Höhenflüge mit Überraschung

Abschluss des Lucerne Festival

 

Von Peter Hagmann

 

Drei Klima-Aktivisten / Bild Peter Fischli, Lucerne Festival

Es geschah nicht am helllichten Tag, das nicht. Aber doch mitten in der allerschönsten Musik, mitten im Scherzo der vierten Sinfonie Anton Bruckners. Zwei junge Leute, beide in weissen T-Shirts, schreiten entschlossen den rechten Seitengang im Parket hinunter. Warum die Studentin und der Student gerade jetzt so dringend nach Hause wollen? Wollen sie nicht, sie biegen nämlich nicht nach rechts zur Eingangstür ab, sondern nach links, streben an der ersten Sitzreihe vorbei zur Mitte des Orchesterpodiums. Dort schwingen sie sich mit einem Satz hinauf zu den Füssen des Dirigenten, kleben je eine Hand an dessen Podest und beginnen in die Musik hineinzusprechen. Es tue ihr leid, dass sie stören müsse, erklärt die junge Frau, sie liebe klassische Musik. Indessen stünden wir bekanntlich mitten in einer scharfen Klimakrise, sofortiges Handeln sei dringend geboten – «act now» steht gut lesbar auf ihren T-Shirts. Dessen ungeachtet und trotz der wütenden Zurufe aus den Sitzreihen bringt das Bayerische Staatsorchester aus München das angefangene Scherzo zu Ende.

Danach aber dreht sich der Dirigent Vladimir Jurowski um, geht in die Hocke, nähert sich den beiden Jungen und spricht mit ihnen. Sie hätten eine Abmachung getroffen, und er habe sein Ehrenwort für deren Einhaltung gegeben, ruft er ins Auditorium. Die beiden jungen Leute sollten, so die Vereinbarung, ihr Anliegen in wenigen Worten vortragen dürfen, man möge bitte ruhig zuhören; danach würden sie den Saal wieder verlassen, und Bruckners Vierte werde zu Ende gespielt. Er ersuche um Unterstützung für die Einhaltung des Ehrenworts. Die gehässigen Reaktionen aus dem Publikum halten freilich an, weshalb sich Jurowski im Schneidersitz auf seinem Dirigentenpodest niederlässt. Derweil lösen die beiden Aktivisten der Bewegung Renovate Switzerland umstandslos ihre Hände von dem Möbel, sprechen einige Sätze und verlassen dann ohne weiteres den Konzertsaal im KKL.

Der Zwischenruf war gewiss störend, angesichts der klimatischen Umstände und der allgemeinen Gleichgültigkeit im Umgang damit aber sehr wohl am Platz. Dass der Dirigent ihn zugelassen und gleichzeitig gezielt auf Deeskalation gesetzt hat, war ein Meisterstück. Die Besondere des Moments lag jedoch weniger bei dem Auftritt der beiden Aktivisten vor den Gästen der Zurich Versicherung als vielmehr bei der Fortsetzung des Konzerts. Jurowski ging das Finale von Bruckners «Romantischer» nämlich in einer Wildheit sondergleichen an, er peitschte es richtiggehend auf; der Satz, von Bruckner als «bewegt, doch nicht zu schnell» gedacht, fand zu bestürzender Eindringlichkeit und liess einen fassungslos zurück. Was heisst das?

Man mag des Dirigenten Ansatz als Akt der Interpretation verstehen, nur bleibt dabei die Frage offen, warum sich das Finale interpretationsstilistisch, etwa im Dynamischen und in der Artikulation, so krass vom Vorangehenden abhob. Näher liegt die Annahme, dass Jurowski in seiner Weise auf jenes Paradies zu sprechen kommen wollte, welches das Lucerne Festival diesen Sommer zum Motto gemacht hat. Oder um einen Schritt weitergedacht: Dass sich der Dirigent kurzerhand auf die Seite der beiden Klima-Aktivisten geschlagen hat. Tatsache ist jedenfalls, dass Jurowski, 1972 in Moskau geboren, schon seit geraumer Zeit unseren Umgang mit dem Planeten als fahrlässig geisselt, dass er die Zahl seiner berufsbedingten Flüge zu reduzieren sucht und angeblich darum 2019 sein Engagement als Chefdirigent des Staatlichen Akademischen Sinfonieorchesters in Moskau aufgegeben hat. Dem entspricht, dass er so drastisch wie kein anderer Musiker seines Renommees den Krieg Putins gegen die Ukraine verurteilt. So politisch kann es im Paradies plötzlich werden.

Und das erstaunlicherweise mit einem Dirigenten, der sich einer altmodisch herrscherlichen Schlagtechnik bedient und vom Pauker verlangt, dass er jeden längeren Wirbel, und zwar auch im Piano, mit einem Akzent auf dem letzten Schlag markiert. Von ausgesuchter Konventionalität zudem das Programm: Vor der Vierten Bruckners gab es das Vorspiel zum ersten Aufzug von Richard Wagners «Tristan und Isolde», einige Tage zuvor schon vom Oslo Philharmonic mit Klaus Mäkelä vorgetragen, sowie das Klavierkonzert Robert Schumanns, diesen Sommer ebenfalls schon auf dem Luzerner Programm, nämlich mit dem Solisten Daniil Trifonov. Für das Gastspiel aus München wäre eine Spur mehr Phantasie, ein My mehr Koordination denkbar gewesen, denn ins KKL kam das Orchester der Bayerischen Staatsoper München, das Staatsorchester, das dieses Jahr das Jubiläum seines nicht weniger als fünfhundertjährigen Bestehens feiern kann. Als Opernorchester besitzt es seit langem einen ausgezeichneten Ruf, auf dem Konzertpodium ist es weniger bekannt; beim Lucerne Festival gastierte es erst zum zweiten Mal.

Es tat es mit Aplomb – das kann sagen, wer die von Vladimir Jurowski gesetzten Prämissen akzeptiert. Schon im Kopfsatz von Bruckners Vierter – die Jurowski, wie es vor ihm Herbert Blomstedt bei der Siebten getan hat, aus der neuen Gesamtausgabe dirigierte – war ein ungemein kraftvolles, strahlendes Fortissimo zu hören. Eine Kraft allerdings, in der die Blechbläser so massiv in Erscheinung traten, dass alles andere unterging; weder die Holzbläser noch die Streicher waren in diesen Momenten zu hören, sie bildeten nicht mehr als vage wahrnehmbaren harmonischen Untergrund. Das entspricht einem althergebrachten, inzwischen ausser Kraft gesetzten Bruckner-Ton, wie ihn zum Beispiel Eugen Jochum pflegte. Dem Statischen, das mit dem blechgepanzerten Tutti einhergeht, suchte Jurowski durch die bewusste Gliederung der Sätze und flexibel ausgeformte Übergänge entgegenzuwirken. Immer wieder tauchten auch Inseln schönster farblicher Abmischung auf, etwa zwischen Flöte und Klarinette im Kopfsatz. Und der Solohornist, er hatte einen formidablen Auftritt.

Nicht weniger retrospektiv ausgerichtet wirkte am Abend darauf die Sächsische Staatskapelle Dresden mit ihrem seit 2012 und noch bis 2024 tätigen Chefdirigenten Christian Thielemann (der einen exquisiten Frack trug, wie es derzeit nur noch wenige Vertreter seiner Profession tun). Das stimmt allerdings nur zur Hälfte, denn immerhin eröffnete Thielemann das Luzerner Gastspiel des Orchesters aus der Semperoper mit dem «Schwanendreher», einem (freilich etwas etwas verkrampften) Bratschenkonzert Paul Hindemiths von 1935, dessen Solopart von Antoine Tamestit superb gemeistert wurde. Danach aber gab es «Eine Alpensinfonie» von Richard Strauss, ein Leib- und Magenstück Thielemanns, mit dem er schon 2015, beim letzten Auftritt der Dresdener, das Publikum im KKL hingerissen hatte und es jetzt noch einmal und vielleicht noch deutlicher tat. Thielemann ist nicht nur ein mit allen Wassern gewaschener Kapellmeister alter Schule, sondern auch ein Taktstockvirtuose im besten Wortsinn. Mit wenig Aufhebens, aber den genau richtigen Zeichen hält er das Geschehen in Gang, souverän steht er über den Verästelungen der äusserst reichhaltigen Partitur und weiss doch immer wieder auf Einzelheiten einzugehen. Und unter seiner entspannten Hand klang Wagners «Wunderharfe» ganz vorzüglich: in kompakter Lautstärke, wo das gross besetzte Orchester laut sein soll, mit zart schimmernden Farben, wo der imaginäre Wanderer seinen Fernblick geniessen kann. Ob es ein Non plus ultra gibt?

Das gibt es. Dann nämlich, wenn die Münchner Philharmoniker das Podium einnehmen – das Stadtorchester aus der Kapitale des Freistaates und somit die Nummer drei neben der Staatskapelle und dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks, bei dem bald Simon Rattle die Leitung antreten wird. Unvergessen die siebzehn Jahre ab 1979 mit Sergiu Celibidache am Dirigentenpult und den ebenso umstrittenen wie aussergewöhnlichen Einspielungen der Sinfonien Bruckners. Seit Celibidaches Tod 1996 gab es bessere und weniger gute Zeiten, 2026 soll Lahav Shani die Position des Chefdirigenten übernehmen. Jetzt aber, beim Schlusskonzert des Lucerne Festival in diesem Sommer, war die Konstellation eine ganz besondere, denn an die Spitze der Münchner Philharmoniker gerufen war Mirga Gražinytė-Tyla, die 2016, im Luzerner Sommer mit dem Thema «PrimaDonna», so viel Aufmerksamkeit erzielt hat und seither eine steile Karriere verfolgt. Und auf den Pulten lag nicht weniger als die zweite Sinfonie Gustav Mahlers, die «Auferstehungssinfonie», mithin das Gegenstück zu Mahlers Dritter, mit der das Festival eröffnet worden ist.

Dass eine Frau vor einem meist vornehmlich mit Männern besetzen Orchester steht, gehört inzwischen zum Alltag – die Zeiten haben sich geändert, und «PrimaDonna» von 2016 hat hier zweifellos entscheidende Weichen gestellt. Im Fall von Mahlers Zweiter liegt der Fall anders. Das Stück ist ein veritabler Felsbrocken; ihn dirigentisch zu stemmen, kann verbreiteter Vorstellung gemäss nur mit gehörig ausgebautem Bizeps gelingen. Mirga Gražinytė-Tyla verkörpert geradewegs das Gegenteil. Klein gewachsen und von zarter Statur, gibt sie nicht die Dirigentin, die bitte sehr genau so gut sein kann wie ein männlicher Kollege, sie ist vielmehr ganz sich selbst. Unauffällig huscht sie zu ihrem Podest, das sie nur zur Ausübung ihrer Tätigkeit betritt; in den Momenten des Beifalls steht sie unauffällig unter den Orchestermitgliedern. Ihre Zeichengebung ist von ausserordentlicher Sparsamkeit, dies jedoch nicht zum Zeichen ihrer Virtuosität, vielleicht eher als Ausdruck eines kooperativen Selbstverständnisses. Die Auslegung der riesenhaften Partitur Mahlers zeugte freilich von hochentwickeltem Vorstellungsvermögen und der Fähigkeit, den Weg der Interpretation mit einem Blick, einem Lächeln den in aller Konzentration agierenden Musikerinnen und Musikern in aller Klarheit zu vermitteln.

In der Auslegung durch Mirga Gražinytė-Tyla erstand Mahlers Zweite unter einem einzigen, über neunzig Minuten gespannten Bogen. Gewiss setzten die Kontrabässe zu beginn gleich ihre Ausrufezeichen. In der Folge entfaltete sich der Kopfsatz jedoch sorgsam tastend, in sehr ruhigen Zeitmassen, fesselnder rhythmischer Präzision und einer farblichen Vielfalt sondergleichen. Sehr leise und leicht das Andante moderato des zweiten Satzes, in dem ein kleines Detail wie die Verbindung zwischen dem Pizzicato der Harfen und dem Klang der Harfen grossen Effekt machte. Dann der zweite Teil mit dem in ruhigem Alla breve durchgezogenen Scherzo, mit dem «Urlicht», in dem die Altistin Okka von der Damerau gern etwas zu tief blieb, später mit der etwas stark vibrierenden Sopranistin Talise Trevigne, den überraschenden Fernorchestern und dem prachtvollen Münchner Philharmonischen Chor (Einstudierung: Andreas Herrmann), der erst sitzend sang und sich schliesslich der kontrapunktischen Ordnung gemäss erhob. So klein die Zeichen der Dirigentin blieben – wenn es zur Sache ging und sie die Arme in die Höhe reckte, hatte das durchaus seine Folgen. Besonders hoch darf Mirga Gražinytė-Tyla freilich angerechnet werden, dass im Finale die Massen jederzeit gezügelt blieben.

Einen würdigen Abschluss bildeten diese drei letzten Abende in der Sommerausgabe des Lucerne Festival. Sie gaben zu erkennen, dass die Perlenkette der Luzerner Orchestergastspiele lebt – auch wenn es in der einen oder anderen Hinsicht durchaus etwas mehr Bewegung geben dürfte. Dass das Konzert neu erfunden werden muss, stellt als Aussage eine an der Wirklichkeit vorbeigehende Banalität dar, die oft genug abgeschrieben und wiederholt wird, deswegen jedoch nicht mehr Sinn erhält. Die 84 Prozent Auslastung, die das Festival für dieses Jahr ausweist, kommen zwar noch in keiner Weise an die Zahlen der Jahre vor der Pandemie heran, zeugen aber doch von Erholung. Und mit den 98 Prozent Auslastung der Salzburger Festspiele brauchen sie nicht verglichen zu werden, weil ein reines Konzertfestival und Festspiele mit der Oper als Hauptsache zwei Paar Schuhe darstellen. Was am Ende zählt, ist der Blick auf die Sache selbst.

Lucerne Festival (5) – Orchester und Dirigenten

 

Peter Hagmann

Was zählt, ist noch immer die Qualität

Erkundungen in Sachen Orchesterkultur

 

Ist das nun der befürchtete Scherbenhaufen? Nach der Abstimmung im Luzerner Kantonsparlament, das am 12. September, am Montag nach Abschluss der erfolgreichen Sommerausgabe des Lucerne Festival, den von der Kantonsregierung begehrten Projektierungskredit für die Salle Modulable in der Höhe von 7 Millionen Franken mit 62 gegen 51 Stimmen (bei 2 Enthaltungen und 5 Abwesenden) verworfen hat, steht diese Frage absolut im Raum. Wie wird sich die Stadt, deren Parlament sich demnächst ebenfalls zu dem Projekt äussern soll, jetzt verhalten? Was werden die Initianten dem fatalen Votum entgegensetzen? Ist das Projekt, das für die Entwicklung der darstellenden Kunst und die Ausstrahlung der Kulturstadt Luzern so einzigartige Perspektiven böte, definitiv beerdigt? Noch ist nicht aller Tage Abend, in der Politik gilt das ganz besonders. Aber der Rückschlag ist bitter.

Zumal die diesjährige Sommerausgabe des Lucerne Festival über ein ganz besonderes Profil verfügte. «PrimaDonna», das Thema dieses Jahres, das die Rolle der Frau in der klassischen Musik, insbesondere in der führenden Position am Dirigentenpult in den Blick nahm, hat Fragen aufgeworfen, die nah an den gesellschaftlichen Verhältnissen unserer Zeit stehen. Gleichzeitig, und Besseres hätte wohl nicht geschehen können, hat sich das Thema selber ausser Kraft gesetzt. Durch den bewussten Einbezug von Frauen ins sommerliche Geschehen – ein thematisch zentrierter «Erlebnistag» öffnete Dirigentinnen den Weg ans Pult, Olga Neuwirth trat als «composer in residence» in Erscheinung – wurde offenkundig, dass die klassische Musik weiter ist, als es den Anschein hat; jedenfalls betreten Frauen heute die Bühnen ohne lauten Ton, aber unmissverständlich. Bei einem ausserordentlichen Talent wie Mirga Gražinytė-Tyla, der 30jährigen Dirigentin aus Litauen, die soeben die Leitung des City of Birmingham Symphony Orchestra übernommen hat, wurde deutlich, dass es in der Tonkunst zuallererst noch immer um die Qualität, keineswegs aber um das Geschlecht geht. Die Frau, die etwas bietet, setzt sich nicht weniger durch als der entsprechende Mann.

Der Blick zurück

Dass sich die Qualität keineswegs von selbst versteht, das war bei den 28 Orchesterkonzerten, die nach wie vor das Rückgrat des Lucerne Festival bilden, mit Händen zu greifen. Als vielversprechend darf der Einstand von Riccardo Chailly an der Spitze des Lucerne Festival Orchestra gelten. Die achte Sinfonie von Gustav Mahler wurde – mit allen Einschränkungen, die das Ende des ersten Teils betreffen – zu einem Ereignis der besonderen ersten Art. Genauso die Sinfonie Nr. 8 von Anton Bruckner, die der 87jährige Bernard Haitink im zweiten Auftritt des Festivalorchesters magistral auslegte. Es geht doch nichts über alte Meister – das bestätigte Herbert Blomstedt am Pult des Leipziger Gewandhausorchesters. Knapp zwei Jahre älter als Haitink, eilte er behende zum Podium; dort stand er seine neunzig Minuten aufrecht durch – denn Blomstedt dirigierte, auswendig notabene, Bruckners Fünfte. Dabei schöpfte er aus der Fülle seiner Erfahrung, was ihm erlaubte, die Energien effizient zu bündeln und die klanglichen Gewichte optimal in Balance zu halten. Zugleich zeigte er sich ganz auf der Höhe der Zeit: stand er für eine aktuelle Sicht auf Bruckner ein – logischerweise, hat er sie doch selbst mitgestaltet hat. Schlank und durchhörbar blieb darum der Klang, zügig waren die Tempi angelegt, für Pathos blieb keine Zeit. Umzog mehr Aufmerksamkeit galt den Strukturen; trennscharf und bis weit ins Innere des Geschehens hinein erkennbar erklang etwa das Finale mit seinen ausgedehnten fugierten Teilen.

Bei Daniele Gatti, den sich das Koninklijk Concertgebouworkest Amsterdam als Chefdirigenten ans Pult geholt hat, war es gerade umgekehrt. Fast 35 Jahre jünger als Blomstedt, wirkte er als Interpret um Jahrzehnte älter als sein Kollege. Er hatte sich Bruckners Vierte vorgenommen, die lyrisch singende «Romantische», die bei ihm dick und fett, klanglich massiv und mit schwerer Emotion beladen daherkam. Unglaublich gedrosselt die Tempi. Gewiss, das Orchester wusste diese Verläufe zu tragen, da Mariss Jansons seinem Nachfolger einen Klangkörper in ausgezeichneter Verfassung hinterlassen hat, und der Dirigent verstand sie mit Spannung zu erfüllen. Dennoch wirkte Gattis Ansatz im Ganzen unangenehm mystifizierend, bisweilen führte er gar zu Anflügen von Kitsch. Dass Bruckners Musik nicht reines Gefühl verströmt, vielmehr hochgradig strukturiert ist und lebendig atmet, das haben in der jüngeren Vergangenheit Dirigenten wie Günter Wand oder Nikolaus Harnoncourt vorgeführt; Daniele Gatti scheint davon nichts zu Kenntnis nehmen zu wollen. So war nicht weiter verwunderlich, dass auch die Ouvertüre zu Carl Maria von Webers leichtfüssiger Zauberoper «Oberon» ausgesprochen zähflüssig geriet. Dem wunderbaren Concertgebouworkest könnten schwierige Jahre bevorstehen.

Das dürfte auch für die Münchner Philharmoniker gelten, die sich für Valery Gergiev als neuen Chefdirigenten entschieden und sich damit im Vorfeld des Amtsantritts erhebliche Turbulenzen eingehandelt haben. Sie sind – das ist nun mal so Sitte und macht eine der Besonderheiten des Luzerner Festivals aus – in dieser neuen Konstellation gleich ins KKL gekommen und haben dort denkbar unglückliche Figur gemacht. Das Orchester erschien als mau und klang unidentifiziert, ohne Persönlichkeit und Ausstrahlung – in der Luzerner Konkurrenzsituation nicht gerade von Vorteil. Allerdings war das auch kein Wunder angesichts eines Programms, das mit Auszügen aus «Romeo und Julia» von Sergej Prokofjew, mit der Fantasie über «Die Frau ohne Schatten» und der Tondichtung «Don Juan» von Richard Strauss sowie dem «Poème de l’extase» von Alexander Skrjabin lauter Reisser enthielt. Valery Gergiev, der wieder mit seinem Zahnstocher in der Hand agierte und genialisch in die Musik hineinbrüllte, gelang es nicht, den vier Werken je eigenes interpretatorisches Profil zu schaffen, es klang alles ähnlich laut und schwarzweiss. Wenn im «Poème de l’extase» die Wellenbewegungen den Zuhörer nicht mitreissen, wenn im «Don Juan» kein jugendfrischer Enthusiasmus aufschiesst, dann stimmt etwas nicht. Auffallend mässiger Beifall und betretene Gesichter.

Auch nicht gerade prickelnd geriet der Auftritt des Cleveland Orchestra, mit dem es in den nächsten vielleicht einmal eine Pause geben könnte. Seinem langjährigen Chefdirigenten Franz Welser-Möst ist es gelungen, die «Musik für Saiteninstrumente, Schlagzeug und Celesta» trotz korrekter Aufstellung des Orchesters mit dem Klavier in der Mitte (und einer fulminanten Pianistin) so spannungsarm und farblos erscheinen zu lassen, dass die Köpfe bald nach vorne fielen. Beethovens «Eroica» lud er dafür derart auf, dass die Wände wackelten, denn das Orchester war stark besetzt und klanglich auf  mächtige Kompaktheit getrimmt. Das erlaubte dem Dirigenten, in der Wahl der Tempi den Wünschen des Komponisten zu folgen, was neueren Erkenntnissen entspricht; die Wiederholung der Exposition liess er nach alter Väter Sitte dann aber wieder aus. Laut, aber unerhört klangschön fuhren auch die Berliner Philharmoniker ein; fast hatte es den Anschein, als habe sich Simon Rattle mehr von der Pracht des Orchesters verführen zu lassen, als dass er sie gestaltet hätte. Bei den acht Slawischen Tänzen von Antonín Dvořák wurde das zum Problem. So verdienstvoll die Idee war, sie einmal nicht als Zugaben zu verwenden, sondern sie als Sammlung in ihrer Gesamtheit erklingen zu lassen, so rasch verflog der Reiz, weil sich die einzelnen Stücke – auch und gerade in der orchestralen Ausführung – zu ähnlich waren. Und die Sinfonie Nr. 2 von Johannes Brahms, das lichte, sommerliche Werk in D-dur, fand an diesem Abend der Berliner einen Ton, dessen unerhörte Kompaktheit der Partitur doch merklich widersprach.

Ein Debüt

Unter dem Strich sorgten diesen Sommer die etablierten Grössen weder für An- noch für Aufregung. Besorgniserregend ist das noch nicht, es bildet eher den courant normal ab, der beim Lucerne Festival (und nur dort in dieser Breite wie dieser Dichte) sehr genau beobachtet und bemessen werden kann. Für Aufsehen ausserhalb des Gewohnten sorgte ein Newcomer. Es war der Russe Kirill Petrenko, der in absehbarer Zukunft als Chefdirigent der Berliner Philharmoniker nach Luzern kommen wird. Sein Luzerner Debüt absolvierte er aber noch mit dem Bayerischen Staatsorchester München, dem Orchester der Bayerischen Staatsoper, bei der er als Generalmusikdirektor zum Rechten schaut – und er schuf eine Sensation, wie sie vor zwei Jahren dem Schweizer Philippe Jordan und dem von ihm geleiteten Orchester der Oper Paris gelungen ist. Welch glühende Verbindung zwischen Orchester und Dirigent, welch feuriges Musizieren auf der Stuhlkante – und was für ein Effekt beim jubelnden Publikum. Das Vorspiel zum ersten Aufzug von Wagners «Meistersingern» feingliedrig und äusserst ziseliert, die Vier letzten Lieder von Richard Strauss mit Diana Damrau in einer Innigkeit sondergleichen – und zum Abschluss doch tatsächlich dessen «Sinfonia domestica», das nicht gerade von ironischer Distanz lebende Selbstporträt des jungen Komponisten als Hausvater mit zickiger Gattin und süssem Kleinkind. Nur wer diese überladene Partitur bis ins Innerste zu zügeln vermag und sie dennoch wie ein Feuerwerk explodieren lassen kann, darf es wagen, sie aufs Programm zu setzen. Kirill Petrenko ist es gelungen – ein Sieg der Qualität.