Gottvertrauen nach dem Ende – Messiaens «Saint-François» im Theater Basel

 

Von Peter Hagmann

 

 

Bild Ingo Hoehn, Theater Basel

Ein richtiges Ausrufezeichen sollte es werden, darum fiel die Wahl auf «Saint François d’Assise». Mit der ausladenden Oper Olivier Messiaens wollte Benedikt von Peter seine Intendanz und Operndirektion am Theater Basel einläuten. Das hat, denkt man die räumlichen Gegebenheiten und die Traditionen in der Musikstadt Basel, seine Plausibilität. Und die Planungen, vor zwei Jahren in die Wege geleitet, liefen ausgezeichnet – bis die Pandemie dazwischenkam. Aviel Cahn, der «Saint François d’Assise» als Schweizer Erstaufführung zum Abschluss seiner ersten Spielzeit am Genfer Grand Théâtre angesetzt hatte, musste Ende Juni der Theaterschliessungen wegen auf die Produktion verzichten. Benedikt von Peter in Basel blieb bei seinen Plänen und kam so nicht nur zu unerwarteter Ehre, er lieferte auch ein äusserst starkes Lebenszeichen aus dem so hochgradig gefährdeten Bereich des Musiktheaters. Der Preis, den er dafür zahlte, war freilich hoch.

Denn unter den derzeit herrschenden Voraussetzungen liessen sich die Vorgaben, von denen Olivier Messiaen in «Saint François d’Assise» ausgeht, in keiner Weise beim Wort nehmen. Sie sind exorbitant, und zwar nach allen Seiten. Das Publikum sieht sich mit einer Spieldauer von über vier Stunden konfrontiert, der Chor soll mit 150, das Orchester mit 120 Mitgliedern besetzt sein – alles unmöglich in Zeiten von Abstandsregel und Maskenpflicht. Das neue Basler Team bat daher den argentinischen Komponisten Oscar Strasnoy, über seinen Lehrer Gérard Grisey ein Enkelschüler Messiaens, um die Erstellung einer Kammerversion. Auf 42 Sänger ist der Chor verkleinert; er wirkt unsichtbar hoch oben im Schnürboden. 45 Mitwirkende umfasst das Orchester, das, auf der Bühne sitzend, geradezu als gross besetztes Solistenensemble erscheint. Reduziert wurden vorab die Mehrfachbesetzungen bei den Bläsern und den Streichern, während das wie oft bei Messiaen stark ausgebaute Schlagwerk sowie die heulenden Ondes Martenot ihre prägenden Rollen bewahren.

Die Einrichtung zeugt von hoher Kunst. Die Verkürzung der Spieldauer, sie ist, soweit sich das in einer einzigen Aufführung beurteilen lässt, nicht wirklich zu spüren. Und was der von Michael Clark betreute Theaterchor wie das Sinfonieorchester Basel unter der Leitung des fabelhaft präsenten Dirigenten Clemens Heil leisten, verdient alle Bewunderung. Die kompositorische Handschrift ist da, hörbar, erkennbar – und gleichwohl: Ist das noch das als Oper verkleidete Mysterienspiel Olivier Messiaens? Erhöht ist die Durchhörbarkeit, das steht ausser Frage. So lässt sich denn auch besser als bei der Grossbesetzung in die rhythmischen Vertracktheiten eindringen. Mehr Schwierigkeiten öffnen sich auf der Ebene der Klangfarben und ihrer Balance. In der Basler Fassung klingt Messiaens Partitur wesentlich monochromer, trockener, ja spröder als im Original – als ein Stück der Avantgarde von gestern.

Da liegt er, der Konflikt. An Olivier Messiaen kann man sich reiben – bis heute. Die von ihm nach dem Zweiten Weltkrieg vorangetriebene Schärfung des Denkens in Reihen hat die Serialität zum Herzstück der musikalischen Avantgarde Westeuropas werden lassen. Seine Neigung zu komplexen Rhythmen und aperiodischen Verläufen, zu denen er sich durch die Erkundung der Vogelgesänge inspirieren liess, war ebenso folgenreich wie der Umgang mit Klangfarben, der durch fernöstliche Praktiken genährt war. Allein, dass all das mit einem tiefen Glauben verbunden war, dass es sich zu einer Musik fügte, die sich als Gotteslob und nur als das verstand, davon wollten manche der diesseitigen, ganz dem technischen  Fortschritt verpflichteten Avantgardisten nichts wissen.

So erscheint es auch in der Basler Aufführung von «Saint François d’Assise». In den Hintergrund gerät durch die Reduktion auf eine Kammerfassung nämlich der enthusiastische Ton, der auf Messiaens authentischer Frömmigkeit beruht. Nichts kann dem Komponisten gross genug sein, um die Schöpfung und ihren Schöpfer zu lobpreisen, darum muss auch der C-Dur-Akkord am Schluss der Oper mindestens doppelt so lang ausgehalten werden, als es Clemens Heil anzeigt – beim Organisten Messiaen lässt sich das lernen. All die Momente der Freude, der Zuversicht auf die bevorstehende Auferstehung und das Erscheinen der endgültigen Wahrheit, all die Harmonien in Terz- und Quintlage wirken so, als wären sie ihrer Spitzen beraubt. Die im Spätromantischen wurzelnde Überwältigungskraft wird im Basler Programmheft mit einem Zitat des amerikanischen Komponisten Morton Feldman abgetan, der Messiaens Orchesterbehandlung als Disney-Kitsch bezeichnet. Das ist ein Missverständnis. Gerade in «Saint-François d’Assise» ist Messiaens Musik genuin katholisch, von Weihrauch umgeben. Was in der evangelisch-reformierten Basler Auslegung nur wenig spürbar wird.

Zumal das Bühnengeschehen in eine ähnliche Richtung wirkt. Als entschieden deutender Regisseur bekannt, hat Benedikt von Peter zusammen mit seinem Ausstatter Márton Ágh und dem Lichtdesigner Tamás Bányai seine eigene Bilderwelt entwickelt. Sie basiert auf einem Konzept, das den Raum als Ganzen in den Blick nimmt: die Bühne mit Hilfe von Rampen in den nur zu sechzig Prozent besetzten Zuschauerraum verlängert und umgekehrt Zuschauer auf der Bühne platziert. Als Ort des Geschehens dient ein verwahrloster städtischer Platz mit ehemaligem Warenhaus und verlassener Bankfiliale. Die Vögel auf der Hochspannungsleitung, die sich durch den Raum zieht, sind papierene Abbilder ihrer selbst – wir befinden uns in einer Situation fünf nach zwölf. Einzig ein Bettler und seine Spiessgesellen bevölkern die Szenerie. Nach und nach wird deutlich, dass der Bettler der Heilige ist, der mitten im Zerfall für Mitmenschlichkeit und Liebe steht. Die Botschaft der Inszenierung verleiht dem Stück Messiaens eine überraschend kritische Note.

Schade nur, dass der Regisseur die langen musikalischen Verläufe bisweilen mit ablenkendem Aktionismus stört. Der Effekt des grossen Vogelkonzerts im sechsten der acht Bilder zum Beispiel wird dadurch unnötig vermindert. Die Ausstrahlung der Akteure auf der Bühne ist aber von zutiefst berührender Wirkung. Nathan Berg, der viel kerniger, präsenter, gleichsam menschlicher singt als es der grosse José van Dam seinerzeit getan hat, lebt von packender Unmittelbarkeit. Und an der Spitze des ausgezeichnet besetzten Ensembles gibt Rolf Romei den Leprakranken, der von Saint François geheilt wird, mit einer Intensität sondergleichen. Zum Lichtpunkt des Abends wird jedoch die Erscheinung des Engels, der kein Engel ist, sondern ein junges Mädchen, das dem Heiligen bis zu seinem sehr menschlichen Tod beisteht. Was Álfheiður Erla Guðmundsdóttir, die junge isländische Sopranistin, mit ihrem kristallklaren Timbre aus diesem Auftritt macht, gehört zum Besten des Abends.

Im Irrgarten

Mozarts «Figaro» mit Barbara Frey in Basel

 

Von Peter Hagmann

 

Oksana Sekerina (Gräfin), Flavio Mathias (Antonio), Thomas Lehman (Graf), Sarah Brady (Susanna) im Basler «Figaro» / Bild Lucia Hunziker, Theater Basel

Anfangs ahnt man wenig. Das fensterlose Zimmer mit seiner floralen Ausstattung nimmt sich ein wenig eng aus – klar, es ist ein Dienerzimmer, in dem sich Figaro und Susanna nach ihrer Eheschliessung niederlassen sollen. Doch je weiter in «Le nozze di Figaro», der «commedia per musica» Wolfgang Amadeus Mozarts, das Geschehen vorankommt, desto mehr öffnet sich die von Bettina Meyer hinreissend gestaltete Bühne. Wie ein grosses Labyrinth zieht sie sich weit in die Tiefe; zwischen die einzelnen durchgehend gleich gestalteten Schichten sind Gänge gelegt, in denen die Menschen nur zur Hälfte sichtbar werden  – ganz so wie bei den aus Buchs gestalteten Labyrinthen adliger Gärten aus dem 18. Jahrhundert. Da ist er, der Irrgarten der Gefühle – und dies am Vorabend der französischen Revolution.

Vom Wandel der Zeiten, der sich in dem ungeheuer provokanten Stück von Beaumarchais ankündigt und den Mozart zusammen mit seinem Librettisten Lorenzo Da Ponte am Kaiser und seinen Instanzen vorbei in eine freche musikalische Komödie gegossen haben, sprechen im Theater Basel zuallererst die Kostüme von Bettina Walter, die von der Anmutung und der Aussage her auf derselben Höhe stehen wie das Bühnenbild. Perücke und Robe sind ausrangiert, das Bürgertum hat sich bereits eingerichtet, die Herren tragen also Anzug und Krawatte. Der einzige, der sich bloss ein Halstuch umgebunden hat, ist Figaro – der Standesunterschied ist noch nicht verschwunden. Oder noch nicht ganz, denn Susanna schmückt sich mit einem Hut, was der Dienerin im alten System verwehrt gewesen wäre. Wenn am Ende der Graf düpiert auf die Knie fällt und seine Rosina um Vergebung bittet, tragen Gräfin und Dienerin exakt dasselbe Kleid – dies natürlich nicht nur um der Verkleidung willen.

Die Welt ist aus den Fugen geraten, leicht kann man sich im Labyrinth der Gefühle verirren. Das wird von Barbara Frey, der ehemaligen Direktorin des Schauspielhauses Zürich, als Regisseurin des Abends nicht lustig, heissa, hopsassa vorgeführt, wie es in früheren Zeiten bei «Le nozze di Figaro» gern gepflegt wurde, sondern mit feinem Humor, mit dem szenischen Silberstift, auch mit stilisierenden Anklängen an die formalen Gegebenheiten, denen die Musik gehorcht. Davon spricht das Trio Marcellina (Jasmin Etezadzadeh), Bartolo (Andrew Murphy) und Basilio (von Karl-Heinz Brandt als ein herrlich süffisanter Musiker verkörpert), wenn es im falschen, nämlich dem genau richtigen Moment im Gleichschritt durch einen der Gänge im Labyrinth huscht. Auch Symmetriebildungen spielen eine Rolle. So ist die kleine Rolle der Barbarina mit dem formidablen Sopranisten Bruno de Sá besetzt, einem Mann in der Rolle einer Frau und somit das Gegenstück zu Cherubino, dem jungen Mann, der von einer Frau dargestellt wird.

Diese junge Frau als junger Mann nimmt im neuen Basler «Figaro» eine besondere Position ein. Zunächst darum, weil Kristina Stanek ein auffallendes Profil einbringt. Klar in der Tiefe verankert, steigt ihr kerniger Mezzosopran ohne Bruch in eine sicher fokussierte Höhe – ein stimmliches Potential, das noch manchen künstlerischen Entwicklungsschritt in Aussicht stellt. Dazu kommt nun aber eine auffallende szenische Präsenz; Kristina Stanek ist jederzeit voll da, ihr Gesicht spricht, ihr Körper agiert äusserst beweglich. Cherubino als die junge Ausgabe des Grafen, als ein heftig erwachter, nach allen weiblichen Seiten hin begehrlicher Youngster, dem man mit Wohlwollen begegnet, weil die Eierschalen hinter den Ohren nicht zu übersehen sind. Süss, wie Cherubino sich der Gräfin an die Schulter wirft und wie er ihr im Durcheinander des Finales einen Kuss abstiehlt – das ist alles sensibel aus der Musik heraus entwickelt und ebenso liebevoll wie detailbewusst ausgearbeitet.

Anders als des Frühlings Erwachen bei Cherubino ist beim Grafen der Herbst angebrochen. Natürlich muss er noch immer nach jedem Weibchen grabschen, natürlich will er das «ius primae noctis», das er den Zeichen der Zeit gehorchend abgeschafft hat, wieder in Kraft setzen, aber hier, bei Barbara Frey, wirkt er doch deutlich abgewetzt – mag sein, dass das auch auf die monochrome Stimmgebung von Thomas Lehman zurückgeht. Nicht so Figaro, der bei Antoin Herrera-Lopez Kessel ebenfalls farblich etwas engen Ton findet, aber so viel szenisches Temperament entfacht, dass klar wird, woher die gesellschaftliche Erneuerung kommen wird. Ähnlich nimmt es sich bei der Gräfin und ihrer Dienerin aus. Während Sarah Brady als Susanna, zumal im ersten Teil des Abends, stimmlich wie darstellerisch frisch und agil wirkt, dringt Oksana Sekerina nicht wirklich in jene Gefilde der Melancholie vor, die der Partie der Gräfin eingeschrieben sind.

Wie im zweiten Akt von «Don Giovanni» kann es in «Le nozze di Figaro» zu Durchhängern kommen, namentlich zu Beginn des vierten Akts, wo sich das Geschehen merklich verlangsamt. Dass das in Basel zu spüren war, erstaunt nicht, denn in der musikalischen Formung bleibt die Produktion weit hinter der szenischen Verwirklichung zurück. Es liegt nicht am Sinfonieorchester Basel, das mit seinen Naturhörnern und Naturtrompeten, auch mit den klassischen Bögen für die Streicher einen Klang von herrlicher Geschmeidigkeit und vibrierender Wärme hervorbringt. Die Verantwortung dafür trägt der Mann am Pult. Wie bei «Don Giovanni» vor einem halben Jahr in Strassburg zieht Christian Curnyn in erbarmungsloser Gleichförmigkeit durch die Partitur Mozarts (vgl. «Mittwochs um zwölf» vom 19.06.19). Stoisch den Takt schlagend, lässt er keinerlei Raum zum Atmen, geschweige denn zum sprechenden Ausgestalten der Phrasen. So erstaunt auch nicht, dass das stilwidrige Sitzenbleiben auf den Schlusssilben der Wörter hier besonders grassiert. Was Nikolaus Harnoncourt angelegt, was René Jacobs aufgenommen, was Teodor Currentzis auf die Spitze getrieben hat – kein Spur davon. Ein Mozart im Klang von heute, aber im Geist von gestern.

Liebe, Macht und Ohnmacht

«Salome» in Luzern, «La Bohème» in Basel

 

Von Peter Hagmann

 

Jason Cox (Jochanaan) und Heather Engebretson (Salome) in Luzern / Bild Ingo Hoehn, Luzerner Theater

Wie das? Trägt Greta nun keinen dunkelblonden Rossschwanz mehr, dafür einen schwarzen Bubikopf? Nicht doch, es ist ja nicht Greta, die auf der Bühne des Luzerner Theaters erscheint, sondern Heather Engebretson, immerhin schon 29 Jahre alt und nicht weniger als 1,52 Meter gross. Salome in der gleichnamigen Oper von Richard Strauss als eine Kind-Frau – so zeigt es Herbert Fritsch, wie stets Regisseur und Bühnenbildner in einer Person. Er tat es in gleicher Weise wie Maurice Béjart 1983 im Genfer Grand Théâtre, als der Choreograph die Oper von Strauss mit der Sängerin und Tänzerin Julia Migenes inszenierte. Eine unvergesslich perfekte Lolita stand damals im Licht, nur verfügte sie nicht über das hier geforderte Stimmvolumen, weshalb die Sängerin für ihren Monolog mit dem abgeschlagenen Kopf des Jochanaan auf einer Rampe über den Orchestergraben hinweg ans Publikum herangeführt wurde.

Bei Heather Engebretson in Luzern war das nicht nötig. Sie sang nicht zu leise, sondern überhaupt nicht, eine Infektion hatte es verhindert. An ihrer Stelle nahm Sera Gösch von der Seite aus ihre Partie wahr, und sie tat das auf bewundernswertem Niveau, mit einer Spannung jedenfalls, die sich direkt übertrug. An die Aufspaltung der Figur hätte man sich gewöhnen können, wenn das füllige Timbre der Sängerin zur feingliedrigen Erscheinung der Darstellerin gepasst hätte, aber so ist das Leben, zumal im Theater – und immerhin war die Premiere gerettet. Ein erneuter Besuch der Produktion drängt sich auf, denn was Heather Engebretson darstellerisch leistet, ist dermassen aufregend, dass man auf die stimmliche Ergänzung ausgesprochen neugierig wird.

Mit einer Agilität sondergleichen und nicht nachlassendem Elan durchmisst sie die Bühne und beherrscht so die ganzen Raum. Trotzig aufbegehrend ist ihre Salome – ein Kind zwar, aber ein erwachendes und damit eines, das um seine Möglichkeiten weiss. Erhält sie nicht, was sie begehrt, rast sie von der einen Seite auf die andere und schlägt voll auf das Portal. Und was für ein sprechendes, lachendes, tobendes Gesicht zeigt sie; jede Regung ihres Inneren, auch dann, wenn sie zuhört, spiegelt sich in ihren Zügen. Einschmeichelnd kann sie blicken, im Handumdrehen aber wieder bös, ja zornig –genauso wie Greta, wenn sie den Mächtigen der Welt die Leviten liest. Hört diese Salome die Stimme Jochanaans, Jason Cox lässt sie mächtig aufklingen, bricht sich das Begehren eruptiv Bahn. Nur knapp vermag sich der Prophet dem Verrat an seiner Mission zu entziehen.

Klein an Wuchs, aber mächtig in ihrer Ausstrahlung – so schlägt die Salome der Heather Engebretson alle Figuren rund um sie in ihren Bann und führt sie an unsichtbaren Strippen auf das fatale Ende zu. Ihr verfallen ist Herodes, an dem Hubert Wild mit seiner dürftigen Stimme kapital scheitert, ihr hörig ist ihre Mutter Herodias, die Solenn’ Lavanant-Linke zu einer grossartigen Theater-Karikatur macht, ihr verfallen ist Narraboth (Robert Maszl), der sich angesichts seiner Niederlage entleibt. Alles wird, so ist es bei Herbert Fritsch und seiner Kostümbildnerin Victoria Behr, zugespitzt und auf den Punkt der grösstmöglichen Theaterwirkung gebracht – das macht an diesem Abend, vom grossartigen Eröffnungsbild mit dem nächtlich blauen Hintergrund, dem riesigen Mond und den Figuren im Scherenschnitt über die beiden absurden Thronsessel für das Herrscherpaar bis hin zu dem aus dem Boden ragenden Kopf des Jochanaan, gewaltig Effekt. Dabei wird hier nicht Regie geboten, nur Theater. Das aber nah am Text, sinnreich deutend und lustvoll vorführend. Dass das Luzerner Sinfonieorchester unter der Leitung von Clemens Heil so akkurat mitzieht, sorgt für ein deutliches Tüpfelchen auf dem i.

Im Theater Basel herrschen umgekehrte Vorzeichen. Mit «La Bohème» von Giacomo Puccini wird dort ein ähnlicher Reisser wie «Salome» gebracht – ein Rührstück, dessen emotionale Kraft auch heute noch ungebrochen ausstrahlt. Unterstrichen wird es zum Beispiel vom Sinfonieorchester Basel, das unter der Leitung der neuen Basler Musikdirektorin Kristiina Poska seine Funktion voll ausspielt – in herrlich opulentem Sound, bisweilen etwas zu laut, aber mit farblichen Reizen, wie sie gewöhnlich nicht zu hören sind. Der Akzent auf dem Instrumentalen unterstreicht, dass es in «La Bohème» durchaus nicht nur die vokale Linie gibt. Dass dieser Irrglaube bei Puccinis Oper leider noch immer zu den Rezeptionsmustern gehört, erwiesen die Reaktionen des Premierenpublikums, das auch in den zartesten Momenten mit lautstarkem Beifall in die abschliessenden Passagen einfiel.

Wer zuhört, kann eine Besetzung erleben, die sich in mancher Hinsicht den hergebrachten Erwartungen entgegenstellt. Cristina Pasaroiu, die übrigens nicht selten mit Heather Engebretson auftritt, gibt eine sensible, wenn auch alles andere als unterwürfige Mimì; mit eigenem Stolz ergibt sie sich ihrem Schicksal. Während Davide Giusti als ein Rodolfo von lyrischer Qualität und weicher Linienführung erscheint, jedenfalls denkbar fern jener Exposition vokalen Potenz, wie sie bei dieser Partie nicht selten gepflegt wird. Noch markanter gezeichnet ist das Nebenpaar mit dem aufbrausenden Marcello von Domen Križaj und der ganz und gar nicht soubrettenhaften, vielmehr selbstbewussten und zielstrebigen Musetta von Valentina Mastrangelo. So gibt es, auch dank dem solide besetzten Ensemble, im Musikalischen manch überzeugenden, ja bezaubernden Moment.

Daniel Kramer freilich, er hat den Abend inszeniert, scheint nicht ans Stück zu glauben. Er muss in Regietheater machen, will sagen: den künstlerischen Entwurf von 1896 an die Gegenwart heranholen. Der Maler Marcello agiert mit der Spraydose, die Rosenstickerin Mimì stirbt nicht an der Schwindsucht, sondern, gezeichnet von der Chemotherapie, an einem Krebs, Schaunard (Gurgen Baveyan) und Colline (Paull-Anthony Keightley) sind, damit sie auch jemanden an ihrer Seite haben, ein Männer-Paar. Vor allem aber sorgen Marius und Ben de Vries mit markigem, ganz selten an «La Bohème» erinnerndem Sound aus dem Lautsprecher für ein musikalisches Ambiente, das die angeblich gestrige Musik Puccinis mit der Gegenwart konfrontieren oder verbinden soll – ein überflüssiges Vorhaben, denn was hier beigefügt wird, kann der sich Opernbesucher in der Pause auf dem Theatervorplatz besorgen. Davon abgesehen herrscht weitgehend Konvention. Annette Murschetz hat im ersten Akt statt der Dichterstube über den Dächern von Paris einen Ort der Verlorenheit geschaffen, an dem die brotlosen Künstler Weihnachtsbäume feilhalten. Sehr zu Recht, denn im zweiten Akt geht es um Weihnachten, in Basel allerdings weniger um das ausgelassene Fest im Quartier Latin als um Konsum und Kaufrausch heutiger Ausprägung. So weit, so gut. Am Ende der Oper lässt sich wenig schrauben, Mimìs Tod ist Mimìs Tod, es darf geweint werden. Puccinis Oper lässt sich nichts anhaben.

Davide Giusti (Rodolfo) und Cristina Pasaroiu (Mimì) in Basel / Bild Priska Ketterer, Theater Basel

Grau in Grau

Michael Wertmüllers Oper «Diodati. Unendlich» in Basel

 

Von Peter Hagmann

 

Bild Sandra Then, Theater Basel

Es ist wie bei E. T. A. Hoffmann. Draussen herrscht miserables Wetter, es regnet heftig und ohne Pause, also bleiben die sechs Personen, die für diesen Moment in ihrem Leben zusammengefunden haben, drinnen im Wohnzimmer und beginnen, sich Geschichten zu erzählen. Doch der Schein trügt, denn in Wirklichkeit ist es nicht wie bei E. T. A. Hoffmann, der im Rahmen einer solcherart erfundenen Situation dem Leser die spannendsten Geschehnisse ausbreitete. Es ist wie bei Dea Loher, und bei der 55-jährigen Dramatikerin aus Berlin geschieht so gut wie nichts. Die fünf Menschen um Lord Byron, die in der Genfer Villa Diodati festsitzen, stellen zwar fest, dass es anhaltend regnet, sie postulieren sogar, sich Geschichten zu erzählen, am liebsten recht grausige, zum Beispiel vom Monster Frankenstein, das tötet, was er liebt, aber ihre Aufmerksamkeit gilt ausschliesslich ihnen selbst. Jeder ein Ich, überlebensgross – so wie es heute üblich ist. Wenn etwas verhandelt wird, dann sind es die lebhaft übers Kreuz gespannten Beziehungen, die jeweils umstandslos ins Konkrete umgesetzt wurden und dementsprechend nicht ohne Folgen blieben.

So hat «Diodati. Unendlich», der jüngste Operntext von Dea Loher, durchaus mit unserer Gegenwart zu tun, und damit das ohne jeden Zweifel fassbar wird, kommen deutliche Zeichen der Zeit ins Spiel: das wie die Villa Diodati in Genf liegende CERN mit seinem Teilchenbeschleuniger und der Versuch, einen Menschen zu klonen – oder ein verstorbenes Kind wieder zum Leben zu erwecken. Dabei steht alles mit allem in Verbindung oder eben nicht. Der Regisseurin Lydia Steier oblag die Aufgabe, aus diesem Plot eine Handlung zu machen, mithin das extrem Verschachtelte des Textes auf eine wenigstens minimale narrative Linie zu bringen. Sie meisterte das mit ihrer enormen Assoziationskraft, ihrer bildlichen Phantasie und der hoch entwickelten Ausstrahlung auf die Darsteller – und das ohne Verrat an der strukturellen Idee des Librettos. Auf der äusserst belebten Bühne von Flurin Borg Madsen und in den farbenfroh expliziten Kostümen von Ursula Kudrna gab es jedenfalls reichlich zu schauen und ziemlich zu rätseln.

Wenn nur die Musik nicht gewesen wäre. Wie Michael Wertmüller, der 1966 in Thun geborene Schlagzeuger und Komponist, die Vorlage von Dea Loher in Musik gesetzt hat, kann einem gewaltig auf den Geist gehen – die Aussage mag als professionelle Reaktion auf eine Uraufführung daneben sein, nur: Hier stehe ich und kann nicht anders. Nicht die ungewöhnliche Lautstärke, für die der wilde, unbotmässige Schüler Dieter Schnebels bekannt ist, steht im Zentrum. Nein, das mit einer Pause drei Stunden währende Stück ist musikalisch von einer Langeweile sondergleichen – trotz der handfesten Mitwirkung der erweiterten Band Steamboat Switzerland. Die Partitur arbeitet mit einem Stilmix, der unter dem Strich zu einem musikalischen Grau in Grau führt. Sie schichtet komplexe Verfahren aufeinander, die sich im Zusammenwirken gegenseitig auslöschen. Und sie setzt bisweilen auf repetitive Muster, die aber nur kurz zur Geltung kommen und darum nichts von jenem Sog auslösen, der aus der Minimal Music bekannt ist. Angesichts dessen ist besonders zu bewundern, wie sich das Sinfonieorchester Basel unter der Leitung von Titus Engel und der fabelhafte, von Michael Clark vorbereitete Chor des Theater Basel auf die Sache eingelassen haben – und mit welch unglaublichem Engagement das ausgezeichnet besetzte Vokalensemble die überaus anspruchsvollen Partien bewältigt hat. Das Theater Basel hat etwas gewagt, etwas ganz Besonderes, das ist grossartig genug. Dass der Schuss nach hinten hinausging, gehört zum Risiko.

Wahnsinn aus Männersicht

«Lucia di Lammermoor» von Donizetti in Basel

 

Von Peter Hagmann

 

Ena Pongrac (Alisa) und Rosa Feola (Lucia) im Stadttheater Basel / Bild Sandra Then, Theater Basel

 

Ein verflixtes Stück: so einfach und zugleich so schwierig. Das ist es, was bei «Lucia di Lammermoor» ins Gewicht fällt. Das Haus, das die berühmteste Oper Gaetano Donizettis auf den Spielplan setzt, muss über künstlerische Kräfte von spezifischem Profil verfügen. Über eine Sängerin und eine Reihe von Sängern, die mit den ganz eigenen Schwierigkeiten der Partitur umzugehen wissen. Und über ein szenisches Team, das die lapidare Geschichte von dem liebenden Paar, das von einem Bösewicht getrennt wird und aus Leid darüber zu Tode kommt, in eine plausible, attraktive Bilderfolge zu fassen vermag. Beides ist voll gelungen: im Theater Basel, dem grössten Dreispartenhaus der Schweiz und derzeit «Theater des Jahres».

Rosa Feola zum Beispiel. Sie ist nicht die fragile, beinah gläserne Lucia, als die seinerzeit Edita Gruberova Sensation gemacht hat. Die junge Italienerin steht vielmehr mit beiden Beinen auf der Erde. Wenn sie liebt, tut sie das bedingungslos und durchaus irdisch. Und wenn sie das Unheil erahnt, das sie ereilen wird, löst das ungeheure Energien aus – von da her lässt sich absolut verstehen, dass sie ihren frisch, wenn auch unter Zwang angetrauten Ehemann in der Hochzeitsnacht ersticht. Dann freilich gerät ihre Welt ins Kreisen: eine Ver-Rückung von ungeheuer tragischem Ausmass. So gestaltet sie ihre Partie auch im Vokalen. Kräftig im Ansatz, eher breit im Ton, dabei aber klar zeichnend, sicher in der exorbitanten Höhe und blendend in der expressiven Kraft.

Lucia ist hier nicht die Wahnsinnige schlechthin, sie wird zur Wahnsinnigen – und vor allem: sie wird dazu gemacht. Von einer durchgehend schwarz gewandeten Männergesellschaft, die diese in unschuldiges Weiss gekleidete Frau als Fall sehen. Krankenhausatmosphäre herrscht, das Spitalbett spielt seine unselige Rolle. Als Lucias Vertrauter Raimondo streift sich Tassos Apostolou, der seinen Bass in aller Sonorität aufklingen lässt, über den schwarzen Anzug den weissen Arztkittel, während Alisa (Ena Pongrac) ihm als Krankenschwester zu Diensten steht. Der Regisseur Olivier Py zeigt die Geschichte von «Lucia di Lammermoor» als Konkretisierung einer brutal patriarchalen Gesellschaftsordnung, und der Ausstatter Pierre-André Weitz hat ihm dafür einen grossartig beweglichen Bühnenraum geschaffen.

Das enge Spitalzimmer des Beginns weitet sich in dem Moment, da sich die Liebenden begegnen und sich die Perspektive auf ein gemeinsames Leben hin öffnet, zu einem Saal, der die ganze Bühne umfasst – ein vielleicht plakatives, aber doch sehr packendes Bild. Und ebenso dramatisch wie der kleine Kinderkreisel im Krankenzimmer, der sich in der Wahnsinnsszene auf reales Format vergrössert und auf der Drehbühne schauerliche Wirklichkeit werden lässt, was zuvor als Schatten und Schemen an den Zimmerwänden erschienen ist. Das alles steht im Einklang mit einem sehnigen, von belebten Tempi getragenen Musizieren, wie es Giampaolo Bisanti vom Dirigentenpult aus evoziert. Und wie es das Sinfonieorchester Basel, aber auch der von Michael Clark geleitete Basler Theaterchor mit geschmeidigem Elan Klang werden lassen.

Ganz besonders kommt der dramatische Zugriff bei jenen Herren der Schöpfung zur Geltung, die das Geschehen vorantreiben und sich dabei tödlich ins Gehege kommen. Als der üble Strippenzieher Enrico macht Ernesto Petti mit seinem in der Tiefe verankerten Bariton ausgezeichnete Figur; als düsterer Assistent steht ihm Karl-Heinz Brandt in der Partie des Normanno zur Seite. Herrlich unsympathisch auch Hyunjai Marco Lee als Arturo, der auf seinen Reichtum setzt und die Gunst der Stunde zu nutzen sucht, um Lucia in sein Bett zu bekommen – Olivier Py ist nicht nur ein Mann der starken Bilder, sondern auch einer der kräftigen Personenzeichnung. Auch Edgardo, der Bräutigam Lucias, stellt in der Auseinandersetzung mit seinem Widersacher Enrico seinen Mann – Fabián Lara kann da ganz schön energisch werden. In der Begegnung mit Lucia und im Zusammenwirken mit Rosa Feola schlägt er aber auch ganz andere Töne an. Vielleicht sind es tatsächlich die Duette, die an diesem Abend die stärksten Eindrücke hinterlassen.

Geld ist alles

«Der Spieler» von Prokofjew in Basel

 

Von Peter Hagmann

 

Im Hostel auf der Basler Bühne / Bild Priska Ketterer, Theater Basel

Hinreissend gelungen ist die Produktion des Theaters Basel, als Schau- und Hör-Spiel bietet der Abend Erstklassiges. Das Stück aber, es hat seine Schwächen. «Der Spieler» von Sergej Prokofjew ist ein seltener Gast auf den Bühnen – und in gewisser Weise lässt es sich verstehen. Mitten im Ersten Weltkrieg komponiert, und das auf ein Libretto, das Prokofjew nach dem gleichnamigen Roman Dostojewskis selbst erstellt hat, leidet die Oper unter einer merkwürdigen Zähigkeit. Die Exposition im ersten Akt ist viel zu ausufernd geraten; je länger sie dauert, desto weniger kommt das Stück in Fahrt – da braucht es diesseits des Orchestergrabens doch etwas viel guten Willen. Auch die grosse Szene im Casino, die den Finalakt prägt, zieht sich arg in die Länge, da ist von der Spannung, die am Roulettetisch herrschen mag, nicht eben viel zu spüren. Keine Spur von jener leichtfüssigen, spritzigen Beweglichkeit, welche «Die Liebe zu den drei Orangen» von 1921 auszeichnet. Auch nicht von jener elementaren Kraft, die vom Ballett «Romeo und Julia» (1935) ausgeht.

Dass «Der Spieler» vom Theater Basel auf den Spielplan genommen worden ist, hat dennoch seine Triftigkeit. Das Geld als der einzig wirklich gültige Wert im menschlichen Dasein, die Gier danach und der Nihilismus der eigenen Existenz – was auf der Bühne vorgeführt wird, könnte aktueller nicht sein. Es wird dadurch unterstrichen, dass der Regisseur Vasily Barkhatov das Geschehen radikal und mit bewundernswerter Konsequenz in unsere Tage versetzt. Casino kommt keines vor, gespielt wird mit dem iPad, und was sich dort auf dem Bildschirm tut, lassen die Videos sehen, die das Team 2BLCK mit Maria Feodoridi und Kirill Malovichko sinnreich ins Bühnengeschehen integriert. Spielort ist ein «Hostel», für das Zinovi Margolin die Zimmer drei Stockwerke hoch aufeinandergetürmt hat. Alles akkuratestens eingerichtet, von der Wohnküche im Erdgeschoss über den mächtigen Flachbildschirm im Living bis hin zu dem tristen Waschsalon, der sich im Untergeschoss befindet. Haarscharf dazu passend das Outfit der Turnschuhgeneration, die sich hier tummelt – selbst die von der Kostümbildnerin Olga Shaishmelashvili entworfene Uniformjacke des Generals a.D. entspricht den Modellen, die in Putins Reich derzeit getragen werden.

Verlorene sind sie allesamt, sich selbst abhanden gekommen in einem einzig durch Leere erfüllten Leben. Und durch die Gier nach dem einen – das freilich allen in mehr oder weniger gravierendem Masse fehlt. Besonders in Geldnot ist der General, der, eine sinnvolle Erfindung des Regisseurs, mit seinen zwei Kindern, einem süssen Töchterchen und einem schlaksigen Jugendlichen mit steiler Frisur, im «Hostel» haust; Pavlo Hunka, der sängerisch wie darstellerisch enorm an Statur gewonnen hat, gibt virtuos den mit sich selbst, seinem Portemonnaie und seinem Ruf besorgten Vater, derweil die Kinder, mit der Spielkonsole in der Hand, schon ihre eigene Sucht kennen. Nicht minder eindrucksvoll Asmik Grigorian, die grandiose Salzburger Marie des Sommers 2017, in der Partie der undurchsichtigen Polina – eine ausdrucksstarke Darstellerin mit geschmeidiger, wandelbarer Stimme. Ihr gegenüber, blendend gesungen von Dmitry Golovnin, der getriebene, vom einen Extrem ins andere fallende Alexej, der Polina verfallen ist, sich dann aber dem Spiel ergibt. Der Einzige, der das nicht nötig hat und dementsprechend die Fäden zieht, ist ein undurchsichtiger Marquis, dem Rolf Romeo das genau richtige Profil verleiht. Ein hochstehendes Ensemble, dem sich noch eine Vielzahl kleinerer Partien anfügen, ist da am Tun.

Dann aber, kurz bevor man im ersten Akt entmutigt den Kopf hängen lässt: Babulenka, die schwerreiche Tante aus Moskau, die allgemein und hoffnungsvoll für schwerkrank gehalten wird, die aber unerwartet gesund und erschreckend willensstark in dem imaginären Roulettenburg eintrifft, dort gleich den Tarif durchgibt – und binnen kurzem ihr gesamtes Vermögen los ist. Der Auftritt von Jane Henschel ist schlechterdings eine Wucht. Ein grandioser Fall von type casting, eine Theaterfigur, wie sie schneidender nicht in diese Gemengelage von Menschlichem und Allzu-Menschlichem einfahren könnte, und als künstlerische Leistung ein Meisterstück. Am Pult des blendend aufgelegten Sinfonieorchesters Basel hält Modestas Pitrėnas nicht nur ihr, sondern vor allem Sergej Prokofjew einschränkungslos die Stange.

Der Tod als ein Stück Leben

Verdis «Traviata» am Theater Basel

 

Von Peter Hagmann

 

 

Corinne Winters als Violetta in Basel / Bild Sandra Then, Theater Basel

Fast trotzig, jedenfalls recht energisch – und energischer, als es einer Sterbenskranken anstünde – hebt Violetta im dritten Akt von «La traviata» ihr eigenes Grab aus. Natürlich nicht in ihrem Schlafzimmer, sondern auf einem Friedhof, und der besteht in der neuen Basler Produktion von Giuseppe Verdis Oper aus regelmässig aufgereihten Matratzen; an deren Kopfenden legen die Teilnehmer am Karnevalsumzug, der gewöhnlich nicht sichtbar wird, hier aber als Gemeinschaft von Trauernden über die Bühne zieht, Blumengebinde und Totenkerzen nieder. Rabenschwarz ist dieses Ende – aber doch nicht ganz so finster, wie es der Komponist und sein Librettist Francesco Maria Piave erdacht haben. Violetta nimmt nämlich ihre letzten Worte ernst; sie steht zwar im Grab, deutet aber an, dass sie ins Leben zurückkehre und darob in Freude ausbreche – und so hält sie bis zum Schluss ihre Arme hoch und die Augen leuchtend offen. Der Tod als ein Stück Leben, als ein Abschluss in Frieden, nachdem sie den Mann, mit dem sie die Urgewalt der Liebe entdeckt hat, noch einmal hat an sich drücken können.

Das ist so berührend wie alles, was Corinne Winters an diesem denkwürdigen Abend im Stadttheater Basel über die Rampe bringt. Der Regisseur Daniel Kramer entwickelt seine Inszenierung für das Theater Basel – sie wird im nächsten Frühjahr an die English National Opera London weitergehen – aus aus der Protagonistin heraus, indem er das Geschehen am Körper und am Singen der Darstellerin aufzäumt. Wie in Claude Debussys Oper «Pelléas et Mélisande», in der sie 2016 im Opernhaus Zürich mit einer überraschenden, ja schockierenden Auslegung der weiblichen Titelfigur von sich reden machte, ist Corinne Winters in Verdis «Traviata» nicht das blasse, fragile, von der Tuberkulose gezeichnete und darum von heftigen Stimmungsschwankungen heimgesuchte Mädchen, als das sie gerne gesehen wird. Im ersten Akt erscheint ihre Violetta kraftvoll, geradezu sonnengebräunt. Mit Lust stürzt sie sich in die ziemlich wüste Party, die Lizzie Clachan (Bühne) und Esther Bialas (Kostüme) in einem reich bestückten, chromblitzenden, rundum verspiegelten Salon arrangieren. Und wenn sie das von Alfredo angestimmte Brindisi aufnimmt, geschieht das mit einigem Applomb. Umso bestürzender wirkt der Moment, da sie sich im Spiegel erblickt und die Züge der Krankheit erkennt.

Was für einen Kontrast dazu bietet der zweite Akt. Hier dominiert nicht der Schein, hier geht es allein um das Sein: um die Liebe in ihrer ganzen Wahrhaftigkeit. Darum ist die Drehbühne vollkommen leergeräumt. Im Zentrum ein simples Doppelbett, das sich sanft wie eine Schaukel hin- und her bewegt. Links eine Reihe Blumen, die an den originalen Spielort erinnern: an ein Landhaus in der Nähe von Paris. Sowie ein kleines Erdloch mit Häufchen, wie es dann etwas grösser im Finalakt erscheinen wird – aber nicht ein Miniatur-Grab, sondern die Stelle, an der Alfredo eine Pflanze einsetzt: eine Pflanze der Hoffnung. Pavel Valuzhyn gibt den scheuen jungen Mann ebenfalls ganz aus seiner Erscheinung und seinem Timbre heraus. Wenn er will und soll, findet er zu einem strahlenden, auch warmen und geschmeidigen Forte. Häufiger hält er sich jedoch, das verlangt sein Rollenporträt, in tieferen dynamischen Bereichen auf – und da hat er einiges an seidiger, hauchiger Klanglichkeit zu bieten. Allerdings sind die beiden dynamischen Bereiche nicht wirklich miteinander verbunden; bisweilen klingt es, als träte der Sänger mit zwei Stimmen auf.

Für Ivan Inverardi in der Rolle des Giorgio Germont gilt das nicht. Mit seinem Kreuz, das er sich über die Kravatte gelegt hat, erscheint er ganz und gar als der gestrenge, um nicht zu sagen: bösartige Vater Alfredos. Sängerisch steht sein Auftritt klar in der italienischen Tradition: majestätisch der Bariton, ausgeprägt das Vibrato, geschmackvoll die Portamenti. Szenisch allerdings ist die Figur wohl doch zu einseitig gezeichnet. Dass bei diesem älteren Herrn, was Violetta betrifft, noch anderes als normatives Denken und Egoismus mitspielen könnte, wird nicht einmal angedeutet – wie auch der Konflikt zwischen Vater und Sohn einigermassen handzahm bleibt, trotz der Spucke, die Alfredo seinem Vorfahren auf die Wange wirft.

Corinne Winters freilich, sie findet in dieser Landhaus-Szene zu sich selbst – vielleicht gerade darum, weil sie keine Arie hat, vielmehr stets im Dialog agiert und daraus besondere Energie gewinnt. Ihre Stimme ist eher dunkel gefärbt und hat einen sicheren Anker in einer wohlgestützten Tiefe. Mühelos steigt sie von dort in die Höhe, die Register sind ganz hervorragend ineinander übergeführt, ihr Legato ist von exzellenter Dichte, während das farbliche Spektrum, das sie in der Mittellage auszubreiten vermag, betörende Richesse zeigt. Dazu kommen die Durchdringung einer Partie, für die sie mittlerweile zwischen London, Hongkong und Melbourne gesucht ist, und eine einzigartige Identifikation mit ihr. Wie sie das Schwinden des Widerstands gegen die grenzüberschreitenden Forderungen von Vater Germont spüren lässt, ist schon bewegend genug; wie sie unmittelbar vor der erzwungenen Trennung von Alfredo ihren Geliebten noch einmal um eine Versicherung seiner Liebe bittet, bildet aber fraglos den emotionalen Höhepunkt des Abends – da werden nur wenige Augen trocken geblieben sein.

Der Moment wirkt auch so stark, weil er aus dem Graben durch eine Empathie sondergleichen gestützt ist. Am Pult steht Titus Engel. Eher als Spezialist für neue Musik bekannt, 2016 in Basel gerühmt für die musikalische Leitung in der grandiosen Produktion von Karlheinz Stockhausens «Donnerstag aus Licht», dirigiert er Verdis «Traviata» zum ersten Mal. Fast scheint es, als sei für den Dirigenten damit ein Herzenswunsch in Erfüllung gegangen, denn auch er dringt mit aller Hinwendung in die Partitur ein. Er hält das Basler Sinfonieorchester, das ihm in seltener Einmütigkeit folgt, diskret präsent und sorgt für manch überraschenden instrumentalen Akzent. Vor allem aber entwickelt er äusserst stimmige Tempi und griffige rhythmische Verläufe; selten wird so deutlich, dass «La traviata» über weite Strecken im Dreiermetrum geschrieben ist. Nicht zuletzt atmet er sorgsam mit den Sängern und bietet ihnen damit die Basis, auf der sie sich entfalten können: ein geborener Maestro concertatore.

Brutal dann der Umschlag im zweiten Bild des zweiten Akts, wo es zurück geht in einen Pariser Salon, diesmal den von Flora Bervoix (Kristina Stanek), und wo es zum dramatischen Höhepunkt kommt. Sehr bühnenwirksam, dass das Bett der Landhaus-Szene nun der Spieltisch wird, auf dem die Scheine noch und noch zu Alfredo wandern und auf dem er Violetta schliesslich das gewonnene Geld ins Gesicht schleudert. Und effektvoll, wie genau in diesem Moment der Vater dasteht. Das zeugt von Handwerk – genau gleich, wie der überdrehte Auftritt des übrigens hervorragenden, inzwischen von Michael Clark geleiteten Chors viel Sinn für verspielte Ironie erkennen lässt.