Alte weise Männer – fast

Auftritte des Tonhalle-Orchesters Zürich
und des Berner Symphonieorchesters

 

Von Peter Hagmann

 

Die Konstellation war zu verlockend. Wie es beim Tonhalle-Orchester Zürich nun mal so Sitte ist, war David Zinman, der erfolgreiche Chefdirigent zwischen 1995 und 2014 und heutige Ehrendirigent, für einen Abend nach Zürich eingeladen. Vorgesehen war Anton Bruckners Sinfonie Nr. 5, später ist daraus die Nr. 4 geworden. Für fast denselben Zeitpunkt war beim Berner Symphonieorchester dessen langjähriger Chefdirigent Mario Venzago für einen Abend des Wiedersehens angekündigt. Auch bei ihm stand eine Sinfonie Bruckners auf dem Programm, nämlich die Dritte, die Venzago vor fast zehn Jahren mit dem Berner Orchester aufgenommen hat. Im Raum stand also ein reizvoller Ausgangspunkt für ein Nachdenken über die Kunst des Dirigierens und das Lebensalter auf der Basis der bekanntlich nicht gerade einfachen Musik des Meisters von Sankt Florian.

Allein, es hat nicht sollen sein. David Zinman, inzwischen 86 Jahre alt, war von ärztlicher Seite empfohlen worden, auf die Reise nach Europa und den Auftritt auf dem Konzertpodium zu verzichten, was der Dirigent so selbstverständlich wie bedauerlicherweise respektierte. In aller Eile musste denn auch für Ersatz gesorgt werden; gefunden wurde er in der Person des 27-jährigen Österreichers Patrick Hahn, der schon in vieler Munde ist und jetzt in der Grossen Tonhalle Zürich debütiert hat. Derzeit wirkt er in Wuppertal, und dort lässt er sich als «jüngster Generalmusikdirektor im deutschsprachigen Raum» vorstellen. Aus dem Spaziergang mit zwei alten weisen Männern wurde darum nichts, es kam vielmehr zur Begegnung zwischen einem hocherfahrenen Könner und einem Nachrückenden, der mit Mut nicht nur das Konzert, sondern sogar das Programm gerettet hat.

An sich will das Lebensalter nichts heissen. Legt ein junger Dirigent Wert auf seine Jugendlichkeit und wagt er sich an ein Stück wie die Vierte Bruckners, hört man jedoch mit besonderer Genauigkeit hin. Zu sagen ist: Sehr ordentlich, wie Patrick Hahn die wohl beliebteste der Sinfonien Bruckners gemeistert hat, aber für eine Erleuchtung reichte es nicht; es kam zu einer respektablen Wiedergabe, aber nicht zu einer Interpretation im eigentlichen Wortsinn. Mit seinem abgespreizten kleinen Finger an der rechten, den Taktstock führenden Hand gab sich Patrick Hahn als ein Dirigent alter Schule zu erkennen, der dem Orchester distinguiert, aus einer Position der Übersicht heraus vorangeht. Wirklich im Griff hatte Patrick Hahn die Zürcher Formation allerdings nicht, und die Konturen einer Meinung des Dirigenten zum Werk blieben merklich unscharf.

Zu wünschen übrig liess etwa die Balance. Die Posaunen bliesen sich immer wieder in den Vordergrund, was nun einmal ausgesprochen unschön klingt. Und in den letzten Takten der Sinfonie war der berühmte Hornruf, der das Werk eröffnet hat und sich an dieser Stelle als Krone auf das dreifache Forte des gesamten Orchesters zu setzen hätte, nicht der Spur nach zu vernehmen. Die Zeichengebung mit den beiden meist parallel geführten Händen, die Fokussierung der Blickrichtung des Dirigenten auf die Ersten Geigen, die Beiläufigkeit der Phrasierung, die auf wenig Gespür für das Atmen der Musik zurückgeht, der brave Umgang mit den Tempi – Symptome solcher Art zeigen, dass es hier noch reichlich Luft nach oben gibt. An der Begabung Patrick Hahns ist freilich kein Zweifel.

An jener der Geigerin Noa Wildschut erst recht nicht. Keck ging die erst 22-jährige Musikerin aus den Niederlanden das Violinkonzert Nr. 5 in A-Dur, KV 219, an: im Kopfsatz mit noch etwas viel Mainstream-Vibrato, im weiteren Verlauf aber mit immer mehr überraschenden Einfällen, zum Beispiel mit spannend gestalteten Trillern. Auch wenn noch nicht alles restlos gefasst erschien, trat da doch ein ganz eigener Ansatz zutage; er nimmt viel von jenen Energien auf, die das Mozart-Bild im späten 20. Jahrhundert so entschieden aufgefrischt haben. Wie genuine Vitalität in Kunst übergeführt werden kann, erwies aber ganz besonders Sol Gabetta. Innig verbunden mit dem Berner Symphonieorchester und Mario Venzago gab sie das selten gespielte, weil technisch wie gestalterisch anspruchsvolle Cellokonzert Nr. 2 in d-Moll, p. 119, von Camille Saint-Saëns. Dass das Stück als etwas spröde gilt, konnte man gleich vergessen, so überzeugend, mit so viel Schwung, so reichem Klangspektrum, so vielfach differenziertem Vibrato und ausserdem ohne jedes unnötige Portamento bewältigte sie ihren Part.

Eröffnet wurde der Abend im Berner Stadtcasino – er hätte schon längst stattfinden sollen, musste der Pandemie wegen aber verschoben werden – mit der Uraufführung von «Hymnus», einem Auftragswerk des Baslers Balz Trümpy: einer Verneigung vor Anton Bruckner und einer Reminiszenz an die Avantgarde von ehedem in persönlicher Handschrift. So lag denn nahe, dass nach der Pause Bruckners Dritte, in d-Moll wie das Cellokonzert von Saint-Saëns, auf den Pulten lag. Keineswegs von selbst versteht sich die Individualität, in der Mario Venzago an die Musik Anton Bruckners herangeht. An Klangfülle fehlte es nicht in der an Wagner orientierten Sinfonie, doch blieb das Blech jederzeit sinnvoll ins Ganze eingebunden und erschien die Farbenpracht der Partitur in hellem Licht. Nicht wenig zum lebendigen Bild beigetragen hat die Erhitzung der Spannungsverläufe durch die Arbeit mit Tempo und Attacke, eine Anleihe an Auffassungen des frühen 20. Jahrhunderts, und andererseits durch die Integration des geraden, ohne Vibrato versehenen Tons, wie er in der alten Musik wiederentdeckt worden ist. Mario Venzago ist ein wacher Geist, offen für die Geschichte wie die Gegenwart, und seine langjährige Erfahrung lässt ihn aus einem opulenten Fundus schöpfen – als ein alter weiser Mann.

Orchesterfrühling in Winterthur

Konzerte mit dem Musikkollegium und Thomas Zehetmair

 

Von Peter Hagmann

 

Seit Samuel Roth als Direktor das Heft in die Hand genommen hat und seit der Geiger Thomas Zehetmair, der immer häufiger auch zum Taktstock greift, als Chefdirigent gewonnen werden konnte, kommt das Musikkollegium Winterthur zusehends in Fahrt. Die Programme erhalten mehr und mehr Profil, das Orchester steht auf bemerkenswerter Höhe, die Stimmung im Saal ist ausgezeichnet. Vor kurzem, als Thomas Zehetmair zusammen mit seinen Kolleginnen und Kollegen im Winterthurer Stadthaus Beethovens Violinkonzert darboten, kam es zu Jubel und Stehapplaus. Zu Recht. Zehetmair gab den Solopart nicht nur so gut wie makellos, sondern auch stilistisch ganz auf der Höhe der Zeit – kein Wunder, hat der Geiger das Konzert doch mit Frans Brüggen erarbeitet und 1997 auf CD aufgenommen. Dazu gesellte sich eine Intensität des musikalischen Empfindens, die in ganz sonderbarer Weise gefangen nahm. Das Orchester war voll bei der Sache, der Auftritt ohne Dirigent scheint ihm vertraut, und es trug seinen als Solist präsenten Chefdirigenten auf Händen.

Tatsächlich hat Zehetmair enorm Energie ins Orchester gebracht – und dass er an seiner Seite Roberto Gonzáles Monjas, einen grossartigen, ambitionierten Geiger und Dirigenten, als Konzertmeister wirken lässt, ist aussergewöhnlich genug. Bei Beethoven war er aus verständlichen Gründen nicht dabei, wohl aber bei Bruckners dritter Sinfonie, die Zehetmair eine Woche vor dem Auftritt mit Beethoven in einem Hauskonzert in der Stadtkirche Winterthur präsentierte. Und zwar, was nur wenige Dirigenten wagen, in der zweiten Version, nicht in der dritten, die als Fassung letzter Hand einen besonderen Status geniessen mag, aber nicht ausschliesslich von Bruckner erstellt wurde. Die zweite Fassung klingt nicht so radikal wie die erste, lässt die Intentionen des Komponisten aber doch in aller Schärfe erkennen. Zumal in einer derart frischen, auf Tempo und klangliche Transparenz ausgerichteten Interpretation, wie sie das Musikkollegium und Zehetmair zum Besten gaben. Allein schon die Besetzung, sie war kammermusikalisch gedacht, liess den Bläsern ganz selbstverständlich Raum und sorgte damit für strukturelle Klarheit. Schade nur, dass die beiden Geigengruppen nicht in deutscher Manier links und rechts vom Dirigenten sassen; da gingen einige dialogisch angelegte Momente doch im Gesamtklang unter. Die Anregung war gleichwohl hoch; Bruckners Dritte erklang weniger als weihevolle Verbeugung des Komponisten vor seinem Vorbild Richard Wagner denn als Zeugnis eines Künstlers, der scharf konzipierend seinen eigenen Weg sucht.

Dass in der Woche darauf, vor dem Violinkonzert Beethovens, die dritte Sinfonie in Es-dur von Robert Schumann erklang, hat nichts mit Zahlen zu tun. Eher spielt es auf die Tatsache an, dass sich Bruckner, wie Hans-Joachim Hinrichsen gezeigt hat, in seiner Dritten mehr oder weniger explizit auf Schumanns «Rheinische» bezieht. Der langsame Satz dieser Sinfonie beginnt in einem Ausdrucksmodus – er ist mit «feierlich» überschrieben – und in einer musikalischen Konstellation, die von Bruckner übernommen worden sind. Den grossen Ton dieses vierten Satzes trafen Zehetmair und das Musikkollegium Winterthur sehr überzeugend, obwohl der Dirigent im ganzen Stück auf Spaltklang setzte, die Instrumentalfarben also nicht so sehr ineinander übergehen liess, als dass er sie nebeneinander stellte und so das Liniengeflecht in den Vordergrund stellte. Nicht zuletzt dadurch kam auch hier beim Zuhören der Eindruck auf, einer grossen Kammermusik beizuwohnen – einer äusserst gepflegten Kammermusik mit lebendiger Phrasierung, schönen Übergängen und ausgesuchten Beiträgen einzelner Orchestergruppen, etwa der Bratschen im dritten Satz und der Trompeten im Finale. Gerne wüsste man in solchen Momenten, wer im Orchester mit von der Partie ist; wenn im Programmheft schon Gönner und Sponsoren namentlich genannt werden, warum nicht die Orchestermitglieder?

Beide Abende enthielten, auch das versteht sich nicht von selbst, einen Kern mit neuer Musik. Zwischen Schumann und Beethoven standen, als Uraufführung eines Auftragswerks, die «Steinwellen» des Berners Daniel Glaus. Und vor Bruckners Dritter glänzte der Winterthurer Solobratscher Jürg Dähler im Bratschenkonzert Friedrich Cerhas, einem geheimnisvollen, klangschönen Stück von 1993, das nicht nur mit Alban Berg zu tun hat, sondern auch mit Anton Bruckner – was auszusprechen nicht ehrenrührig ist, auch wenn der Komponist den Satz mit strikter Ablehnung quittierte.