Reiz und Sinn der Exzellenz

Lucerne Festival (2):
die Berliner Philharmoniker
zwischen Höhenflug und Diensterfüllung

 

Von Peter Hagmann

 

Nach wie vor, und trotz all der wahrhaft aufwühlenden Diskussionen um Hautfarbe und Geschlecht in der sogenannten klassischen Musik, gilt beim Lucerne Festival das Primat der Kunst. Unbarmherzig, wie der Stand der besetzten Sitze im Saal des KKL Luzern erweisen. Und unbeirrbar, was die künstlerische Qualität betrifft. Beispiel dafür war das Klavierrezital des 38-jährigen Isländers Vikingur Ólafsson: neunzig Minuten unterbrechungslose Konzentration, die das Publikum am Ende sogleich von den Sitzen aufspringen liess. Wie er es auf seiner 2021 bei der Deutsche Grammophon vorgelegten CD tat, schuf er ein klingendes Porträt Wolfgang Amadeus Mozarts in seinen späteren Jahren, dies aber nicht nur mit Werken des Komponisten, sondern auch und vor allem mit Stücken aus dessen künstlerischer Umgebung.

Namen wie die von Carl Philipp Emanuel Bach, Domenico Cimarosa, Baldassare Galuppi tauchten da auf – Namen, die nie auf Konzertprogrammen erscheinen. Und Stücke erklangen, die von auffallender Originalität waren, die gleichzeitig aber auch das Genie Mozarts nur umso deutlicher aufscheinen liessen. Und das in einem wunderbar geschlossenen, im Inneren jedoch vielfältig bewegten Bogen. Der Grund für diese Geschlossenheit lag in dem Umstand, dass das Programm streng nach den Regeln des Quintenzirkels gebaut war, dass die Werke also in verwandten Tonarten zueinandergestellt waren. Nur zweimal gab es Rückungen, anfangs einmal von a-Moll nach h-Moll, am Ende einmal von c-Moll nach h-Moll – das fuhr in dieser wohltemperierten Anordnung überraschend ein.

So erzeugte die Werkfolge nach allen Regeln der Kunst einen Bann sondergleichen – auch und gerade nach den Kriterien der Interpretation. Vikingur Ólafsson kann nicht nur unerhört schnell spielen; das kann er selbstverständlich auch. Und er kann nicht nur unerhört grossen Ton hervorbringen, auch das kann er natürlich. Noch beeindruckender ist aber sein dynamisches Spektrum im Leisen: Was kann der Mann flüstern auf dem Konzertflügel, und welche Ruhe herrscht dann im Saal – es entstehen da Momente der Introspektion, die es im Kosmos des Klavierspiels selten genug gibt. Nicht weniger hinreissend des Pianisten Vermögen, die Verläufe beim Wort zu nehmen, sie gegebenenfalls bis fast in zum Zerreissen zu dehnen und dabei dem Einzelnen nachzuhorchen, nachzuspüren. Das führte in Mozarts d-Moll-Fantasie KV 397 oder seiner Sonate in c-Moll KV 457 zu unglaublicher Vertiefung und stellte auch ein Werk wie die sattsam bekannte Sonata facile in C-dur KV 545 in ganz neues Licht. Joseph Haydns h-Moll-Sonate Hob. XVI:32 ging Ólafsson an, wie es auf einem Steinway möglich und erlaubt ist, nämlich jenseits jeder Annäherung an den Klang des Hammerklaviers. So wie es Franz Liszt in seiner Adaption des «Ave verum» aus Mozarts Requiem getan hat; zu Bergen wohlklingender Kraft erhob sich hier die Musik Mozarts, um schliesslich im Verstummen zu enden. Das ist Exzellenz, wie sie für das Lucerne Festival steht.

Das Nämliche ereignete sich einige Tage später, am ersten der beiden Gastspiele der Berliner Philharmoniker, die wie stets den Höhepunkt des Festivals darstellten. Damit verbunden war freilich einiges Pech. Kirill Petrenko, der Chefdirigent der Berliner, hatte sich am rechten Fuss verletzt, wurde erfolgreich operiert und muss sich nun im Interesse der vollständigen Wiederherstellung Schonung auferlegen. So konnte er nur eines der beiden Konzerte dirigieren. Im zweiten Auftritt glänzte Tabea Zimmermann mit einer intensiven, auch wohlklingenden Auslegung des Bratschenkonzerts von Alfred Schnittke, worauf die vierte Sinfonie Anton Bruckners erklang. Die Berliner gaben das Stück auf ihrem Niveau, am Pult stand Daniel Harding, der dazu den Takt schlug, ohne Nennenswertes zu erzielen. Harding zeigte Dinge an, die im Orchester nicht geschahen, dort wiederum geschahen Dinge, denen er beflissen folgte. Das Tutti war eine Katastrophe; weder am Schluss des Kopfsatzes noch am Ende der Sinfonie war der kennzeichnende Hornruf zu vernehmen, er ging im Getöse unter. Genug; mit Exzellenz hatte das nichts zu tun, mit Dienst allerdings schon.

Gerade umgekehrt war es bei Gustav Mahlers Sinfonie Nr. 7 am Abend zuvor, einem zerklüfteten, dementsprechend selten gespielten Stück (in Luzern stand es, wie das einmal mehr sehr informative Programmheft mitteilt, erst 85 Jahre nach seiner Prager Uraufführung von 1908 auf dem Programm). Wie es Vikingur Ólafsson gelang, band Kirilll Petrenko die fünf Viertelstunden in einen schlüssigen Verlauf, ohne die Individualität der fünf Sätze zu unterspielen oder ihre Diskontinuitäten auszuebnen. Im Gegenteil, er stellte die Schärfe der Partitur, ihre Gebrochenheit, auch ihren Zeitbezug in aller Unerbittlichkeit heraus und blieb, auf der anderen Seite, der sehrenden Melancholie und ihrer fast schon gläsernen Schönheit nichts schuldig.

Die Eröffnung des Kopfsatzes breitete gleich die grandiose Farbpalette der Berliner Philharmoniker aus. Das zweite Thema nahm Petrenko langsam, und schon da war zu hören, welche Flexibilität der Tempogestaltung er anstrebt und ihm das Orchester verwirklicht. In bewundernswerter Übersicht zog er durch den Satz, Drängen stellte sich neben das Schwelgen, scharfe Blitze fuhren in die gelöste Ruhe. Den Marsch am Ende des Satzes nahm Petrenko so schneidend, dass mit Händen zu greifen war, was der Komponist im Augenblick der Niederschrift ahnte. Darauf der Mittelteil mit den beiden Nachtmusiken und dem schattenhaft dahinhuschenden Scherzo. Grossartig in der ersten Nachtmusik das eröffnende Hornsolo und sein Echo, atmosphärisch treffend die Herdenglocken, ungeheuer die diskrete, untergründige  Spannung, die nicht zuletzt durch die explizite Körpersprache des Dirigenten erzeugt wie unterstützt wurde. Freundlicher Serenadenton und ausgefeilte Kammermusik prägten die zweite Nachtmusik, in der die Gitarre und die Mandoline, rechts aussen platziert, einmal nicht nur als Geräusch, sondern mitsamt ihren Tonhöhen zu hören waren. Dies auch darum, weil die Berliner Philharmoniker nicht nur über ein glänzendes Forte verfügen, sondern auch über eine Kultur des Leisen, deren Wurzeln im Wirken Claudio Abbados liegen. Im Rondo-Finale schliesslich brach der selbstbewusste Lärm der Jahrhundertwende von 1900 aus, freilich jederzeit kontrolliert durch vorzügliche Balance, so dass auch Nebensachen zu gebührender Wirkung kamen. Höchste Orchesterkultur und sinnreiche Imagination des Interpreten am Pult kamen da in bezwingender Weise zusammen.

Vom Orchesterfest zum Zukunftslabor?

Glanzlichter und Gefahren am Lucerne Festival

 

Von Peter Hagmann

 

Während die Salzburger Festspiele explizit den Willen zur Bewahrung ihrer künstlerischen Leitlinien verkünden (vgl. «Mittwochs um zwölf» vom 18.08.21) und damit auch in diesen schwierigen Zeiten auf hohe Resonanz stiessen, scheinen beim Lucerne Festival die Zeichen auf Wandel zu stehen. Hauptsache waren bisher die Auftritte berühmter Orchester mit bedeutenden Dirigenten, was dem Luzerner Sommerfestival sein spezifisches Profil als weltweit wichtigster Marktplatz orchestraler Kunst verlieh. Rund um diese Hauptsache ist in den gut zwanzig Jahren der Intendanz von Michael Haefliger jedoch ein reich bestückter Garten von Nebensachen entstanden. Neue Musik und die Förderung des musikalischen Nachwuchses stehen da im Vordergrund – zwei Spezialgebiete, die Michael Haefliger seit seinen Anfängen als Intendant beim Davos Festival mit besonderer Aufmerksamkeit verfolgt. Ein Jahr nach der auf eine Anregung Claudio Abbados zurückgehenden Gründung des Lucerne Festival Orchestra wurde im Sommer 2004 die Lucerne Festival Academy eröffnet, die ehedem von Pierre Boulez, heute von Wolfgang Rihm künstlerisch geleitete Meisterschule für neue Musik, deren Angebot sich an junge Musikerinnen und Musiker richtet. Parallel dazu – und neben der von Mark Sattler kompetent und phantasievoll betreuten Reihe «Moderne» mit dem «Composer in Residence» – wurden neue Konzertformate erprobt; die prominentesten unter ihnen sind die kommentierten Kurzkonzerte, die unter dem Titel «40Min» ein grosses Publikum anziehen.

Dieses Jahr nun hat dieser Garten merklich an Aufmerksamkeit gewonnen. Mit der Bestellung von Felix Heri als neuem Manager der Academy wurde auch eine neue Strukturierung des Angebots vorgenommen (und die offizielle Festivalsprache durchgehend aufs Englische umgestellt…). Neben den Orchesterkonzerten, die inzwischen «Symphony» heissen, gibt es den grossen Bereich «Contemporary» und einen Sektor «Music for Future», welch letzterer auch alle Aktivitäten der Publikumsbildung und -bindung umfasst – von den Auftritten der Jugendorchester vor dem eigentlichen Beginn des Festivals über die mittägliche Reihe «Debut» und die verschiedenen Förderpreise bis hin zu den Sitzkissenkonzerten. Die bedeutendste Veränderung besteht darin, dass es das Lucerne Festival Academy Orchestra, das sich aus den jeweils an der Akademie eingeschriebenen Mitgliedern zusammengesetzt hat, nicht mehr gibt. An seine Stelle ist das Lucerne Festival Contemporary Orchestra getreten, das sich aus dem globalen, inzwischen auf über zwölfhundert Absolventen der Akademie angewachsenen Netzwerk nährt. Netzwerkdenken führt aber auch weiter in die Programmgestaltung. Statt dem liquidierten, flugs vom Luzerner Sinfonieorchester übernommenen Klavierfestival im Herbst soll es im kommenden November eine neue, kleine Veranstaltungsreihe mit dem Titel «Lucerne Festival Forward» geben, das verschiedene innovative Ansätze verfolgt. Unter anderem soll dort keine durch eine einzelne Person verkörperte künstlerische Leitung mehr wirksam werden; stattdessen sollen die Programme aus dem Contemporary-Netzwerk heraus, in einer partizipativen, auf digitaler Kommunikation beruhenden Art entwickelt werden. Mal sehen, was daraus wird.

Im Vergleich zu diesem Energieschub sehen die Orchesterkonzerte alt aus. Und leider war es, zumindest teilweise, auch zu hören – selbst bei den Berliner Philharmonikern. Auch diesen Sommer präsentierten sie sich als ein technisch höchststehendes, klanglich unverkennbares, auch sehr selbstbewusstes Orchester. Das trat schon in Carl Maria von Webers «Oberon»-Ouvertüre heraus, nur blieb hier der gestalterische Zugriff des Chefdirigenten Kirill Petrenko noch unbestimmt, zögerlich. Schön war das, aber nicht mehr. Anders die darauffolgende Wiedergabe von Franz Schuberts «Grosser» C-Dur-Sinfonie D 944, die durchaus kontroverse Reaktionen auszulösen vermochte. Petrenko hatte sich dazu entschieden, die Wiederholungen, die gerade im dritten Satz zu den berühmten «himmlischen Längen» führen, anders als viele Dirigenten durchgehend zu berücksichtigen. Er konnte es sich erlauben, basierte seine Interpretation doch auf frischen Tempi. Schon die langsame Einleitung deutete es an, das vom Komponisten vorgegebene Alla breve war jedenfalls klar zu spüren. In subtilen Schritten erreichte Petrenko dann das Allegro des Hauptteils – und da manifestierte sich des Dirigenten Sinn für Arbeit an den Zeitmassen. Immer wieder stattete er einzelne Gesten mit kleinen Beschleunigungen oder Verzögerungen aus, so wie es zu Schuberts Zeit und noch bis hin zu den Interpreten der Spätromantik üblich war. Indes blieb es in diesem Bemühen bei Ansätzen, die nicht konstitutiv wirkten.

Vor allen Dingen aber trieb Petrenko das Finale in einen förmlichen Geschwindigkeitsrausch hinein, was zur Folge hatte, dass die kleinen Tonbewegungen des Satzes nicht mehr wahrzunehmen waren. Hier wurde auch der Klang so kompakt und massiv, dass das spezifische Kolorit Schuberts auf der Strecke blieb. Vielleicht ist die bisweilen melancholische, auch fragile Klangwelt Schuberts nicht das, was Kirill Petrenko naheliegt. So gedacht am zweiten Abend, der mit einem Feuerwerk anhob: mit dem frechen, wild himmelstürmerischen Klavierkonzert Nr. 1 in Des-Dur von Sergej Prokofjew. Was Anna Vinnitskaya da an Fingerfertigkeit und metallener Kraft, auch an Klangsinnlichkeit aufbot, war stupend – und die Berliner gingen mit, hellwach und ohne je mit der Wimper zu zucken. Er recht bei sich war Kirill Petrenko in der Sinfonischen Dichtung «Ein Sommermärchen» von Josef Suk. Beredt, schwerblütig schildert der Komponist einen Tag in seinem traurigen Leben nach dem Tod des Schwiegervaters Antonín Dvořák und jenem seiner Gattin. Er tut das in Geist und Ton der Spätromantik, wenn auch mit gelegentlichen Anklängen an modernere Strömungen, etwa den Impressionismus. Leicht zu hören ist das Werk nicht, es fügt sich nicht von selbst ins Ohr. Allein, die fabelhafte Auslegung durch die Berliner Philharmoniker und Kirill Petrenko verhalf dem Werk zu pulsierendem Leben. Die Farben in enormer Pracht entfaltet, die Bögen von weitem Atem getragen, die Verlaufskurven so griffig geformt, dass Suks Schöpfung förmlich zu erzählen begann.

Ganz und gar konkret wurden auch die Bamberger Symphoniker mit ihrem Chefdirigenten Jakub Hrůša – und das bei Musik aus den letzten sechs Jahren, nämlich im «Räsonanz»-Konzert der Ernst von Siemens-Musikstiftung. Auch dieses Orchester ist hervorragend aufgestellt, seit langem übrigens: Hrůša hat ja das erstklassige Erbe von Jonathan Nott angetreten und steht im Begriff, es in einer sehr persönlichen Weise weiterzuentwickeln. Wie wörtlich das zu verstehen ist, erwies der Abend im KKL Luzern. Wo andere Dirigenten bei neuer Musik, weil sie eben neue Musik ist, die Emphase scheuen, bringt sich Hrůša als Interpret ebenso kraftvoll ein wie bei Werken von Dvořák oder Smetana. Das in Uraufführung erklingende «Offertorium» von Iris Szeghi, Teil eines gross besetzten Requiems, offenbarte seine feinnervige Faktur in aller Subtilität – auch dank der Mitwirkung der Sopranistin Juliane Banse. Im Violinkonzert von Beat Furrer, in dem Ilja Gringolts den Solopart versah, waren die klanglichen Reize und der klare Bogen von einem leisen Beginn über einen eruptiven Mittelteil zurück zum Leisen packend herausgearbeitet. Von besonderer Haptik war jedoch das Orchesterwerk «Move 01-04» von Miroslav Srnka. Der vielbeachtete Komponist aus Prag arbeitet mit Tonschwärmen, die zeichnerisch entworfenen Modellen folgen, und bringt auf dieser Basis das in grosser Besetzung angetretene Orchester zu betörend üppigem, gleichzeitig unerhört beweglichen Klang. Die Bamberger und Hrůša waren mit vollem Einsatz bei der Sache und erspielten sich einen rauschenden Grosserfolg.

Dasselbe gilt für den ersten der beiden Auftritte der Wiener Philharmoniker. Am Pult stand diesmal Herbert Blomstedt – unverwüstlich mit seinen 94 Jahren. Und angesagt war die vierte Sinfonie Anton Bruckners. Was für ein Fest. Da stimmte einfach alles. Das Orchester schenkte dem Dirigenten, was es zu schenken vermag: den kräftigen, aber doch offenen Ton, Glanz und Strahlkraft im Lauten wie flüsternde Zartheit im Leisen, restlos stimmige Übergänge, ja überhaupt ein orchestrales Zusammenwirken vom Feinsten. In einem einzigen, unglaublich geschlossenen Bogen zogen die vier Sätze von Bruckners «Romantischer» durch Raum und Zeit, und zugleich gab es in jedem Moment zu hören, was die Partitur nahelegt. Dass die Interpretation einen Zug ins Altväterische trug, dass Herbert Blomstedt bei Bruckner nicht die Schritte tut, die er bei Beethoven wagt (vgl. «Mittwochs um zwölf» vom 19.08.20), wer wollte es ihm verdenken? Im späten 20. Jahrhundert wurden neue Zugänge zu Bruckners Musik entwickelt, wurde das Geschmeidige neben dem Parataktischen, das Fragile neben dem Festgefügten entdeckt. Mit Herbert Blomstedt kehrte ein Bruckner-Bild früherer Zeiten zurück: die Sinfonie als ein in die Weite der klanglichen Flexibilität geführtes Orgelwerk, die Musik im Zeichen gründerzeitlicher Selbstgewissheit. Das geschah allerdings in einem Geist, der in seiner Konsequenz, seiner Achtsamkeit und seiner Präzision das Signum des Einzigartigen trug. Jubel und Stehapplaus.

Gefeiert wurde auch Mirga Gražinytė-Tyla – sehr zu Recht. Im Zyklus der Sinfonien Robert Schumanns, den das Luzerner Sinfonieorchester und das Tonhalle-Orchester Zürich eröffnet hatten (vgl. «Mittwochs um zwölf» vom 01.09.21), dirigierte sie die Nr. 1 in B-Dur, die «Frühlingssinfonie», und die Nr. 2 in C-Dur. Sie tat das mit einer derartigen Energie, mit einem solchen Schwung, dass man ein Mal übers andere ins Staunen geriet. Das doch sehr unterschiedliche Klima in den beiden Sinfonien traf sie überzeugend, und die vom Klavier her gedachte, aber orchestral meisterlich ausgefächerte Faktur liess sie von innen her prachtvoll leuchten. Gewiss, nicht alles gelang. In der C-Dur-Sinfonie blieb das wunderschöne Adagio espressivo des dritten Satzes seltsam unbeteiligt. Obwohl die Dirigentin meist die Achtel schlug, wurde der Zwei-Viertel-Takt doch spürbar, nur kamen die geteilten Bratschen, die sich synkopisch zwischen die Ober- und die Unterstimme legen, nicht wirklich zur Geltung. Und die beiden grossartigen Aufschwünge in der Mitte dieses Satzes entbehrten der Spannkraft. Mag sein, dass das auch auf das Mozarteum-Orchester Salzburg zurückging, eine in jeder Hinsicht mittelmässige, schläfrig wirkende Formation, die sich auch durch den unerhörten Körpereinsatz der zierlichen Frau am Pult nicht aufrütteln liess. Warum ein solches Orchester beim Lucerne Festival auftritt, ist ein Rätsel; es dient weder der charismatischen jungen Dirigentin noch dem Festival und seinem Publikum.

Nicht nur das, es ist auch Symptom: Das Herzstück des Lucerne Festival schwächelt. Es hat an Bedeutung wie an Ausstrahlung eingebüsst; unter den «Essentials» des Festivals wird es im Generalprogramm nicht einmal erwähnt. Keine Frage, in diesen Zeiten der Pandemie mit ihren Einschränkungen und Planungsunsicherheiten ein Orchesterfest durchzuführen, ist alles andere als einfach. Das Lucerne Festival liess sich nicht unterkriegen und hat Erstaunliches zustande gebracht. Die Zeichen der Ermüdung, die merklich kontrastieren mit dem Aufbruch in anderen Bereichen des Programms, sind freilich nicht auf die Pandemie zurückzuführen, sie haben ästhetische, wenn nicht systemische Gründe. Neben den Höhepunkten, von denen hier die Rede war, gibt es einen Überhang an Immergleichem und leider auch an Gewöhnlichem. Dreimal Barenboim, zweimal mit dem Diwan-Orchester, einmal mit der Staatskapelle Berlin, das ist entschieden zu viel. Und am Pult kommen Dirigenten zu Wort, die den Betrieb aufrechterhalten, aber wenig zu sagen haben, während künstlerisch aufsehenerregende Vertreter, zumal solche jüngerer Generation, ausgeschlossen bleiben. Wo ist das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks, wo die Dresdener Staatskapelle oder das Gewandhausorchester? Und wo ist ein Dirigent wie François-Xavier Roth, der im Kölner Gürzenich hervorragende Arbeit leistet und ausserdem mit Les Siècles ein aufregendes Orchester mit Instrumenten aus der Entstehungszeit der gespielten Kompositionen betreut? Das SWR-Sinfonieorchester Stuttgart mit seinem Chefdirigenten Teodor Currentzis kommt zwar ins KKL, aber nicht im Rahmen des Lucerne Festival – warum? Und warum tritt das Concertgebouworkest nicht einmal mit Krzysztof Urbánski oder Santtu-Matias Rouvali statt mit einem der Entbehrlichen auf? Erneuerung tut not. Auf dass das Orchesterfest das bleibe, was es für das Lucerne Festival sein soll: «Das Gipfeltreffen der Besten».

Neue Horizonte

Lucerne Festival (II): Das Gastspiel der Berliner Philharmoniker

 

Von Peter Hagmann

 

Im Goldenen Dreieck der deutschen Orchesterkultur gibt es Wellenschlag. Nicht bei der Staatskapelle Dresden, die mit ihrem als Dirigent bewunderten, als Interpret jedoch umstrittenen Chef Christian Thielemann ihr ausserordentliches Niveau zu halten versteht. Aber beim Gewandhausorchester Leipzig, wo seit 2018 Andris Nelsons am Wirken ist. Der vierzigjährige Lette ist in Leipzig mit offenen Armen empfangen worden und hat mit bemerkenswerten Bruckner-Aufnahmen bei der Deutschen Grammophon (vgl. Mittwochs um zwölf vom 20.06.18) auf sich aufmerksam gemacht. Der erstmalige Auftritt des Orchesters mit seinem neuen Chef in den Konzerten des Lucerne Festival vermochte jedoch nur in Teilen zu überzeugen; Nelsons, der neben seinen Aufgaben in Leipzig auch das Boston Symphony Orchestra leitet, wirkte verkrampft, was deutlich zu hören war (vgl. NZZ vom 28.08.19). Zeichen des Aufbruchs sind freilich bei den Berliner Philharmonikern zu beobachten. Sie kamen nicht zum ersten Mal mit Kirill Petrenko nach Luzern (vgl. Republik vom 14.09.18), debütierten aber mit ihm als inzwischen voll installiertem Chefdirigenten.

Zur Sensation geriet dabei die Wiedergabe von Peter Tschaikowskys Sinfonie Nr. 5. Was einen da erwarten würde, liess schon die im Frühsommer erschienene Aufnahme von Tschaikowskys Sechster im orchestereigenen Label der Berliner Philharmoniker erahnen. Dazu kam für mich das Zurückdenken an denkwürdige Tschaikowsky-Trilogie mit «Mazeppa», «Eugen Onegin» und «Pique Dame», die Petrenko gemeinsam mit Peter Stein in den Jahren 2006 bis 2008 für die Oper von Lyon erarbeitet hat – ein Projekt, das die genuine Nähe des Dirigenten zur Musik Tschaikowskys ans Licht brachte. Genau das zeichnete auch die Luzerner Aufführung von Tschaikowskys Fünfter aus. Der Klang schien direkt aus dem Inneren Petrenkos herauszufliessen, er war von einer vibrierenden Intensität und einer glühenden Wärme erfüllt, ohne dass sich je ein Zug ins Pathetische eingestellt hätte.

Wie es sein Vorvorgänger Claudio Abbado bei dieser Musik tat, liess Petrenko dem emotionalen Fluss freien Lauf. Zugleich aber hielt er das Geschehen fest in der Hand und sorgte er für die scharfe Zeichnung der Einzelheiten. Zu Beginn des zweiten Satzes etwa fand die Einleitung der Streicher sorgfältigste Ausformung in der Dynamik, während Stefan Dohr und Andreas Ottensamer an Horn und Klarinette nicht nur überirdische Schönheit des Leisen erzeugten, sondern auch die Artikulation, die Unterscheidung zwischen dem Gebundenen und dem Gestossenen, äusserst nuanciert verwirklichten. Überhaupt schienen sich an diesem Abend die Berliner und ihr neuer Chefdirigent in denkbar vielversprechender Weise gefunden zu haben; das Orchester agiert auf ganzer Höhe, gerade auch in den Momenten der vollen Kraftentfaltung.

Und ohne Scheu präsentierte Petrenko vor dem bewegenden zweiten Teil mit Tschaikowsky das Violinkonzert von Arnold Schönberg – ein Stück, an dem man sich achtzig Jahre nach seiner Uraufführung durchaus noch die Zähne ausbeissen kann. Zumal dann, wenn eine kompromisslose Künstlerin wie Patricia Kopatchinskaja den Solopart übernimmt. Mit ihrem unerhört impetuosen Zugriff stellte die Geigerin das seine Orientierung an klassischen Modellen nicht verbergende Konzert als ein Stück avancierter Moderne dar. Unglaublich die Spannung, die sie schon nach wenigen Takten zu erzielen wusste, hinreissend die Kontraste in ihrer ersten Kadenz, zauberhaft die Flächen des Leisen am Schluss, aus  denen immer wieder Fontänen letzter Intensität herausschossen.

Gastorchester am Lucerne Festival

Zwischen Aufbruchsstimmung und Katzenjammer

 

Von Peter Hagmann

 

Vgl. www.republik.ch vom 14.09.18

Hie Stillstand, dort Aufbruch

Lucerne Festival – Brennspiegel der Orchesterkultur

 

Von Peter Hagmann

 

Reich bestückt ist inzwischen der Garten rund ums Schloss, und zahlreich sind die darin beschäftigten Gärtner. Es gibt dort Zonen für die Kleinsten unter uns und solche für die Liebhaber kürzerer Veranstaltungen, es gibt Sektoren für das Neuste vom Tage und sogar ein eigenes, sehr schön ausgebautes Haus für die vertiefende Ausbildung in diesem Bereich. Allein, im Zentrum steht nach wie vor das Schloss selber – und das ist in der Sommerausgabe des Lucerne Festival die Reihe der fast dreissig Sinfoniekonzerte. Eine Plattform, auf der sich innerhalb von gut vier Wochen die bedeutendsten Orchester der Welt mit ihren Dirigenten begegnen, existiert meines Wissens nirgendwo sonst. Und das Interesse an dieser Art Kür scheint ungebrochen; von diesen Konzerten aus auf Zerfallserscheinungen irgendwelcher Art zu schliessen, wäre jedenfalls verkehrt. Sie haben Zukunft, das zeigt die Gegenwart.

Eine der Besonderheiten besteht darin, dass angesichts der Luzerner Konkurrenzsituation die gastierenden Orchester, jedenfalls die meisten unter ihnen, in erstklassigen personellen Konstellationen und mit Produktionen auftreten, die auf Hochglanz poliert sind. Das führt immer wieder zu Konzerterlebnissen der ganz eigenen Art. Die Berliner Philharmoniker zum Beispiel sind diesen Sommer zum letzten Mal mit Simon Rattle nach Luzern gekommen – wie stets auf dem Rückweg von den Salzburger Festspielen und wie jedes Jahr zum Ende des Sommers. Im ersten ihrer beiden Auftritte gab es ein neues Werk von Georg Friedrich Haas und «Die Schöpfung» von Joseph Haydn. Womit Rattle noch einmal in Erinnerung rief, in welcher Weise er in seinem anderthalb Jahrzehnte umfassenden Wirken als Chefdirigent das Repertoire und die Spielkultur des Orchesters erweitert hat. Zu einem wahrhaft fulminanten Abschied geriet jedoch der zweite Auftritt, der zwei Sinfonien von Dmitri Schostakowitsch aufeinander folgen liess: die erste und die letzte.

Fast fünfzig Jahre liegen zwischen den beiden Werken – zwischen der aufschiessenden, extravertierten, hoffnungsvollen Examensarbeit von 1925 und dem in sich gekehrten, hörbar depressiven und klanglich extrem ausgedünnten Schwanengesang von 1971. Was für ein Leben, was für ein Schaffensbogen tut sich auf – das in einem Konzertprogramm bewusst zu machen, ist allein schon ein Verdienst. Und dann die klingende Umsetzung. Unglaublich zart, mit dem Silberstift gezeichnet, dazu in höchsten Masse anteilnehmend die fünfzehnte Sinfonie in A-dur. Hochpräzise im Rhythmischen, geschmeidig in den vielen brechenden Taktwechsel, leuchtend im Farbenspiel zwischen den verschiedenen, häufiger getrennt als gemeinsam agierenden Orchestergruppen. Die erste Sinfonie in f-moll dagegen: virtuos gesetzt vom Komponisten und vom Orchester blendend realisiert. Eine sagenhafte klangliche Palette tat sich da auf – mit Streichern in kompakter Wärme, mit strahlenden Blechbläsern, mit charakteristischen Holzbläsern. Das Lucerne Festival Orchestra wird sich gewaltig anstrengen müssen, so der Eindruck danach. Und grosse Schuhe sind das, die für Kirill Petrenko im nächsten Sommer bereitstehen.

Noch bemerkenswerter als der einzelne Höhepunkt erscheint in der Abfolge der Luzerner Sinfoniekonzerte jedoch die Möglichkeit, den Puls der Orchesterkultur zu fühlen und aktuelle Tendenzen aufzuspüren. In besonders krasser Weise war das vor zwei Tagen möglich: beim ersten der beiden traditionellen Auftritte des Koninklijk Concertgebouworkest Amsterdam. Eines allseits und sehr geschätzten Klangkörpers – als Bernard Haitink, als Riccardo Chailly, als Mariss Jansons das Zepter führten. Mit dem derzeitigen Chefdirigenten Daniele Gatti hat das Orchester kein Glück, wie die Wiedergabe von Anton Bruckners Sinfonie Nr. 9 erwies. So aufgeplustert und öde, so langsam und zugleich unerfüllt, so grob und hart im Klang war das Stück im Konzertsaal des KKL vielleicht noch gar nie zu hören. Der Kopfsatz fürchterlich altmodisch in Stein gehauen, das (unerklärlicherweise attacca angeschlossene) Scherzo stampfend, als ob eine Armee daherkäme, der langsame Satz mit seinen drei gewaltigen Ausbrüchen ohne klaren dynamischen Aufbau – wie ist so etwas möglich?

Immer wieder hat Gatti dabei, übrigens vergeblich, die Faust geballt. Genau das ist es, was Gott sei Dank vorbei ist. Die Sommerausgabe des Lucerne Festival hat gezeigt, dass der interessante Wind aus anderer Richtung weht. Mit seinem harschen Zugriff bei den Tondichtungen von Richard Strauss hat das auch Riccardo Chailly am Pult des Lucerne Festival Orchestra erfahren; soll das ausserhalb der Rankings stehende Niveau erhalten bleiben, wird er auf das Orchester und seine ganz anders gelagerte, in der Kammermusik, im gegenseitigen Zuhören und darum im Leisen verankerte Mentalität zugehen müssen. Die besten Momente haben sich diesen Sommer dort ergeben, wo Parameter solcher Art herrschten: beim Chamber Orchestra of Europe, das mit Bernard Haitink in ungeahnte Tiefen des musikalischen Empfindens vorgedrungen ist (vgl. die Besprechung vom 23.08.17), bei den Berliner Philharmonikern, deren Potential Simon Rattle grossartig genutzt und weiterentwickelt hat, vor allem aber beim City of Birmingham Symphony Orchestra, das mit seiner jungen Chefdirigentin Mirga Gražinytė-Tyla zu neuen Ufern aufgebrochen ist (vgl. die Kritik in der NZZ vom 05.09.17). Das gibt Hoffnung.

Lucerne Festival (5) – Orchester und Dirigenten

 

Peter Hagmann

Was zählt, ist noch immer die Qualität

Erkundungen in Sachen Orchesterkultur

 

Ist das nun der befürchtete Scherbenhaufen? Nach der Abstimmung im Luzerner Kantonsparlament, das am 12. September, am Montag nach Abschluss der erfolgreichen Sommerausgabe des Lucerne Festival, den von der Kantonsregierung begehrten Projektierungskredit für die Salle Modulable in der Höhe von 7 Millionen Franken mit 62 gegen 51 Stimmen (bei 2 Enthaltungen und 5 Abwesenden) verworfen hat, steht diese Frage absolut im Raum. Wie wird sich die Stadt, deren Parlament sich demnächst ebenfalls zu dem Projekt äussern soll, jetzt verhalten? Was werden die Initianten dem fatalen Votum entgegensetzen? Ist das Projekt, das für die Entwicklung der darstellenden Kunst und die Ausstrahlung der Kulturstadt Luzern so einzigartige Perspektiven böte, definitiv beerdigt? Noch ist nicht aller Tage Abend, in der Politik gilt das ganz besonders. Aber der Rückschlag ist bitter.

Zumal die diesjährige Sommerausgabe des Lucerne Festival über ein ganz besonderes Profil verfügte. «PrimaDonna», das Thema dieses Jahres, das die Rolle der Frau in der klassischen Musik, insbesondere in der führenden Position am Dirigentenpult in den Blick nahm, hat Fragen aufgeworfen, die nah an den gesellschaftlichen Verhältnissen unserer Zeit stehen. Gleichzeitig, und Besseres hätte wohl nicht geschehen können, hat sich das Thema selber ausser Kraft gesetzt. Durch den bewussten Einbezug von Frauen ins sommerliche Geschehen – ein thematisch zentrierter «Erlebnistag» öffnete Dirigentinnen den Weg ans Pult, Olga Neuwirth trat als «composer in residence» in Erscheinung – wurde offenkundig, dass die klassische Musik weiter ist, als es den Anschein hat; jedenfalls betreten Frauen heute die Bühnen ohne lauten Ton, aber unmissverständlich. Bei einem ausserordentlichen Talent wie Mirga Gražinytė-Tyla, der 30jährigen Dirigentin aus Litauen, die soeben die Leitung des City of Birmingham Symphony Orchestra übernommen hat, wurde deutlich, dass es in der Tonkunst zuallererst noch immer um die Qualität, keineswegs aber um das Geschlecht geht. Die Frau, die etwas bietet, setzt sich nicht weniger durch als der entsprechende Mann.

Der Blick zurück

Dass sich die Qualität keineswegs von selbst versteht, das war bei den 28 Orchesterkonzerten, die nach wie vor das Rückgrat des Lucerne Festival bilden, mit Händen zu greifen. Als vielversprechend darf der Einstand von Riccardo Chailly an der Spitze des Lucerne Festival Orchestra gelten. Die achte Sinfonie von Gustav Mahler wurde – mit allen Einschränkungen, die das Ende des ersten Teils betreffen – zu einem Ereignis der besonderen ersten Art. Genauso die Sinfonie Nr. 8 von Anton Bruckner, die der 87jährige Bernard Haitink im zweiten Auftritt des Festivalorchesters magistral auslegte. Es geht doch nichts über alte Meister – das bestätigte Herbert Blomstedt am Pult des Leipziger Gewandhausorchesters. Knapp zwei Jahre älter als Haitink, eilte er behende zum Podium; dort stand er seine neunzig Minuten aufrecht durch – denn Blomstedt dirigierte, auswendig notabene, Bruckners Fünfte. Dabei schöpfte er aus der Fülle seiner Erfahrung, was ihm erlaubte, die Energien effizient zu bündeln und die klanglichen Gewichte optimal in Balance zu halten. Zugleich zeigte er sich ganz auf der Höhe der Zeit: stand er für eine aktuelle Sicht auf Bruckner ein – logischerweise, hat er sie doch selbst mitgestaltet hat. Schlank und durchhörbar blieb darum der Klang, zügig waren die Tempi angelegt, für Pathos blieb keine Zeit. Umzog mehr Aufmerksamkeit galt den Strukturen; trennscharf und bis weit ins Innere des Geschehens hinein erkennbar erklang etwa das Finale mit seinen ausgedehnten fugierten Teilen.

Bei Daniele Gatti, den sich das Koninklijk Concertgebouworkest Amsterdam als Chefdirigenten ans Pult geholt hat, war es gerade umgekehrt. Fast 35 Jahre jünger als Blomstedt, wirkte er als Interpret um Jahrzehnte älter als sein Kollege. Er hatte sich Bruckners Vierte vorgenommen, die lyrisch singende «Romantische», die bei ihm dick und fett, klanglich massiv und mit schwerer Emotion beladen daherkam. Unglaublich gedrosselt die Tempi. Gewiss, das Orchester wusste diese Verläufe zu tragen, da Mariss Jansons seinem Nachfolger einen Klangkörper in ausgezeichneter Verfassung hinterlassen hat, und der Dirigent verstand sie mit Spannung zu erfüllen. Dennoch wirkte Gattis Ansatz im Ganzen unangenehm mystifizierend, bisweilen führte er gar zu Anflügen von Kitsch. Dass Bruckners Musik nicht reines Gefühl verströmt, vielmehr hochgradig strukturiert ist und lebendig atmet, das haben in der jüngeren Vergangenheit Dirigenten wie Günter Wand oder Nikolaus Harnoncourt vorgeführt; Daniele Gatti scheint davon nichts zu Kenntnis nehmen zu wollen. So war nicht weiter verwunderlich, dass auch die Ouvertüre zu Carl Maria von Webers leichtfüssiger Zauberoper «Oberon» ausgesprochen zähflüssig geriet. Dem wunderbaren Concertgebouworkest könnten schwierige Jahre bevorstehen.

Das dürfte auch für die Münchner Philharmoniker gelten, die sich für Valery Gergiev als neuen Chefdirigenten entschieden und sich damit im Vorfeld des Amtsantritts erhebliche Turbulenzen eingehandelt haben. Sie sind – das ist nun mal so Sitte und macht eine der Besonderheiten des Luzerner Festivals aus – in dieser neuen Konstellation gleich ins KKL gekommen und haben dort denkbar unglückliche Figur gemacht. Das Orchester erschien als mau und klang unidentifiziert, ohne Persönlichkeit und Ausstrahlung – in der Luzerner Konkurrenzsituation nicht gerade von Vorteil. Allerdings war das auch kein Wunder angesichts eines Programms, das mit Auszügen aus «Romeo und Julia» von Sergej Prokofjew, mit der Fantasie über «Die Frau ohne Schatten» und der Tondichtung «Don Juan» von Richard Strauss sowie dem «Poème de l’extase» von Alexander Skrjabin lauter Reisser enthielt. Valery Gergiev, der wieder mit seinem Zahnstocher in der Hand agierte und genialisch in die Musik hineinbrüllte, gelang es nicht, den vier Werken je eigenes interpretatorisches Profil zu schaffen, es klang alles ähnlich laut und schwarzweiss. Wenn im «Poème de l’extase» die Wellenbewegungen den Zuhörer nicht mitreissen, wenn im «Don Juan» kein jugendfrischer Enthusiasmus aufschiesst, dann stimmt etwas nicht. Auffallend mässiger Beifall und betretene Gesichter.

Auch nicht gerade prickelnd geriet der Auftritt des Cleveland Orchestra, mit dem es in den nächsten vielleicht einmal eine Pause geben könnte. Seinem langjährigen Chefdirigenten Franz Welser-Möst ist es gelungen, die «Musik für Saiteninstrumente, Schlagzeug und Celesta» trotz korrekter Aufstellung des Orchesters mit dem Klavier in der Mitte (und einer fulminanten Pianistin) so spannungsarm und farblos erscheinen zu lassen, dass die Köpfe bald nach vorne fielen. Beethovens «Eroica» lud er dafür derart auf, dass die Wände wackelten, denn das Orchester war stark besetzt und klanglich auf  mächtige Kompaktheit getrimmt. Das erlaubte dem Dirigenten, in der Wahl der Tempi den Wünschen des Komponisten zu folgen, was neueren Erkenntnissen entspricht; die Wiederholung der Exposition liess er nach alter Väter Sitte dann aber wieder aus. Laut, aber unerhört klangschön fuhren auch die Berliner Philharmoniker ein; fast hatte es den Anschein, als habe sich Simon Rattle mehr von der Pracht des Orchesters verführen zu lassen, als dass er sie gestaltet hätte. Bei den acht Slawischen Tänzen von Antonín Dvořák wurde das zum Problem. So verdienstvoll die Idee war, sie einmal nicht als Zugaben zu verwenden, sondern sie als Sammlung in ihrer Gesamtheit erklingen zu lassen, so rasch verflog der Reiz, weil sich die einzelnen Stücke – auch und gerade in der orchestralen Ausführung – zu ähnlich waren. Und die Sinfonie Nr. 2 von Johannes Brahms, das lichte, sommerliche Werk in D-dur, fand an diesem Abend der Berliner einen Ton, dessen unerhörte Kompaktheit der Partitur doch merklich widersprach.

Ein Debüt

Unter dem Strich sorgten diesen Sommer die etablierten Grössen weder für An- noch für Aufregung. Besorgniserregend ist das noch nicht, es bildet eher den courant normal ab, der beim Lucerne Festival (und nur dort in dieser Breite wie dieser Dichte) sehr genau beobachtet und bemessen werden kann. Für Aufsehen ausserhalb des Gewohnten sorgte ein Newcomer. Es war der Russe Kirill Petrenko, der in absehbarer Zukunft als Chefdirigent der Berliner Philharmoniker nach Luzern kommen wird. Sein Luzerner Debüt absolvierte er aber noch mit dem Bayerischen Staatsorchester München, dem Orchester der Bayerischen Staatsoper, bei der er als Generalmusikdirektor zum Rechten schaut – und er schuf eine Sensation, wie sie vor zwei Jahren dem Schweizer Philippe Jordan und dem von ihm geleiteten Orchester der Oper Paris gelungen ist. Welch glühende Verbindung zwischen Orchester und Dirigent, welch feuriges Musizieren auf der Stuhlkante – und was für ein Effekt beim jubelnden Publikum. Das Vorspiel zum ersten Aufzug von Wagners «Meistersingern» feingliedrig und äusserst ziseliert, die Vier letzten Lieder von Richard Strauss mit Diana Damrau in einer Innigkeit sondergleichen – und zum Abschluss doch tatsächlich dessen «Sinfonia domestica», das nicht gerade von ironischer Distanz lebende Selbstporträt des jungen Komponisten als Hausvater mit zickiger Gattin und süssem Kleinkind. Nur wer diese überladene Partitur bis ins Innerste zu zügeln vermag und sie dennoch wie ein Feuerwerk explodieren lassen kann, darf es wagen, sie aufs Programm zu setzen. Kirill Petrenko ist es gelungen – ein Sieg der Qualität.

Ehrenrettung für Sibelius

 

Peter Hagmann

Ein Kantiger, klangvoll beim Wort genommen

Simon Rattle und die Berliner präsentieren die Sinfonien von Jean Sibelius

 

Der Bannfluch, mit dem Theodor W. Adorno in einem Text von 1938 Jean Sibelius belegt hat, haftet dem finnischen Spätromantiker bis heute an. 1968 in einer Sammelausgabe musikalischer Schriften Adornos noch einmal aufgelegt, kam er zu voller Wirkung. Er bereitete den Weg für die Verachtung, mit der Zeitgenossen, die sich für aufgeklärt hielten, dieser Musik begegneten – und eben bis in unsere Tage begegnen. Dabei ist das Argumentarium Adornos einigermassen schwachbrüstig, und noch weitaus bedenklicher ist seine Art der Formulierung. Sibelius’ Themen, schreibt Adorno zum Beispiel, beständen aus unplastischen und trivialen Tonfolgen; sie glichen «einem Säugling, der vom Tisch herunterfällt und sich das Rückgrat verletzt. Sie können nicht richtig gehen. Sie bleiben stecken. An einem unvorgesehenen Punkt bricht die rhythmische Bewegung ab: der Fortgang wird unverständlich. Dann kehren die simplen Tonfolgen wieder; verschoben und verbogen, ohne doch von der Stelle zu kommen.»

Eigentlich erstaunlich, dass Sätze dieser Art zu derart schwerwiegender Wirkung geführt haben. Tatsache ist jedenfalls, dass das Schaffen von Sibelius, ganz besonders der Korpus seiner sieben Sinfonien, doch deutlich am Rand des Repertoires steht – wenigstens hierzulande und in gewiss unterschiedlichem Mass. Als Brite teilt der Dirigent Simon Rattle die kontinentaleuropäischen Berührungsängste allerdings nicht. Unverkrampft gibt er sich politisch inkorrekter, nämlich in je eigener Weise dem Vokabular des ausgehenden 19. Jahrhunderts verpflichteter Musik hin: den «Enigma-Variationen» und dem «Dream of Gerontius» von Edward Elgar oder der Sinfonischen Dichtung «The Planets» von Gustav Holst. Er tut es ebenso selbstverständlich, wie er die «Gruppen» von Karlheinz Stockhausen, «Eclairs sur l’Au-delà» von Olivier Messiaen oder die zehnte Sinfonie von Hans Werner Henze dirigiert.

So legt jetzt Simon Rattle zusammen mit den von ihm geleiteten Berliner Philharmonikern zum 150. Geburtstag von Sibelius Ende 2015 dessen sieben Symphonien im luxuriösen Format der «Berliner Philharmoniker Recordings» vor. Die Aufnahmen basieren auf Konzertmitschnitten, die im Laufe des Jahres 2015 in der Berliner Philharmonie entstanden sind. Sie werden auf vier Compact Discs präsentiert, ausserdem auf einer Blu-Ray Disc in der besonders hohen Audio-Qualität sowie, ebenfalls auf einer Blu-Ray Disc, als Videoaufzeichnungen. Dazu gibt es ein opulentes Booklet, in dem sich etwa der finnische, in Deutschland wirkende Sibelius-Spezialist Tomi Mäkelä seine Gedanken macht – auch über Adorno.

Nicht minder prachtvoll, und das ist das Entscheidende, wird hier musiziert. Hochemotional, spannungsgeladen und zugleich strukturklar geht Simon Rattle zu Werk; klangsatt, aber ohne jeden Abrutscher ins Kitschige schafft er hörbare Wirklichkeit; und nicht ohne Eleganz setzt er die Musik dieses Kantigen ins Recht – die Schärfung des interpretatorischen Profils im Vergleich zur Gesamtaufnahme der Sinfonien von Sibelius, die Rattle in den frühen 1980er Jahren mit dem City of Birmingham Symphony Orchestra erstellt hat, ist nicht zu überhören. Und die Berliner Philharmoniker tragen den gestalterischen Impetus ihres Chefdirigenten ohne Einschränkung mit. Unglaublich, mit welcher Hingabe sie sich den Kompositionen stellen, mit welcher Farbenpracht sie diese so eigene Musik leuchten lassen. Wie sehr die Musik von Sibelius der Landschaft verpflichtet ist, in der sie entstanden ist – in diesen Aufnahmen ist es mit Händen zu greifen. Dass hier irgendetwas von irgendwo heruntergefallen und zerbrochen sei, allerdings weniger.

Lucerne Festival (4) – Deutscher Klang

 

Peter Hagmann

Altgold und Edelstahl

Die Staatskapelle Dresden und die Berliner Philharmoniker als ungleiche Nachbarn

 

Die Berliner Philharmoniker haben wieder einmal die Nase vorn. Zu allgemeiner Überraschung wählten sie kurz vor der Sommerpause Kirill Petrenko zum neuen Chefdirigenten und Nachfolger Simon Rattles wohl ab Herbst 2018. Viele Namen waren im Vorfeld der Wahl genannt worden, besonders häufig der von Christian Thielemann, dem derzeitigen Chefdirigenten der Sächsischen Staatskapelle Dresden, der von vielen Seiten in einer Favoritenrolle gesehen wurde, der sich mit seinen problematischen Äusserungen gesellschaftspolitischen Inhalts von Anfang 2015 die Chancen allerdings nochmals merklich geschwächt hat. An Petrenko hatte indessen kaum jemand gedacht. Dabei hat der 43-jährige Russe an allen seinen Stationen aufsehenerregende Figur gemacht – nur waren das Arbeiten im Bereich des Musiktheaters. Der letzte Bayreuther «Ring», «Die Frau ohne Schatten» von Strauss und Bernd Alois Zimmermanns «Soldaten» an der Bayerischen Staatsoper München oder die Tschaikowsky-Trilogie der Jahre 2006 bis 2008 an der Opéra de Lyon – alles musikalisch einzigartige Abende. Da ist, auch wenn eine Spur Risiko bleibt, der richtige Mann an den richtigen Ort gerufen worden.

Haydn-Apéritif

Nicht dass mit dem Amtsantritt Kirill Petrenkos eine lang ersehnte neue Ära anbräche, das keineswegs. Im vergangenen Jahrzehnt mit Simon Rattle haben sich die Berliner Philharmoniker in hocherfreulicher Weise weiterentwickelt. Haben sie ihren orchestralen Standard vorangebracht, Neues entdeckt und Bewährtes neu beleuchtet, das digitale Zeitalter in den Blick genommen und in grossem Stil Programme für Jugendliche eingeführt. Kein Orchester vergleichbarer Qualität – gibt es das? – hat beim Lucerne Festival das spätromantische Repertoire auf so hochstehendem Niveau gepflegt und zugleich so kontinuierlich und selbstverständlich Musik aus dem reichen Fundus des 20. und 21. Jahrhunderts eingebracht. «Surrogate Cities» von Heiner Goebbels (2003), «Eclairs sur l’au-delà» von Olivier Messiaen (2004), die Uraufführung des Geigenkonzerts «In tempus praesens» von Sofia Gubaidulina (2007) oder «Atmosphères» von György Ligeti (2012) mögen ebenso daran erinnern wie Mahlers Siebte und Bruckners Neunte von 2011. An erstklassigen Momenten hat es bei diesen Auftritten nicht gefehlt.

So war es auch dieses Jahr. In Übereinstimmung mit der Suche nach dem Humor in der Musik, die das Lucerne Festival diesen Sommer betreibt, erschienen die Berliner Philharmoniker im zweiten ihrer beiden Konzerte mit einem von Simon Rattle zusammengestellten Pasticcio aus dem Schaffen Joseph Haydns, das allerlei Besonderes, Überraschendes, Witziges zu einem sehr unterhaltsamen Bouquet zusammenführte. Darf man das? Soll man das? Im Lichte der Auffassungen von der Unberührbarkeit des musikalischen Kunstwerks, wie sie das spätere 19. Jahrhundert ausgeprägt hat und wie sie bis heute Allgemeingut sind, natürlich nicht. Und ebenso rasch ist der Einwand zur Stelle, dass es geradezu typisch ist, eine solche Abfolge einzelner Sätze ausgerechnet bei Haydn an die Hand zu nehmen – beim allerheiligsten Anton Bruckner wäre solches schlechterdings undenkbar. Dazu kommt die natürlich ungewollte Nähe zu der kommerziell motivierten Häppchenkultur, wie sie im Internet und bei privaten Radio-Stationen üblich ist.

Auf der anderen Seite ist es einen Tatsache, dass im Rahmen der Zweitverwertung von Kompositionen deren Einfügung in neue Konfigurationen in früheren Zeiten gang und gäbe war. Bach hat weltlichen Vokal-Kompositionen geistliche Texte unterlegt und auf diesem Weg Kantaten gewonnen, Vivadi hat sich bei Kollegen bedient und dergestalt ganze Opern komponiert, während sich Richard Strauss und Maurice Ravel nicht zu schade waren, aus ihren Kompositionen fürs Musik- und Tanztheater Suiten zusammenzustellen, die ihre Musik unter die Leute bringen sollten. Nur waren da eben stets die Komponisten selbst am Werk, während im Fall des in Luzern vorgestellten Haydn-Pasticcios ein Interpret Hand angelegt hat – wenn auch einer, der sich die Sache nicht leicht gemacht, sondern aus inniger Liebe heraus gehandelt hat. Und auf diesem Weg eine Art Ehrenrettung für einen viel zu wenig geschätzten Komponisten versucht hat.

Jedenfalls liess die «Symphonie imginaire» nach Joseph Haydn, die Simon Rattle gemeinsam mit dem Dramaturgen Markus Fein zusammengestelllt hat, die sprudelnde Originalität des Kapellmeisters am Hof der Esterházy in nuce erleben. Von der gewagten Vorstellung des Chaos in der «Schöpfung» bis zu dem verrückten Finale der grossen Ouvertüre zu «L’isola disabitata», das man anders nie zu Gehör bekäme. Von dem ausgefallenen Largo aus der A-dur-Sinfonie, der Nummer 64, bei dem Bratsche, Fagott und sogar der Kontrabass solistisch auftreten, bis zum Finale der C-dur-Sinfonies, Hob. I:60, dessen Effekt mit den verstimmten Geigen Simon Rattle viel krasser herausstellte, als es Bernard Haitink im Eröffnungskonzert getan hatte. Und selbstverständlich durfte das Ende der Abschiedssinfonie, Hob. I:45, nicht fehlen, bei dem sich, als Scherenschnitt vor dem matt beleuchteten Hintergrund des Orchesterpodiums im KKL, ein Musiker nach dem anderen verzog – worauf sich die aus dem Lautsprecher klingenden Spieluhren, für die Haydn gern und oft komponiert hat, dichter und dichter ineinander verwoben. Sehr erheiternd war das. Und tadellos gespielt.

Nämlich auf der Höhe der Zeit. So wie es zu Beginn des Abends bei der Sinfonia concertante in Es-dur, KV 364, von Wolfgang Amadeus Mozart geschah – dies als kleiner Fingerzeig nach Wien, denn mit genau diesem Stück hatten die Wiener Philharmoniker vor Jahresfrist auf dem Luzerner Podium einen einigermassen peinlichen, weil technisch unzulänglichen und ästhetisch vorgestrigen Auftritt. Querverbindungen solcher Art gibt es bei Simon Rattle immer wieder – und gab es auch am ersten Abend des Gastspiels. Denn sozusagen als Kontrast zu der vom Boston Symphony Orchestra und Andris Nelsons vorgestellten Sinfonie Nr. 10, mit der sich Dmitri Schostakowitsch innerlich von dem soeben verstorbenen Diktator Josef Stalin löste, erschienen Rattle und die Berliner mit Schostakwitschs Vierter – mit jenem Stück, das den Komponisten nach 1936 endgültig zum Feind des Regimes gemacht hat. Unglaublich, Rattle hob das mit einer Kompromisslosigkeit sondergleichen ans Licht, die grelle, scharf zugespitzte Modernität dieses sinfonischen Monsters; die zur selben Zeit entstandene Oper «Lady Macbeth von Mzensk» wirkt im Vergeich dazu fast als Lustspiel. Er konnte das, weil die Berliner über einen äusserst kompakten, auch im stählernen Fortissimo edel glänzenden Klang verfügen. Einen in der Tiefe der Bässe verankerten Ton, der auch den «Variations on a theme of Frank Bridge» von Benjamin Britten, einem Freund Schostakowitschs, sehr wohl anstand.

Zweierlei deutscher Klang

Deutsch kann man diesen Klang sehr wohl nennen, auch wenn damit noch nicht viel gesagt ist. Denn Deutsch kann vieles heissen, wie wenige Tage später die Sächsische Staatskapelle Dresden auf ebenfalls ganz vorzüglichem Niveau vorführte. Auch die «Wunderharfe» Wagners, das ist keine Frage, klingt deutsch; die Basis ist der Grundton, das Ziel die Verschmelzung der Farben – ganz anders als die französischen Orchester, die eher mit den Obertönen arbeiten und die farbliche Trennung in den Blick nehmen. In der Dresdener Spielart kann der deutsche Klang jedoch ausserordentlich leicht und farbenreich schimmernd erscheinen. Christian Thielemann, seit 2012 der Staatskapelle Dresden als Chefdirigent verbunden, ist für dieses zart Altgoldene genau der Richtige. Weshalb die Berliner Entscheidung gegen ihn eine einmalige Chance darstellt. Für die Berliner, die weniger Gefahr laufen, in altvertraute Gefilde zurückzufallen. Und für die Dresdener, die wieder zu einem der besten Orchester der Welt zu werden im Begriff sind.

Was Thielemann aufs Programm setzte, mag als konservativ und als marktgängig erscheinen. Anders als vor zwei Jahren, als er mit Raritäten von Ferruccio Busoni und Hans Pfitzner aufwartete, kamen die Dresdener diesen Sommer mit einem beliebig wirkenden Bündel aus dem bekanntlich nicht sehr grossen Repertoire ihres Chefdirigenten nach Luzern – aber: So hochstehend geboten, geriet die Werkfolge zu einem einzigartigen, weil vor Spannung vibrierenden Gastspiel. Gewiss, die Sopranistin Anja Harteros hat in den Vier letzten Liedern von Richard Strauss, zu denen sich mit «Malven» das allerletzte Lied des Komponisten in der Instrumentation von Wolfgang Rihm fügte, nicht ihren besten Auftritt. Obwohl sich das Orchester grösster Zurückhaltung befleissigte, schien die Sopranistin eigenartig bedrängt; jedenfalls blieb ihr Vortrag nicht frei von Drückern und auch nicht von Unsauberkeiten der Intonation. Schlechterdings perfekt am Abend darauf dagegen das c-moll- Klavierkonzert Ludwig van Beethovens, das dritte, mit Yefim Bronfman. Das war der altgewohnte heroische Beethoven mit einem sehr gedehnten Mittelsatz, aber da sass einfach jeder Ton, beim Solisten wie beim Orchester.

So war es auch bei den beiden Hauptstücken des Gastspiels, bei der «Alpensinfonie» von Richard Strauss wie bei der sechsten Sinfonie von Anton Bruckner. In beiden Fällen gab es ausgefeilteste Detailarbeit, eine Perlenkette wunderschöner Übergänge und klangliche Abschattierungen, die geradezu Schwindelgefühle auslösten. Das führte bei der Tondichtung von Strauss dazu, dass man sich als Zuhörer immer wieder sagen konnte, dass es so und nur so sein müsse, dass aber der Spannungsbogen darob aber doch in Gefahr geriet; jedenfalls schien da ein Wanderer unterwegs, der jedem Enzian anhaltende Aufmerksamkeit schenkte, aber bisweilen den Blick hin zum Gipfel vergass. Bei der Sinfonie Bruckners war das in keinem Augenblick der Fall. Unglaublich, mit welcher Souveränität Thielemann der Proportionen bewusst blieb. Den Kopfsatz lud er mit sprühender Energie auf, ohne dass die punktierten Bewegungen je zu Stampfen und Röhren führten. Ausserordentlich langsam nahm er das Adagio des zweiten Satzes, aber er wusste, was er tat; nicht nur war er in der Lage, die Spannung in seiner Imagination ungebrochen durchzuhalten, das Orchester bot ihm auch die Grundlage dafür. Das Scherzo wirkte daraufhin geradezu als eine Entladung – wobei das wiederum sehr gemessene Trio klar an den zweiten Satz anschloss. Und aus welcher Übersicht heraus Thielemann im Finale schliesslich Welle auf Welle folgen liess und so neben dem Parataktischen der Musiksprache Bruckners auch ihre Dynamik spürbar machte, war hinreissend.

Besonders auffällig war dabei die Wandlungsfähigkeit des deutschen Klangs, wie ihn die Sächsische Staatskapelle Dresden repräsentiert. Die übergrosse Besetzung der «Alpensinfonie» war als solche keineswegs zu bemerken, die Musik von Strauss wirkte vielmehr geradezu leichtfüssig. Bei Bruckner dagegen setzte Thielemann ganz und gar und durchaus mit Stolz auf die Kraft des Orchesters – nur war diese Kraft getragen von geschmeidigen Streichern und geprägt von den ausgesprochen eigenen Farben der Bläser und ihrer Virtuosität. Berlin oder Dresden? In beiden Fällen deutsch, auf beiden Seiten hervorragend – und doch so anders. So etwas ist nur beim Lucerne Festival zu erleben, wo sich die Spitze der Orchester zum Stelldichein trifft.