Ein Provisorium, das dauern darf

Eröffnung der Tonhalle Maag in Zürich

 

Von Peter Hagmann

 

Die Tonhalle Maag am Eröffnungsabend / Bild Tonhalle-Orchester Zürich, Priska Ketterer

 

Schön ist er geworden, der neue Konzertsaal in Zürich, spektakulär schön. Von aussen sieht es noch schwer nach Zahnradgiessen aus, aber das ist ja gerade das Besondere an diesem einzigartigen kulturpolitischen Wurf: dass die Lokalität, die das Tonhalle-Orchester Zürich nun drei Jahre lang bespielt und selbst betreibt, nämlich an andere Veranstalter weitervermietet – dass diese Lokalität sich so grundlegend von der zurzeit in Renovation befindlichen Tonhalle am See unterscheidet. Das gilt schon für den Eingang, für die Kasse (ein zweiter Schalter befindet sich im Sitz der Credit Suisse am Paradeplatz) und für die Garderobe, erst recht aber für das Foyer, das von früheren Verwendungszwecken des Raums zeugt, aber ideenreich und witzig an die neue Funktion angepasst wurde.

Eine ganz andere, ganz eigene Anmutung strahlt jedoch der Konzertsaal aus. Ganz neu, ist er in eine bestehende Hülle hineingebaut. Das helle Fichtenholz lasse, so wurde behauptet, an eine finnische Sauna denken; nun gut, die Assoziationen sind frei. Ohne zu schwitzen – das verhindern die zahllosen kleinen, in regelmässiger Abfolge in den Boden gebohrten Öffnungen, durch die unmerklich, auch so gut wie unhörbar, Frischluft in den Saal strömt – stehe ich dazu, dass mir das Farbenspiel der lichten Wände, der etwas dunkleren Akustikpaneele in der Höhe und hinter ihnen der schwarzen Bemalung der Saaldecke angenehme Eindrücke beschert. Den Architekten Annette Spillmann und Harald Echsle ist da ein ästhetisch sehr ansprechender Entwurf gelungen.

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Wenig zu wünschen übrig lässt die Funktionalität des Saals. Gewiss, der Zugang der Orchestermitglieder zum Podium kann zu Berührungen mit dem Publikum führen, wovon eine wohl doch eher humoristisch zu nehmende weisse Linie am Boden zeugt, die den schmalen Gang in zwei noch schmalere Hälften teilt, in eine für die Ausführenden und eine für die Zuhörenden. Und ohne Zweifel hätten Armlehnen an den bequemen, viel Beinfreiheit bietenden Sitzen dem i sein Tüpfchen beigefügt. Aber man darf doch feststellen, dass sich die Zuhörerin, der Zuhörer in dem neuen Saal sogleich zurechtfinden und sich ohne Bedenken niederlassen kann. Und die Erreichbarkeit der Tonhalle Maag, zumal mit dem öffentlichen Verkehr, ist vorbildlich, jedenfalls entschieden besser als bei der Tonhalle am See. Wie sich auch die Vielfalt des gastronomischen Angebots in der Umgebung sehen lassen kann.

Gut 1200 Plätze gibt es in dem neuen Saal, 300 weniger als im alten, mehr ging in die gegebene Kubatur nicht hinein – und das ist vielleicht auch gut so. Die Tonhalle-Gesellschaft hat jetzt die Aufgabe, den Saal mit Leben und Publikum zu füllen, was nicht einfach sein wird, aber durchaus gelingen könnte. Vier Fünftel der Abonnenten haben Treue bewiesen, und dazukommen werden nach und nach all jene, die neugierig sind und am Ende vielleicht gar hängenbleiben. Dass diese hochstehende, auch kostspielige, übrigens weitgehend privat finanzierte Übergangslösung Risiken mit sich bringt, versteht sich; ebenso sehr sollten aber die Chancen in Betracht gezogen werden. In erster Linie stellt diese Art der vorübergehenden Bleibe ein grossartiges Bekenntnis zur klassischen Musik und ihren Akteuren dar – das Tonhalle-Orchester Zürich kann sich jedenfalls weitaus glücklicher schätzen als die Klangkörper in Basel und Bern, welche die Zeit der Bauarbeiten an ihren Sälen unter weit weniger favorablen Umständen hinter sich zu bringen haben.

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Inzwischen ist die Tonhalle Maag eröffnet, und so lässt sich nun auch über die Akustik sprechen. Erste Schwierigkeit dabei bildet der Umstand, dass die akustische Wahrnehmung etwas hochgradig Subjektives darstellt. Dazu kommt, dass sich das neue Gefüge erst einmitten muss; der Saal mit seinen noch brandneuen Materialien muss ebenso in Schwingung kommen, wie sich das Orchester und seine Dirigenten ins Raumgefühl einfinden müssen, ganz zu schweigen vom Publikum, das sich an die ganz anderen Verhältnisse in Zürich-West erst gewöhnen muss. Aussagen zur Akustik sind also mit Vorsicht zu geniessen – dennoch: Für mich klingt der durch die Akustiker von Müller-BBM München feingestimmte Konzertsaal ganz ausgezeichnet, weitaus besser jedenfalls, nämlich persönlicher als das hölzerne Provisorium, das die Internationalen Musikfestwochen Luzern im Sommer 1997, als das alte Kunsthaus abgerissen und das neue KKL noch nicht erstellt war, in der von Moos-Stahlhalle in Emmenbrücke betrieben haben.

Den warmen Mischklang der Tonhalle am See wird man hier allerdings nicht finden, auch kaum erzeugen können;, die Tonhalle Maag liegt näher beim heute so geschätzten Spaltklang, wie er vom KKL Luzern her bekannt ist. Das Tonhalle-Orchester Zürich klang beim Eröffnungskonzert von letzter Woche merklich heller, auch deutlich transparenter als gewohnt: Wer es kennt, kann dieselbe Erfahrung machen wie der Begleiter einer Tournee, der das gewohnte Orchester in ungewohnten Umgebungen wahrnimmt und sozusagen neu entdeckt. Wunderbar präsent waren am Eröffnungsabend die einzelnen Instrumente, etwa das glühende Englischhorn von Martin Frutiger oder die bisweilen einzigartig leise Klarinette von Michael Reid. Auf der anderen Seite entbehrte das Tutti der Kompaktheit, fehlte es zudem an Basswirkung und schien der Obertonglanz etwas gemindert. Was davon auf den Saal, was auf das Orchester und seinen Chefdirigenten Lionel Bringuier, was schliesslich auf die Ohren des Zuhörers zurückgeht, war im Augenblick nicht auszumachen.

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Denn die musikalische Arbeit hat erst begonnen. Bis jetzt gab es ein Galakonzert und zwei weitere Abende mit Beethovens Neunter sowie übers Wochenende einen Erlebnistag nach Luzerner Art mit einer vierten und letzten Aufführung des Feststücks par excellence. Beethovens Neunte, das mag auf den ersten Blick konventionell gewirkt haben, die Wahl erinnerte indes an das erste Konzert 1895 in der damals neuen Tonhalle am See. Und wie seinerzeit mit dem «Triumphlied» von Johannes Brahms, dirigiert vom Komponisten, eine Novität dazukam, war hier der Sinfonie Beethovens das Bratschenkonzert von Brett Dean vorangestellt – ein Stück des australischen Bratschers, Dirigenten und Komponisten, der in dieser Spielzeit den «creative chair» innehat. Seiner Zürcher Position entsprechend griff Brett Dean für den ersten Teil des Abends selbst zu seinem Instrument, während er danach, wie es weiland der Cellist Yo-Yo Ma tat, als hinterster, überaus engagierter Bratscher mit von der Partie war.

Deans Violakonzert ist ein Stück, das unverkrampft mit dem Paradigmen der neuen Musik umgeht und attraktive Spannungsverläufe bietet, insgesamt aber doch etwas beliebig wirkt. Denselben Eindruck erzeugte die Auffassung, die Lionel Bringuier zu Beethovens Neunter entwickelt hat. In der stilistischen Ausrichtung nicht wirklich greifbar, kämpfte seine Interpretation mit den bekannten Problemen des Stücks, im Finalsatz zum Beispiel mit der für die Sänger anforderungsreichen Höhe und mit der dichten Folge der dynamischen Spitzen. Die Zürcher Singakademie, erstmals von Florian Helgath vorbereitet, klang merklich besser als in früheren Zeiten, blieb aber gleichwohl noch einen deutlichen Schritt entfernt von den Qualitäten der Spitzenchöre. Schön besetzt, wenn auch vom Dirigenten nicht immer in befriedigender Balance gehalten das Solistenquartett mit Christiane Karg (Sopran), Wiebke Lehmkuhl (Alt), Maximilian Schmitt (Tenor) und Tareq Nazmi (Bass).

Womit der Saal eingeweiht wäre und es losgehen kann. In drei Jahren, wenn die Tonhalle am See in frischem Glanz erstrahlt, muss es, ja wird es mit der Tonhalle Maag weitergehen – wie auch immer: das Schauspielhaus kennt ja auch seinen Schiffbau. Ein solches Juwel zurückzubauen, wie es mit der Opéra des Nations in Genf geschehen wird, wäre gewiss die am wenigsten attraktive Option.

 

Das Eröffnungskonzert in Tonhalle Maag / Bild Tonhalle-Orchester Zürich, Priska Ketterer

Paavo Järvi – genau der Richtige für Zürich

Der 54jährige Este wird Chefdirigent und Künstlerischer Leiter beim Tonhalle-Orchester

 

Von Peter Hagmann

 

Ilona Schmiel und Paavo Järvi in der Tonhalle Zürich / Bild Priska Ketterer, Tonhalle-Orchester Zürich

Nun ist das Team komplett, echt komplett. Als Ilona Schmiel 2014 ihre Aufgabe als Intendantin des Tonhalle-Orchesters Zürich übernahm, war Lionel Bringuier als Chefdirigent gesetzt. Sie hatte den jungen Mann, der über keinerlei Erfahrung im Umgang mit einem Orchester und einer Institution vom Rang der Zürcher Körperschaft verfügte, zu akzeptieren; seine Berufung war vom Orchester dringend gewünscht worden, und der Vorstand der Trägergesellschaft hatte dem Wunsch entsprochen. Doch um die Chemie zwischen Chefdirigent und Intendantin scheint es von Anfang an nicht zum Allerbesten gestanden zu haben, das lassen allein schon die leicht verkrampften Bilder erkennen, die anlässlich des Amtsantritts der beiden kursierten. So erstaunt auch aus diesem Blickwinkel nicht weiter, dass die vier Jahre Bringuiers beim Tonhalle-Orchester zum Zwischenspiel wurden; vor der Sommerpause 2016 wurde bekannt, dass sein Vertrag nicht verlängert werde.

Mit Paavo Järvi als neuem Musikdirektor des Tonhalle-Orchesters Zürich ab 2019/20 geht es nun aber richtig los, daran liess die eilig einberufene Medienkonferenz vom gestrigen Dienstag keinen Zweifel. Martin Vollenwyder, der Präsident der Tonhalle-Gesellschaft, strahlte Stolz und Zuversicht aus, Ilona Schmiel funkelte nach Massen, und sogar der distinguierte Paavo Järvi trat ein wenig aus dem Busch hervor. Als Järvi, das liess er an der Medienkonferenz erkennen, im Dezember vergangenen Jahres ein geschickt als ganz normaler Anlass verkleidetes Probekonzert gab, wusste er schon, dass er möglicherweise für die Aufgabe angefragt würde – und er habe damals auch schon gewusst, dass er im Fall der Fälle zusagen würde. Wir Kommentatoren wussten es eigentlich auch schon. Nach diesem ausserordentlich geglückten Konzert, insbesondere nach der hinreissenden Darbietung von Schumanns dritter Sinfonie (http://www.peterhagmann.com/?p=851), stand Järvis Name ganz oben auf der Liste denkbarer Chefdirigenten. Einer wusste es am Ende noch besser: Der Gerüchtekoch Norman Lebrecht, der vor keinem Hinterzimmer Halt macht, liess es sich nicht nehmen, zwei Stunden vor der Medienkonferenz auf seiner Website zu verkünden, wer die Nachfolge Bringuiers antritt.

Und wer, so muss man es sagen, in die Fussstapfen David Zinmans tritt. Darum geht es, und dafür ist Paavo Järvi genau der Richtige. Schon die Tatsache, dass Järvi, anders als Bringuier, wieder die doppelte Funktionsbezeichnung als Chefdirigent und Künstlerischer Leiter trägt, lässt auf klare Einlässlichkeit hoffen. Die initiative und ideenreiche Intendantin Ilona Schmiel muss sich dadurch in keiner Weise bedrängt fühlen, hat sich Järvi an der Medienkonferenz doch ausdrücklich als Teamplayer zu erkennen gegeben (vgl. NZZ vom 31.05.17). Kommt dazu, dass Järvi von Alter, Erfahrung und Bekanntheitsgrad her optimal nach Zürich passt. Das Tonhalle-Orchester braucht jemanden am Pult, der mit beiden Beinen in der Gegenwart steht, der den Musikerinnen und Musikern aber auch noch etwas voraus hat – nicht zuletzt eine eigenständige, plausible Sicht auf die Werke. Die Reihe der von Järvi bislang eingenommenen Chefpositionen – sie reicht von den Stockholmer Philharmonikern über das Sinfonieorchester des Hessischen Rundfunks in Frankfurt am Main bis zum Orchestre de Paris und dem NHK Symphony Orchestra in Tokio – lässt erahnen, dass der 54jährige Dirigent aus Estland sein Handwerk kennt. Und die Gesamteinspielung der Sinfonien Beethovens, die er mit der seit 2004 von ihm geleiteten Kammerphilharmonie Bremen erarbeitet hat, zeigt viel von seinem hellwachen Umgang mit dem Notentext. Ihr kristalliner Ton und ihre Kompromisslosigkeit in der Attacke eröffnen einen ganz anderen Weg als die helle, transparente, spritzige Leichtigkeit, die David Zinman in seinen Beethoven-Aufnahmen mit dem Tonhalle-Orchester Zürich so erfolgreich beschritten hat. Nicht auszuschliessen, dass das Orchester mit Paavo Järvi tatsächlich ein neues Kapitel seiner Geschichte aufschlägt.

Keine Vertragsverlängerung mit Lionel Bringuier in Zürich

 

Peter Hagmann

Die richtige Entscheidung

Lionel Bringuier bleibt nur bis 2018 in Zürich

 

Der auf vier Jahre ausgelegte Vertrag zwischen dem Tonhalle-Orchester Zürich und seinem Chefdirigenten Lionel Bringuier wird nicht über sein Ende im Sommer 2018 hinaus verlängert. Das liess die Tonhalle-Gesellschaft Zürich am heutigen 17. August 2016 bekannt werden. Die Entscheidung erfolge in gegenseitige Einvernehmen. Seine Verpflichtungen bis zum Ende der Saison 2017/18, der ersten im Provisorium der Maag-Halle, werde Lionel Bringuier voll und ganz wahrnehmen.

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Ein junger Mann von gewinnender Erscheinung, französischer Sprache, mit einem schon ansehnlichen Leistungsausweis – so trat Lionel Bringuier im Herbst 2014 sein neues Amt als Chefdirigent des Tonhalle-Orchesters Zürich an. Die Begeisterung im Orchester war gross, die Musikerinnen und Musiker hatten ihn als Nachfolger David Zinmans ausdrücklich gewünscht. Tatsächlich kam musikalisch frischer Wind auf; das Orchester legte sich wie losgelassen ins Zeug, und es klang mit einem Mal ausnehmend kräftig. Jung und frei, erfrischend laut, jedenfalls in dem erwünschten neuen Geist – so wurde der Einstieg auf vielen Seiten wahrgenommen.

Wer wirklich zuhörte, konnte jedoch auf Anhieb zweierlei beobachten. Zum einen war die unbestrittenermassen vorhandene Lautstärke nicht wirklich gestaltet; sie ging nicht selten über die Kapazität des Saals hinaus, und sie liess gern jenes Mass an Differenzierung vermissen, das auch in den oberen Graden der Dynamik herrschen muss. Zum anderen wurde auch nach der Zeit der gegenseitigen Angewöhnung kein klarer interpretatorischer Ansatz fassbar. Waren bei David Zinman, meistens zum Vorteil der Kompositionen, Leichtigkeit des Tons, strukturelle Klarheit und emotionale Zurückhaltung bestimmend, schien das Orchester mit Lionel Bringuier draufloszuspielen: fröhlich, aber ohne erkennbaren Sinn. Das galt sogar bei einem Kern von Lionel Bringuiers Repertoire, bei der Musik Maurice Ravels, der die erste (und wohl auch letzte) CD-Einspielung galt.

Eine Beliebigkeit machte sich breit, die wenig zu tun hatte mit dem scharf konturierten, auch erfolgreich zu Markt getragenen Profil, welches das Tonhalle-Orchester in den zwei Jahrzehnten mit David Zinman erreicht hatte. Aufgewogen wurde das durch das vitale, engagierte Auftreten des neuen Präsidenten Martin Vollenwyder und das umsichtige, kenntnisreiche Vorgehen der neuen Intendantin Ilona Schmiel. Den beiden Stützen im Leitungsteam ist der glanzvolle Zürcher Abstimmungserfolg im Zusammenhang mit der Instandsetzung von Kongresshaus und Tonhalle zu verdanken – Lionel Bringuier hielt sich da vornehm zurück. Das kann man als Akt der Konzentration aufs rein Künstlerische vertreten. Ob es richtig ist, bleibt jedoch die Frage. Wenn man sieht, wie umfassend sich Iván Fischer in rauhem Klima um seine Orchester in Budapest und Berlin kümmert, liegt die Antwort auf der Hand.

Bewegung hat sich also eher ausserhalb des musikalischen Kerngeschäfts ergeben. Wo es um die Sache geht, begann sich Stillstand einzunisten, war ein ernsthaftes Einlassen auf die Partituren und die Entwicklung eigener Aussagen als Interpret bei Lionel Bringuier nicht zu erkennen – dazu ist der junge Dirigent viel zu beschäftigt. So ist die auf 2018 festgelegte Trennung in Ehren der richtige Schritt zur richtigen Zeit – trotz dem bevorstehenden Exil in Zürich-West. Jetzt kann die Lage überdacht und kann eine künstlerische Vision entworfen werden. Denn wenn es eines zu vermeiden gilt, so sind es die kurzzeitigen, erst euphorischen, dann aber rasch erlahmenden Engagements von Chefdirigenten, wie sie vor der Ära Zinman üblich waren. Das Tonhalle-Orchester Zürich, inzwischen durchaus mitverantwortlich, hat Besseres verdient.

Festspiele Zürich 2016

 

Peter Hagmann

Alles Dada – oder fast alles

Abschluss der Ära Elmar Weingarten bei den Festspielen Zürich

 

Was waren das für Zeiten, als es in Zürich noch Junifestwochen gab. Als, im Rahmen grosser thematischer Schwerpunkte und veranstaltet von der Stadt selbst, Japan zu Gast war oder John Cage himself für erheiternde Unruhe sorgte. In den frühen neunziger Jahren war Schluss damit, angeblich aus finanziellen Gründen. Wenige Jahre später kam es zu einem Neustart – unter neuen Vorzeichen und dem neuen Namen «Zürcher Festspiele». Die Hoteliers der Stadt hatten sich über schlechten Geschäftsgang Ende Juni beklagt und waren bei Alexander Pereira vorstellig geworden, dem damaligen Intendanten des Opernhauses Zürich, von dem sie für die fragliche Zeit einen kulturellen Akzent und in der Folge eine kommerzielle Belebung erhofften.

So kam es vor zwanzig Jahren zu den Zürcher Festspielen, die eigentlich keine Festspiele waren. Denn die Stiftung, die sie ausrichten sollte, verfügte über geringe Mittel und dementsprechend wenig Handlungsspielraum. Im Stiftungsrat vertreten waren die grossen Zürcher Kulturinstitute, die von den Subventionsgebern aufgerufen waren, das Ende der Saison mit besonderem Glanz zu versehen. Wenn sich dieser Glanz einstellte, dann am ehesten in den Preisen, die das Opernhaus für seine Vorstellungen im Rahmen der Festspiele verlangte. Inhaltlich ergab sich kein Profil, da jedes der grossen Kulturinstitute sein ohnehin vorgesehenes Programm präsentierte – und es, weil ja Festspiele waren, mit einem speziellen Fähnchen versah.

Neue Ausrichtung

Das wurde erst anders, als Elmar Weingarten, mit seinem Ideenreichtum und seiner Konzilianz prädestiniert für diese Aufgabe, vor vier Jahren den widerwilligen Stier bei den Hörnern packte. Er übernahm die Leitung der Festspiele 2012 noch als Intendant des Tonhalle-Orchesters Zürich und führte die Geschäfte nach seinem Rücktritt beim Orchester 2014 weiter. Vier Ausgaben der Festspiele sind unter Weingartens gütiger Hartnäckigkeit zustande gekommen. Die Institution hat in dieser Zeit nicht nur ihren Namen gewechselt: von den eher lokal gedachten «Zürcher Festspielen» zu den «Festspielen Zürich» mit bewusst internationaler Ausstrahlung. Das Festival hat auch, und vor allem, ein Gesicht erhalten. Denn Weingarten hat den thematischen Schwerpunkt, der die Junifestwochen ausgezeichnet hatte, wieder eingeführt und ihn den neuen Bedingungen der Festspiele gemäss rehabilitiert.

Den Geburtsfehler der Institution hat auch Weingarten nicht beheben können. Tatsache ist, dass für die Festspiele Zürich mit dem Opernhaus und dem Tonhalle-Orchester sowie dem Schauspielhaus und dem Kunsthaus vier grosse Kulturinstitute der Stadt zusammenarbeiten sollten, die das aber nicht unbedingt wollen, ja der unterschiedlichen Planungsfristen wegen gar nicht können – was der Entwicklung einer gemeinsamen Dramaturgie fundamental im Wege steht. Dass die Festspiele dennoch ihr Profil so schärfen konnten, wie es geschehen ist, grenzt an ein Wunder. Es basiert auf der Einsicht, dass eine Veranstaltungsreihe von einem thematischen Kern, einer thematischen Leitlinie nichts als profitieren kann – und dass sie selbst dann profitieren kann, wenn nicht alles und jedes im Angebot dem Thema gehorcht.

So hat Elmar Weingarten den Festspielen Zürich neue Horizonte eröffnet; er hat seinen Partnern die nötigen Freiheiten gelassen, zugleich aber als Anreger gewirkt und selber beherzt als Veranstalter agiert. Das mag zu einem gewissen Überangebot wie zu Terminkollisionen geführt haben, es hat dem Zürcher Kulturleben vor dem Beginn der sommerlichen Schulferien aber auch eine spürbare Zufuhr von frischer Luft und bunter Vielfalt verschafft. Alle sind sie in ihrer Weise unvergessen, das «Treibhaus Wagner» 2013, «Prometheus» mit der grandiosen Aufführung von Luigi Nonos Hörtragödie im Jahr darauf, «Shakespeare» 2015 und diesen Sommer, hundert Jahre nach der Gründung des Cabaret Voltaire in Zürich, «Dada – zwischen Wahnsinn und Unsinn». Und heuer, nicht zu unterschätzen, lagen die Festspiele auch erstmals etwas früher als ehedem, um die Sommer-Ausstellung des Kunsthauses besser ins Gesamtprogramm einzubinden.

Dada und die Musik

Eine der Spezialitäten der vier zurückliegenden Jahre bestand darin, dass es nicht der Künstlerische Leiter allein war, der die Ideen entwickelte, dass Elmar Weingarten vielmehr seine Gattin Claudia von Grote zu Seite stand; entschieden wirkte sie an der Ausarbeitung der dramaturgischen Ansätze mit. So gab es dieses Jahr etwa eine Reihe von Soiréen, bei denen sich die Dada-Bewegung mit den etablierten Künsten traf, aber auch eine Folge von Begegnungen mit Dada in Zürcher Privatwohnungen – analog einer Idee, wie sie an den Wiener Festwochen seit langem üblich ist. Die Musik dagegen, sie geriet beim Thema dieses Jahres etwas in den Hintergrund – wenn auch nicht ganz. Das Infragestellen und das Aufbrechen herkömmlicher Rituale fand auch in der Musik statt, und vor allen Dingen setzte es sich bis weit ins 20. Jahrhundert, ja bis in die Jetztzeit hinein fort.

Von solchem berichtete die grosse Dada-Nacht in der Tonhalle Zürich, die auf den Punkt genau um 19.16 Uhr begann und einen langen Abend währte. Wie ein Wirbelwind fegte Ursula Sarnthein, Bratscherin im Tonhalle-Orchester, durch den dritten Satz der Sonate für Viola allein, op. 25 Nr. 1, von Paul Hindemith; sie nahm die Vorschrift des Komponisten, dieses Stück Musik in rasendem Zeitmass und wild zu spielen, Tonschönheit sei dabei Nebensache, atemberaubend beim Wort. Wie viel Dada in Mauricio Kagel steckt, erwies dessen Stück «Match» für zwei Celli (Thomas Grossenbacher und Karolina Öhmann) und Schlagzeug (Erika Öhmann) von 1964. Und in ihrer Weise dadaistisch schräg die «24 Duos» von Jörg Widmann, dem Inhaber des «creative chair» beim Tonhalle-Orchester Zürich. Ihre Höhepunkte fand die dadaistisch-musikalische Veranstaltung freilich im Auftritt der Stimmkünstlerin Salome Kammer, die dadaistische Sprechstücke aus ihrer persönlichen Schatzkammer präsentierte und neue Werke auf den Spuren Dadas dazustellte. Zur grossartigen Ausstrahlung der weit ausserhalb jeder Norm stehenden Sängerin kam die Kunst der Diseuse, die ihre Stimme in unglaublicher Weise zu wandeln versteht. Jedenfalls konnte man gewahr werden, wie sehr auch im deutschsprachigen Umfeld der Tonfall allein Bedeutungsträger sein kann.

Die Kunst der Interpretation

Neben Dada setzte sich das quasi normale Kunstleben fort – mit seinen helleren wie seinen dunkleren Seiten. Im Opernhaus trug der Bariton Christian Gerhaher zusammen mit seinem Klavierpartner Gerold Huber «Die schöne Müllerin» von Franz Schubert in einer Weise vor, dass einem das Blut ins Stocken geriet. Schon das scheinbar simple Strophenlied des Beginns liess kaum Heiterkeit aufkommen. Wenige Lieder später war klar, dass dem Müllerburschen, der hier von sich singt, grausam mitgespielt wird, dass die Müllerstochter alle vorführt, auch ihren Vater, und dass sie sich ganz rasch für den schmucken Jäger in Grün erwärmen wird, worauf dem Verschmähten nichts als der Sturz ins kalte Wasser des munter plätschernden Bächleins bleibt. Da in dem singenden Sprechen oder dem sprechenden Singen Gerhahers so gut wie jedes Wort verständlich war, wurde der Liederzyklus, den der Sänger mitsamt den von Schubert nicht vertonten Gedichten vortrug, zu einer ganz eigenen, äusserst dramatischen Erzählung, während die Dichtung des verkannten Wilhelm Müller in neuer Würde erschien. Ganz zu schweigen von der Vertonung Schuberts, die mit ihren Schlünden und ihren Abgründen an diesem Abend zutiefst erschütternd wirkte.

Solche Kunst der Interpretation ist für Lionel Bringuier, den Chefdirigenten des Tonhalle-Orchesters Zürich, ein Fremdwort. Weil es sich um den sinfonischen Erstling eines jungen, ambitionierten Komponisten handelt und weil im Untertitel von einem Titanen die Rede ist (allerdings in Anspielung an einen Roman von Jean Paul), stürmte Bringuier ohne Rücksicht auf Verluste durch die erste Sinfonie von Gustav Mahler – am Tag nach der «Schönen Müllerin» bot das reichlich Ernüchterung. Für eine Vortragsanweisung wie «gemächlich» hat er keinen Sinn; wenn er darf, dreht er die Laustärke sogleich und mächtig auf. Und um das etwas weinerlich Weiche der k.u.k-Mentalität schert er sich ebenso einen Deut wie um die ironische Doppelbödigkeit, die sich ganz besonders im langsamen Satz mit seinen verfremdenden Anklängen an «Frère Jacques» manifestiert. Dass musikalische Interpretation auch und gerade einen Akt der Sinngebung beinhaltet und dass dieser Akt seine intellektuelle Basis haben muss, das scheint Bringuier keineswegs zu kümmern – das ist das Verstörende an diesem unglaublich sympathischen und zugleich erschreckend naiven jungen Musiker. Wie soll das nur weitergehen?

Solche Fragen stellen sich bei Fabio Luisi nicht, der Generalmusikdirektor des Opernhauses Zürich weiss genau, was er will – das zu hören und zu erleben, bringt Erlebnisgewinn, auch wenn es unter dem Strich nicht überall aufgeht. Bei «I Puritani», der letzten Oper Vincenzo Bellinis, die das Opernhaus Zürich als Beitrag zu den Festspielen herausbrachte, gedachte Luisi ans Licht zu heben, welch neue Bedeutung Bellini dem Orchester zumass. Das ist ihm an mancher Stelle vorzüglich gelungen, das Orchester der Oper Zürich stellte prachtvoll heraus, dass Bellini zu Recht stolz war auf seine Mühewaltung im Bereich der Instrumentation. In anderen Momenten aber explodierte die Lautstärke, dröhnte der Chor, schrien die Sänger, tutete das Orchester, als wären alle gegen alle, vor allem alle gegen die Partitur. Und das in einem Bühnenbild, das den Schall sehr direkt in den kleinen, für ein Sprechtheater konzipierten Zuschauerraum des Zürcher Stadttheaters abstrahlte. Der schwere, kreisende Zylinder, den Henrik Ahr entworfen hat, gab dem Regisseur Andreas Homoki Gelegenheit, eine Bildfolge zu entwickeln, die den narrativen Strang des eigenartig an Ort und Stelle tretenden Librettos erkennen liess. Und die Umdeutung des lieto fine in eine finale Katastrophe passte in ihrer drastischen Konkretisierung ganz und gar in diese Zeiten. Mit dem stimmgewaltigen, höhensicheren Lawrence Brownlee (Arturo) und der nicht weniger ausstrahlungsmächtigen Pretty Yende (Elvira) war die Szene durch zwei vorzügliche Protagonisten beherrscht.

Das waren die Festspiele Zürich 2016. Elmar Weingarten verabschiedet sich definitiv. Unter gründlich erneuerter Leitung sollen die Festspiele jetzt zur Biennale werden. Was das heisst, wird sich weisen.

Ravel aus der Tonhalle Zürich

 

Peter Hagmann

Vorboten

Die beiden Klavierkonzerte Ravels
mit Yuja Wang und Lionel Bringuier

 

Obwohl das Englische mehr und mehr dominiert, gibt es in Zürich doch noch immer diese heimliche Sehnsucht nach Paris, nach der Grossstadt aus der anderen, der französischen Kultur. Auch im Musikalischen. In den späten achtziger Jahren, Chefdirigent war damals der wenig glückliche Hirsohi Wakasugi, holte sich das Tonhalle-Orchester Zürich Michael Plasson als Ersten Gastdirigenten, um sich unter seiner Anleitung etwas von der deutschen Tradition zu lösen und den französischen Duft zu erkunden. Viel wurde daraus nicht, Plasson sah in diesem Engagement seinerseits die Möglichkeit, deutsches Repertoire mit einem Orchester deutscher Tradition zu pflegen.

Auf nach Frankreich

Inzwischen ist es zu einem neuen Anlauf in dieser Richtung gekommen – und das weitaus entschiedener. Lionel Bringuier, der neue, junge Chefdirigent des Tonhalle-Orchesters Zürichs und Nachfolger David Zinmans, ist zwar auch in Nordamerika verankert: beim Los Angeles Philharmonic, wo er unter der Anleitung von Esa-Pekka Salonen und Gustavo Dudamel sein Handwerk perfektioniert hat. Von der Herkunft her ist Bringuier jedoch klar ein Vertreter der französischen Schule. Aus Nizza stammend, hat sich der heute 29-jährige Dirigent am Conservatoire National Supérieur in Paris ausbilden lassen, auch am Cello und am Klavier. Sein Auftritt beim Tonhalle-Orchester Zürich hat geradezu einen Schock ausgelöst – nicht nur seines jugendlichen Alters wegen. Das Orchester klang auch mit einem Mal ganz anders als zuvor.

Nicht französisch hell, sondern – laut, amerikanisch laut. Es war, wie wenn die Musiker losgelassen worden wären, nachdem sie mit Zinman, einem Amerikaner genuin europäischer Denkart, zwei Jahrzehnte lang einen eleganten, gezügelten und optimal auf den Saal abgestimmten Klang gepflegt hatten. Im allgemeinen wurde das als Zeichen des jugendlich frischen Zugangs gesehen; da und dort wurde gar darauf hingewiesen, dass der Tonhalle-Saal für gewisse gross besetzte Stücke zu klein dimensioniert sei. Inzwischen mehren sich aber die Stimmen, welche die grobe Lautstärke als künstlerischen Mangel empfinden. Tatsächlich gehörte es zu den ersten Aufgaben eines Interpreten, seine Darbietungen auf die räumlichen Gegebenheiten abzustimmen. Das weiss der Dirigent, der mit seinem Orchester auf Reisen geht, so gut wie der Organist mit seinen halligen Kirchen.

Bei den ersten Zürcher Konzerten Bringuiers in der Saison 2014/15 liess sich die Diskrepanz zwischen dem im Grossen Saal der Tonhalle Zürich Zuträglichen und dem vom Orchester Gebotenen durch die geringen Erfahrung des jungen Chefdirigenten entschuldigen. Inzwischen ist ein Jahr vergangen, doch die Mängel in der Kontrolle der Dynamik sind geblieben. Zur Eröffnung der Saison 2015/16, seiner zweiten in Zürich, dirigierte Lionel Bringuier Alexander Skrjabins «Poème de l’extase» – und liess das Orchester wieder Phonstärken erreichen, die zum Ohrenzuhalten waren. Die Partitur verlangt eine grosse Besetzung, es sucht die Überwaltigung durch die Masse der Mittel. Zugleich kennt es aber auch wellenförmige Steigerungsverläufe, die dem Stück mächtigen Zug verleihen. Davon war in dieser Zürcher Aufführung wenig zu hören.

Ähnliche Eindrücke hinterliess Bringuiers Beschäftigung mit Maurice Ravel – und das ist schon erheblicher. Denn Ravel ist vom Tonhalle-Orchester zum Schwerpunkt ausgerufen worden, auch im Bereich der CD-Aufnahmen und dort bewusst als Kontrast zur Ära Zinman, die in diesem Bereich den Akzent auf deutsch-österreichisches Repertoire gelegt hat. So sollen alle Orchesterwerke Ravels auf CD erscheinen – nicht mehr wie vordem auf dem Label RCA, sondern bei der Deutschen Grammophon. Als Vorbote zur grossen Box ist jetzt schon einmal eine CD mit den beiden Klavierkonzerten Ravels erschienen (Deutsche Grammophon 4794954). Und leider bestätigt sie in ihrer Weise die Befunde aus dem Konzertsaal.

Der problematische Umgang mit den dynamischen Werten, wie er in den Konzerten beim «Boléro» oder bei der Ballettmusik «Daphnis et Chloé» so ausgeprägt zutage getreten ist, spiegelt sich in diesen Aufnahmen. Reichlich handfest, ausgesprochen sportlich und sehr kräftig in der Zeichnung wird da musiziert. Gerade die grossen Steigerungen, wie sie etwa der dritte Teil des D-dur-Konzerts für die linke Hand bereithält, leiden daran, dass das Pulver zu rasch verschossen wird und im Fortissimo sich jeder nach Leibeskräften ins Zeug legt. Aber es gibt ja den Regler am Wiedergabegerät. Mit dabei ist auch wieder der Toningenieur Simon Eaden, der schon die Aufnahmen mit Zinman betreut hat; er sorgt dafür, dass das Wichtige heraustritt – hört man die Einspielungen über Kopfhörer, nimmt man den stützenden Einsatz der verschiedenen Mikrophone sehr genau wahr. Von der schlanken Geschmeidigkeit, die der französischen Musik so genuin ansteht, von ihrer filigranen Durchsichtigkeit ist aber wenig zu erfahren. Auch nicht gerade idiomatisch wirkt das fette Vibrato, das die Ersten Geigen pflegen.

Perkussiv und rhythmisch

All diesen Vorbehalten zum Trotz hat die Einspielung dennoch ihren Reiz hat. Das ist der Solistin zu verdanken. Yuja Wang geht die beiden Konzerte, so verschieden sie sind, in gleicher Weise draufgängerisch und aus dem Rhythmischen heraus an. Mit einer Energie sondergleichen und hoher Geläufigkeit – das Orchester hält da blendend mit – hämmert sie die wuchtigen Ecksätze des für die linke Hand allein geschriebenen Konzerts in D-dur heraus. In ihrem Fahrwasser spitzt Bringuier die Instrumentalfarben derart zu, dass das 1929 für den als Folge einer Kriegsverletzung einarmigen Pianisten Paul Wittgenstein geschriebene Konzert in deutliche Nachbarschaft zu Strawinskys «Sacre du printemps» von 1913 gerät. Bei dem ebenfalls um 1930 entstandenen G-Dur-Konzert mit seinen von der Harfe strukturierten Flächen kann man sich dagegen an «Daphnis et Chloé» erinnern. Yuja Wang findet hier einen eher auf das Spielerische angelegten Ton; den Anklängen an den Jazz bleibt sie deswegen nichts schuldig.

Dass die 27-jährige Pianistin aus Peking auch Sinn für die versonnene Kantilene hat, führt die Ballade n Fis-dur von Gabriel Fauré vor, die zwischen die beiden Klavierkonzerte geschoben ist. Die Wahl hat ihren Sinn, war Fauré doch einer der Lehrer Ravels. Die kleine Beigabe, die durch einen kleinen Schnittfehler bei 7’13” getsört ist, lässt freilich verstehen, warum Fauré heute so gründlich vergessen ist. Es handelt sich um ein angenehm dahinplätscherndes Salonstück für Klavier, dem auch die feurige Yuja Wang nicht viel Leben einzuhauchen vermag.