform, die in der Gegenwart steht und auf sie reagiert, die für alle da ist, auch für jene, die sie mit Argwohn verfolgen. Das sind keine Worthülsen – Cahn hat es deutlich gemacht in den letzten zehn Jahren, die er an der Spitze der Flämischen Oper mit ihren beiden prächtigen Häusern in Antwerpen und Gent verbracht hat. Zu Recht ist die von Cahn aus dem Dornröschenschlag aufgeweckte Institution soeben mit dem International Opera Award ausgezeichnet worden.

Dass die Prämissen, mit denen man bei Aviel Cahn zu rechnen hat, keine wohlfeilen Versprechungen darstellen, erweist das künstlerische Projekt, das er für die Spielzeit 2019/20 ersonnen hat. Dem Genfer Grand Théâtre beschert es einen veritablen Paradigmenwechsel – angesichts der wunderbar gelungenen Renovation des Hauses und seiner wieder grandiosen baulichen Ausstrahlung ist das der einzig richtige Weg. Nicht dass vom Stagioneprinzip abgewichen würde, das nicht. Aber das Angebot in Oper und Ballett sowie einer Fülle von Nebenveranstaltungen lebt klar erkennbar von einer ebenso phantasievoll verspielten wie konsequent durchdachten Dramaturgie. Entschieden weitet sie den Horizont. Und sie bringt Künstler an das Haus, die dafür sorgen könnten, dass das Grand Théâtre de Genève auf dem internationalen Parkett wieder vollgültig präsent sein kann. Mag sein, dass Genf gegenüber Zürich nicht nur im Bereich des Orchesters, sondern auch in jenem der Oper wieder aufholt.

Dass sie Theater für ihre Stadt machen wollen, sagen viele Intendanten; Genf sieht das in einer eigenen Weise Wirklichkeit werden. Die Stadt steht ganz und gar im Zentrum. Nicht nur durch die Tatsache, dass der neue Directeur général – so wird der Intendant im französischsprachigen Kulturbereich im Allgemeinen genannt – die Kooperation mit einer Vielzahl von Genfer Institutionen sucht, vom Ensemble Contrechamps und der Musikhochschule über das Bâtie Festival bis hin zum CERN. Sondern vor allem durch den Umstand, dass jede der neun Produktionen ihre spezifische Beziehung zu Genf hat. Dazu kommen die Migration und die Menschenrechte als thematischer Schwerpunkt. Und nicht zuletzt erfährt das Zeitgenössische eine für Genf verstärkte Aufmerksamkeit. Eingerichtet wird schliesslich eine neue Plattform der Begegnung; «la Plage» nennt sie sich, und sie soll ein Spektrum zwischen dem spontanen Austausch bei einem Espresso und der Überraschungen im Theater selbst abdecken. Überdacht wird in diesem Zusammenhang das gastronomische Konzept. Für die Öffnung des Hauses steht auch die Schaffung einer neuen Preiskategorie; für jede Vorstellung sollen hundert Plätze zum Preis eines Kinobesuchs, nämlich zu 17 Franken zur Verfügung stehen.

Die Genfer Saison 2019/20 steht unter dem Motto «Oser l’espoir» und umfasst in der Oper die folgenden Premieren:

    • Philip Glass: Einstein on the Beach (Schweizerische Erstaufführung). Mit dem Dirigenten Titus Engel und dem Regisseur Daniele Finzi Pasca.
    • Giuseppe Verdi: Aida. Mit Antonino Fogliani und Phelim McDermott.
    • Claudio Monteverdi: L’Orfeo. Mit Iván Fischer und dem Budapest Festival Orchestra (halbszenisch).
    • Jean-Philippe Rameau: Les Indes galantes. Mit Leonardo García Alarcón und Lydia Steier.
    • Wolfgang Amadeus Mozart: Die Entführung aus dem Serail. Mit Fabio Biondi und Luk Perceval. Sowie einem neu gefassten Libretto von Aslı Erdoğan, der im Exil lebenden Schriftstellerin aus der Türkei.
    • Giacomo Meyerbeer: Les Huguenots. Mit Mark Minkowski sowie Jossi Wieler und Sergio Morabito.
    • Christian Jost: Voyage vers l’espoir (Uraufführung). Mit Gabriel Feltz und Kornél Mundruczó.
    • Gioachino Rossini: La Cenerentola. Mit Stefano Montanari und Laurent Pelly.
    • Olivier Messiaen: Saint-François d’Assise (Schweizer Erstaufführung). Mit Jonathan Nott und Adel Abdessemed.